Mit den Tattoos wurde sie begonnen, mit den Graffiti der Maras soll diese lose Quetzal-Serie fortgesetzt werden. Über die Maras, jene gewalttätigen Jugendbanden, die in den USA und Zentralamerika ihre Wurzeln haben, aber längst schon die Grenzen des amerikanischen Kontinents, auch nach Europa, überschritten haben, wird schon lange und viel geschrieben. In Honduras, El Salvador und Guatemala sind sie nach wie vor der Gewaltakteur schlechthin, der zig tausende Morde zu verantworten hat. In Costa Rica und Nicaragua gibt es sie nicht oder kaum (vgl. Zinecker 2014). Die Maras folgen zweierlei Logik, nicht nur der des egoistischen (ökonomischen und politischen) Interesses, sondern auch der einer kulturell-symbolischen Expressivität. Letztere Logik allerdings war und ist der ersten untergeordnet: Die gegenwärtigen Maras sind kriminelle Jugendbanden und keine bloße Jugendkultur oder kulturelle Bewegung. Auch deshalb sind Publikationen über ihre zweite Logik sehr viel spärlicher als über die erste. Quetzal will das Manko mindern. Im Mittelpunkt dieses Artikels stehen die Mara-Graffiti. Ihre Analyse geschieht hier unter enger Bezugnahme auf die Verräumlichung dieser Jugendbanden. Denn Graffiti markieren stets Räume. Bisher sind Mara-Räume und Mara-Graffitiräume noch nicht systematisch und aufeinander bezogen betrachtet worden. Der im Tattoo-Artikel (Zinecker 2020) vermittelte Wissensstand über die Maras wird hier vorausgesetzt.
Begriffe und Ursprünge
Der Begriff „Graffiti“ kommt aus dem Griechischen (graphein) und bedeutet „Schreiben“. Im Italienischen wurde er zu „Kratzen“ (sgraffiare) weiterentwickelt. Ab Mitte des 19. Jahrhundert ist der Terminus dann auch von der Archäologie für „in Mauern gekratzte Botschaften“ übernommen worden. Doch die ersten Graffiti gab es schon als Höhlenmalerei, lange, lange vor unserer Zeitrechnung, dann im alten Ägypten, später in Griechenland und Rom, hier insbesondere in Pompeji (Bild). Wurde damals noch tatsächlich gekratzt oder eingeritzt, können dafür heute auch Stifte, Schablonen, Ätzflüssigkeit, Sprühdosen, Laser, ja Moos Verwendung finden. Mehrheitlich findet man die Graffiti nunmehr im urbanen Raum, auf unbeweglichen wie beweglichen Wänden.
Zum einen waren Graffiti einmal Street Art und können es auch noch immer sein, etwa bei den Murales, so in San Franciscos Bezirk Mission, in Mexiko durch den Pinsel eines Riviera, Siqueiros oder Orozco, doch ebenso auf einer gewissen Berliner Mauer. Als East Side Gallery kann man sie noch heute bewundern. Der eine oder andere Graffer (Graffiti-Zeichner), wie zum Beispiel Banksy, hat es bei Graffiti – mit Schablonen – als Künstler zu Weltruhm gebracht, und seine Werke werden zu Höchstpreisen auf Auktionen versteigert. Die Murales wiederum sind zwar Lateinamerika-markant, aber nicht gerade eine Mara-typische Graffiti-Form, doch ab und zu sind sie auch deren Werk. Leonardo Da Vincis „Mona Lisa” und Grant Woods „American Gothic” haben es beispielsweise durch sie auf die Straßen Tegucigalpas geschafft. Sind diese aber auch dann noch Street Art, wenn sie eine Pistole oder ein Gewehr in der Hand halten? Als die Autorin dieses Textes ein Feldforschungsinterview mit 15 Mareros im Hochsicherheitsgefängnis Boquerón (Guatemala) geführt hat, traf sie diese unter einem riesigen hochkünstlerischen Mural, das das letzte Abendmahl Jesu abbildete. Die Mareros selbst hatten es gemalt.
Zum anderen können Graffiti aber auch „nur“ – politische oder geographisch-symbolische – Botschaften transportieren, entweder politische bei Volksbewegungen (Smith 1994) und Guerillas (dabei erwischt zu werden, konnte den Tod bedeuten) oder kriminelle bei Gangs. Dann heißen sie nicht Mural, sondern – im spanischsprachigen Raum – Placa oder Placazo (vgl. Valenzuela Arce 2012). Anders als manche Graffiti-Street Art sind letztere keine „Nullbotschaften“ oder „leere Signifikanten“, wie das Jean Baudrillard (1978, 24/26) einmal für einen anderen Kontext benannt hat. Bei ihnen spielen vielmehr – lesbare – Schrift und Botschaft eine besondere Rolle.
