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Cidade de deus – Einblick in die gewaltigen Schattenseiten Brasiliens

Eric Wohlfeil | | Artikel drucken
Lesedauer: 11 Minuten

So eine große Kinoleinwand hatte ich noch nie gesehen. Wir sahen ganz viele Ferraris, jede Menge Ferraris. Das kannte ich nicht, mir blieb die Spucke weg. Und als ich zurückkam, regnete es. Ich lag im Bett, in einem Etagenbett. Meine Mutter unten, ich oben, meine Schwester auf dem Boden. Ich lag da und da kommt dieser Tropfen und fällt: platsch, platsch… Und ich sagte nur: „Verdammt.“ Das war die raue, harte Wirklichkeit. Ja, ich war geflogen, hatte in tollen Autos gesessen, man hatte mich so oft fotografiert… Aber diese Scheißkerle wissen nicht, wo ich lebe. Das ist es! Seht mein Haus an, seht euch an, wie ich lebe. Dann kamen mir die Tränen.„ – Alexandre Rodrigues

 

So beschrieb Alexandre Rodrigues, der die Rolle des Buscapé in „Cidade de deus“ („City of god“), die Rückkehr in sein Zuhause, die real existierende „Stadt Gottes“, nachdem er zuvor bei der Filmpremiere bei den Filmfestspielen von Cannes gewesen ist. Das Ganze ist nun 20 Jahre her. Was hat sich seitdem verändert? Hat sich denn überhaupt etwas verändert? Bevor wir uns um die Beantwortung dieser Fragen kümmern, werfen wir gemeinsam nochmal einen kurzen Blick auf den Inhalt des Filmes.

Der 2002 veröffentlichte und für vier Oscars nominierte Kinofilm von Fernando Meirelles nimmt uns mit in die am Rande von Rio de Janeiro gelegene Trabantenstadt „Cidade de Deus“ und erzählt uns von den grausamen Ereignissen in den 1960er bis 80er Jahren aus der Sicht des Jungen Buscapé. Entworfen für Landflüchtlinge aus dem Nordosten Brasiliens, welcher seinerzeit von einer langen Dürreperiode geplagt wurde, entstand ein Armenviertel, welches zur seelenlosen Verwahrstätte für die Unterschicht wurde, dessen unübersichtliche Straßen fruchtbaren Boden für das unkontrollierte Sprießen von grenzenloser Unmenschlichkeit boten.

rezensiert_cidade_de_deus_1_snapshotDie Geschichte beginnt mit einer Rückblende und dem „Trio Ternura“, zu dem auch der Bruder Buscapés gehört. Als der 8-jährige „Löckchen“ neu dazukommt, schlägt dieser vor, ein Bordell auszurauben. Unzufrieden darüber, nur als Wachposten vor dem Etablissement abgestellt zu werden, entscheidet sich dieser kurzerhand, auf eigene Faust zu handelt und verübt ein Massaker, bei dem er seine Lust am Töten entdeckt. Dadurch wird die Bande zu gesuchten Straftätern und auch das Viertel rückt in den Fokus der Polizei.

Einige Jahre später ist die „Stadt Gottes“ zu einem Drogenumschlagplatz verkommen und der abgetauchte „Löckchen“, der nun Locke heißt (im portugiesischen Original „Zé Pequeño“) beschließt ins Drogengeschäft einzusteigen und beherrscht aufgrund seines skrupellosen Vorgehens zusammen mit seinem Freund Bené schnell das ganze Viertel. Nachdem Bené versehentlich umgebracht wird, geht Locke noch skrupelloser vor, wodurch ein blutiger Bandenkrieg im Viertel entsteht, an dessen Ende eine neue Jugendbande Lockes Leben ein Ende setzt und eine neue Generation von minderjährigen Kriminellen die Kontrolle des Viertels übernimmt.

In die Handlung wird auch die parallel ablaufende Geschichte von Buscapé eingeführt, der davon träumt, einmal Fotograf zu werden und sich aus dem Bandengeschäft heraushält. Auf Umwegen und auch dank einiger Fotos von Locke und seiner Bande schafft er es letztendlich, sich seinen Traum zu erfüllen.

Fiktion oder Realität?

Der Film präsentiert auf eine erschreckend authentische Art und Weise das gnadenlose Leben in den Armenvierteln, die Gewalt, mit der die Menschen täglich konfrontiert werden. Doch zur Polizei können oder wollen sie nicht gehen. Wie im Film zu sehen, liegt dies häufig daran, dass die Polizei nicht selten mit an dem Drogenhandel verdient.

Jetzt könnte man denken, der Film spielt doch in den 80ern, das wird heute doch nicht mehr so sein. Nun ja, schauen wir uns diesbezüglich erst einmal die Faktenlage an. Diese zeigt uns, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Zwischen 1980 und 2003 ist die Zahl der jährlichen Morde in Brasilien von knapp 14.000 auf etwa 50.000 gestiegen (unter der Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums entspricht das immer noch mehr als einer Verdoppelung von 11,7 auf 28,9 Morde pro 100.000 Einwohner). Seitdem haben sich die Mordraten auf einem hohen Niveau stabilisiert.

Gründe hierfür seien vor allem die hohe Drogenkriminalität, aber auch mangelnde Vorbereitung der Städte auf die neuen Herausforderungen der Urbanisierung in Wachstumsregionen. Ebenso führen das hohe Konfliktpotenzial im Zusammenhang mit der Expansion von Landwirtschaft, Holzwirtschaft und Bergbau oder Ehrenmorde zu den erhöhten Mordraten in bestimmten Regionen.

Wirft man nun aber einen genaueren Blick auf die Bundesstaaten Rio de Janeiro oder auch São Paulo mit einem ursprünglichen hohen Gewaltpotenzial, ist hier eine drastische Reduzierung der Mordrate erkennbar, wohingegen sie im Nordosten und Norden des Landes jedoch stark anstieg.

Der starke Rückgang der Mordzahlen in einigen Bundesstaaten kann auf deren systematische Politik der inneren Sicherheit in den 1990ern zurückgeführt werden. Darunter verstand die Politik die Stärkung der Polizei durch bessere Ausbildungsmaßnahmen und Ausrüstung, die notwendige Anhebung des Lohnniveaus und Sanktionen gegen Amtsmissbrauch. Eine weitere wichtige Komponente im Sinne der Befriedungspolitik (Unidade de Polícia Pacificadora, UPP) vor allem in Rio de Janeiro, ist die Rückgewinnung des Machtanspruches des Staates in Vierteln, die lange Zeit in den Händen von Drogenbanden gelegen haben. Hierin sieht man den ersten Schritt für eine effektive Integration der dort lebenden Menschen in den Rechtsstaat. Seit dem Jahr 2000 gibt es einen Bundesfonds, über den Länder und Gemeinden die Finanzierung von Projekten zur inneren Sicherheit ermöglicht wird. Zudem gilt seit 2003 die Pflicht, bei Waffenbesitz auch einen staatlichen Waffenschein bei sich zu haben. Im Mai 2019 liberalisierte der aktuelle Präsident Bolsonaro das Waffengesetz für Privatpersonen und die Importregeln für ausländische Waffenproduzenten. Daraufhin stiegen im Folgejahr sowohl die Anzahl der Waffenverkäufe wie auch die Zahl der Toten durch Waffengewalt gegenüber dem Jahr 2019 stark an.

Aber trotz der Erfolge in einigen Regionen Brasiliens scheint die Sicherheitspolitik noch nicht überall zu fruchten. Die Polizei, deren Aufgabe es als langer Arm der Exekutive sein sollte, für die innere Sicherheit zu sorgen, ist allerdings weniger die Lösung als vielmehr ein elementarer Teil des Problems. Polizisten gelten als leicht korrumpierbar, rassistisch und bezogen auf die Militärpolizei als sehr gewalttätig. In Brasilien starben 2014 über 3.000 Menschen an den unmittelbaren Folgen polizeilichen Handelns. Dennoch wird eine einseitige Darstellung der Polizisten als Täter ihren meist erbärmlichen Arbeitsbedingungen nicht gerecht. Oftmals sind sie selbst Opfer von Gewalt. Im Schnitt wird täglich mehr als ein Polizist getötet, über 70 Prozent davon außer Dienst.

Ausblick in die Zukunft im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2022

Um in diesem Zusammenhang noch einmal einen Blick auf die Politik des Landes zu wagen, dem häufigen Kern aller Probleme, aber auch der möglichen Lösungen, schauen wir uns die beiden Politiker Brasiliens ein wenig genauer an, die aufgrund der kurz bevorstehenden Präsidentschaftswahlen (2.Oktober 2022) aktuell im Rampenlicht stehen. Es stehen sich der gegenwärtige rechtspopulistische Präsident Jair Bolsonaro und der ehemalige linke Präsident Lula da Silva gegenüber. Bei Umfragen bis Ende August erreicht Lula da Silva durchschnittliche Umfragewerte von 43 Prozent, während Bolsonaro durchschnittlich auf 35 Prozent kam. Doch was wird von ihnen zu erwarten sein?

Wirft man einen knappen Rückblick auf Bolsonaros Amtszeit bleiben eine verheerende Umweltpolitik sowie eine verantwortungslose Corona-Politik. Mit Sorge seien auch die Entwicklungen im sozialen Bereich „wie die Beschneidung von Handlungsräumen für die Zivilgesellschaft durch Subventionskürzungen und Abschaffung von Beteiligungsgremien, Kürzung von Sozialausgaben oder Einschränkung von Arbeitnehmerrechten sowie die sich verstärkende Einkommensschere“ zu beobachten, so der Deutsche Bundestag über die Politik Bolsonaros.

rezensiert_cidade_de_deus_2_snapshotIm Dezember 2019 unterschrieb er ein Gesetz, das die Polizei und die Justiz mit zusätzlichen Befugnissen ausstattet. Das Gesetz soll die Verurteilungen von Straftätern erleichtern und die organisierte Kriminalität bekämpfen. Als Bolsonaro den Chef der brasilianischen Bundespolizei im April 2020 entließ, trat Sérgio Moro als brasilianischer Justizminister noch im selben Monat mit der Begründung zurück, dass Bolsonaro den Polizeichef entlassen habe, weil gegen ihn (Bolsonaro) und einzelne seiner Familienangehörigen ermittelt werde. 2020 wurde Bolsonaro von der Journalistenvereinigung Organized Crime and Corruption Reporting Project zur „Person des Jahres“ ernannt. Dieser Negativpreis wird an denjenigen verliehen, der “weltweit das meiste für die Förderung von organisierter Kriminalität und Korruption getan hat.” Begründet wird die Auszeichnung als korrupteste Person des Jahres damit, dass Bolsonaro, der bei seiner Wahl noch mit dem Ziel Korruptionsbekämpfung geworben hatte, sich sowohl mit korrupten Menschen umgebe als auch andere fälschlicherweise der Korruption beschuldige.

Und Lula da Silva? Der Herausforderer von der brasilianischen Arbeiterpartei tritt erneut an, nachdem er 2018 aufgrund einer Verurteilung wegen Korruption nicht antreten durfte. Der ehemalige Präsident und linke Politiker wurde im Juli 2022 von der brasilianischen Arbeiterpartei als Kandidat für die Präsidentschaft aufgestellt. Damit tritt Lula zum sechsten Mal für das Amt an. Er regierte Brasilien bereits zwischen 2003 und 2010. Während seiner Amtszeit konnte Lula mit Sozialprogrammen Millionen Brasilianer:innen aus der Armut helfen – die brasilianische Wirtschaft wuchs in dieser Zeit besonders stark. Lula geriet jedoch in Kritik, da Korruption in Brasilien auch stark zunahm. 2018 wurde Lula wegen Korruption und Geldwäsche zu einer gut zwölfjährigen Haftstrafe verurteilt. Im vergangenen Jahr hob der oberste Gerichtshof das Urteil aber wieder auf. Lula erhielt seine politischen Rechte zurück und ging wieder in die Politik.

Natürlich beleuchtet diese kurze Zusammenfassung die Schattenseiten der beiden brasilianischen Politiker, und natürlich ist niemand perfekt, dennoch wird dadurch auch deutlich, dass ein Land, deren höchste Politiker selbst mit kriminellen Machenschaften und Korruption zu tun haben, es sehr schwer haben wird, sich von ebendiesen elementaren Problemen zu befreien wodurch die zukünftige Spitze der brasilianischen Politik erneut in den Händen eines zweifelhaften Politikers landen wird.

Fazit

Es ist erkennbar, dass Brasiliens Bundesregierung vor einigen Jahrzehnten begonnen hat, die Bekämpfung der organisierten Kriminalität ernst zu nehmen. Erfolge dieser Politik sind bereits erkennbar, sind allerdings nur auf einige Bundesstaaten begrenzt. Die Gewalt, die von den schlecht ausgebildeten Polizisten ausgeht, bleibt aber seit jeher eine große Herausforderung. Sie führt zu Ungleichheit im Land, da die Mittel- und Oberschicht nur bedingt betroffen ist und somit die ärmeren Bevölkerungsschichten auch kein Vertrauen in die Polizei aufbauen.

Die im Film dargestellten 80er Jahre waren brutal und man muss leider feststellen, dass dies heutzutage noch immer die Realität in einigen Armenvierteln nicht nur rund um Rio de Janeiro der Fall ist. Kinder, die bereits für die Drogenmafia arbeiten, deren Mitglieder ab dem 30. Lebensjahr bereits als steinalt gelten, sind in einigen Favelas noch immer normal. Es ist zwar ein langsames Aufbäumen der Regierung mit konkreten Ideen zu erkennen und in einigen Regionen sind Erfolge erkennbar, doch hat Brasilien noch einen langen schweren Weg vor sich um das dargestellte Leben einiger Menschen im Film „Cidade de Deus“ wirklich hinter sich lassen zu können. Drogengewalt ist dort noch immer die elende Gegenwart.

Die Menschen, die etwas unternehmen können, sind die Politiker. Jedoch sind auch diese nicht frei von Korruption und kriminellen Machenschaften, was das Land sicherlich daran hindert, sich schneller und effektiver in eine positive Richtung zu entwickeln. Trotz all der Skandale ist jedoch eine generelle Verbesserung der Situation vieler Brasilaner:innen zu erkennen und es bleibt zu hoffen, dass dieser Trend auch in Zukunft bestehen bleibt. International erfolgreiche Filme wie „Cidade de deus“ helfen sicherlich dabei, auch außerhalb von Brasilien auf die Situation vor Ort, aufmerksam zu machen und so vielleicht den Druck auf die brasilianische Regierung größer werden lässt, für erfolgreiche Veränderungen zu sorgen. Und das ist auch noch immer dringend notwendig. Der Alltag vieler Menschen ist nach wie vor von Gewalt geprägt. Es muss noch sehr viel passieren, um ihnen zu helfen.

 

In dem Moment wurde mir klar, wie grausam unsere Kunst war, wie harsch sie war, diese Szene, in die es mich zog. Denn man fällt so schnell von einem Extrem ins andere. Einen Tag ist man ein Star, am nächsten Tag sitzt man hier, im Viertel, beim Tor und trinkt Bier mit seinen Freunden. Und dann bricht der Krieg aus, direkt neben einem.“ – Roberta Rodrigues

 

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Quellen:

Filme:

Borges, C./ Vidigal, L. (2013). Stadt Gottes – 10 Jahre später. Livres Filmes.

Meirelles, F. (2002). Cidade de deus. Constantin Film.

Bücher:

Birle, P. (2013). Brasilien – Eine Einführung. Frankfurt am Main. Vervuert Verlag.

Denyer-Willis, G. (2015). The Killing Consensus- Police, Organized Crime, and the Regulation of Life and Death in Urban Brazil. University of California Press. Berkeley.

Harig, C. (2016). Sicherheitsproduktion in Brasilien zwischen Reformen der militarisierten Polizei und parapolizeichlichem Einsatz des Militärs. Springer.

Waiselfisz, J. (2011). Mapa de violência 2012. Os novos padrões da violência homicida no Brasil. São Paulo. Instituto Sangari.

Websites:

Esser, T. (31.12.20) Anti-Korruptions-Projekt: Keiner ist korrupter als Bolsonaro. Berliner Morgenpost. https://www.morgenpost.de/politik/inland/article231247010/Jair-Bolsonaro-Brasilien-Praesident-Korruption.html (06.09.22).

Fenske, M. (30.04.2020). Stimmung kippt gegen Bolsonaro: Brasiliens Präsident gerät unter Druck. RND RedaktionsNetzwerk Deuschland. https://www.rnd.de/politik/brasilien-prasident-bolsonaro-gerat-unter-druck-freund-der-familie-sollte-chef-der-bundespolizei-werden-UT3O3WRC544KL6DIZE4HI6JSNY.html (06.09.22).

Gujer, E. (29.08.22). TV-Debatte in Brasilien: Bolsonaro und Lula streiten über Korruption. Neue Zürcher Zeitung. https://www.nzz.ch/international/tv-debatte-in-brasilien-bolsonaro-und-lula-streiten-ueber-korruption-ld.1700146 (06.09.22)

Martins,L./ Prager, A. (30.11.2020). Brasiliens Waffengewalt – Made in Germany. Spiegel Ausland. https://www.spiegel.de/ausland/brasilien-praesident-jair-bolsonaros-beziehung-zur-waffenfirma-sig-sauer-a-89a4b4ac-1269-44d9-88a9-0d21ac8ca489 (06.09.22)

Muschter, R. (01.09.22). Umfrage zum ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl in Brasilien 2022. Statista. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1330204/umfrage/umfrage-zum-ersten-wahlgang-der-praesidentschaftswahl-in-brasilien-2022/ (06.09.22)

Zentner, C. (10.02.2020). Situation in Brasilien unter Bolsonaro. Deutscher Bundestag, Parlamentsnachrichten. https://www.bundestag.de/webarchiv/presse/hib/2020_02/681908-681908 (06.09.22)

Bilder: [1-2] Cidade de deus_Snapshots

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