Im Spektrum zwischen legitimer Kunstform und krimineller Aktivität bzw. ihrer Artefakte tendieren Gang-Graffiti in die zweite Richtung, dies nicht nur wegen der intendierten illegalen „Abnutzung“ von Gebäuden, die die Graffer indes als Verschönerung betrachten mögen, und als Akt zivilen Ungehorsams. Schon allein darauf stellt die Sicherheitspolitik der „broken windows“X ab. Bei Gangs sind sie zudem und darüber hinaus ein unmittelbar kriminogenes Medium krimineller Akteure. Man mag darüber streiten, ob auch deren Graffiti einer alternativen „counterculture“ im Sinne von „Gegenhegemonie“ zuzurechnen sind (vgl. Araya López 2016, 35/36). In jedem Falle gilt, dass sie „ … disrupt(s) the lived experience of mass culture, the passivity of mediated consumption“ (Ferrell 2006). Gegen ihre Zuordnung zum Genre der „counterculture“ spricht nicht so sehr ihr krimineller Ursprung, sondern weit mehr, dass sie in der Regel nicht exklusiv, bewusst unlesbar, also absichtlich nicht kommunikativ sind, was für sonstige Graffiti gerade vorausgesetzt wird. Das schließt ein, dass die Kommunikativität der Mara-Graffiti oft in einen gewaltsamen „Dialog“ mündet.
Die Mara-Graffiti sind im Wesentlichen auf drei kulturelle Ursprünge zurückzuführen:
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den Cholismo: das Wort „Cholo“ geht auf das aztekische „Xolotl“/“Cholotl“ zurück und bedeutet „Hund“. Heutzutage werden in den USA so Mexikaner, Zentralamerikaner oder Personen mit indigenem Hintergrund genannt, die „akkulturiert“ sind, sich also an die Umgebungskultur angepasst haben. Der Cholismo entstand in den 1930er bis 1950er Jahren und die ihm entsprechende Kalligraphie in den 1960er Jahren, beides im Grenzgebiet zwischen USA und Mexiko. In Mexiko, aber vor allem in Guatemala und El Salvador wurde bei den Graffiti der Cholo-Los-Angeles-Stil besonders „rein“ übernommen. Richtig, auch einer der Ursprünge der Maras befindet sich in den USA und in Los Angeles. Mara und Graffiti müssen also dort einander „begegnet“ sein;
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die generelle Ganggraffiti, die sich in den USA der 1930er Jahre und da insbesondere in Los Angeles etabliert hat, sich ihrerseits mit dem Cholo-Stil verband und Graffiti als Placazo produzierte;
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die New Yorker Hip-Hop-Graffiti im Stil des Tagging der 1970er Jahre, die sich musikalisch vor allem im Rap wiederfindet. In Lateinamerika sind insbesondere Buenos Aires, Mexiko Stadt, Bogotá, Caracas und Rio de Janeiro zu nennen, wo solche „modischen“ Graffiti kreiert wurden.
Bei den Graffiti werden die „Turfs“ (Reviere) einer Gruppe zum einen durch „Tags“ (Unterschrift, Label, Akronym) markiert, hier durch die Nick- oder Crew-Namen der Graffer, zum anderen auch durch – mit bildlichen Darstellungen verknüpfte – Slogans, zum Beispiel den Gang-Namen oder durch weitere Gang-Informationen, die sich als eine Botschaft an die Anderen, insbesondere in der Nachbarschaft verstehen. Allerdings haben es die Tagger inzwischen aufgegeben, mit ihrer Kunst „die ganze Stadt“ erobern zu wollen. Genauso ist das bei den Mara-Graffiti. Aber nicht alle Gang-Graffiti sind Mara-Graffiti, auch nicht in Zentralamerika.
Wozu dienen die Mara-Graffiti?
Im Unterschied zu den „private tattoos“ auf den (beweglichen) Körpern der Mareros, die Thema des ersten Artikels in dieser Quetzal-Folge waren, handelt es sich bei den Graffiti um „public tattoos“ auf (eher unbeweglichen) Wänden (vgl. Vigil 2006, 113). Zum ersten sind die Graffiti für die betreffende Mara eine Art Zeichen für Gruppenidentität, ja „corporate identity“, mithin eine Identitätsbezeugung, so wie auch die Tattoos. Auch Graffiti können – dies wiederum wie die Tattoos – als Tagebuch gelesen werden, sie indes als ein „Tagebuch der Straße“. Manchmal verwenden die Mareros, zumindest die des Barrio 18, „Barrio“ auch als Synonym für ihre Gang oder deren cancha oder clica, die wiederum ihre Familie sei, sodass am Ende beides für „Familie“ steht. Mehr noch, in ihrer Sicht sind sie das Barrio. Diese Verbundenheit als „Barrio“ mit dem Barrio als Stadtviertel als Gang-Identität war konstitutiv für die Maras, heute ist sie aber eher zweitrangig.
Mara-Graffiti sind zum zweiten auch ein Kommunikationsmittel, mit dem Stolz und Warnung, auch Provokation an die Umgebung vermittelt werden sollen. Manche Autoren bezeichnen sie daher auch als ein „discourse genre“ (Adams/Winter 1997). Wieder andere Spezialisten unterscheiden dabei zwischen „mass communication/cultural frustration“ einerseits und „individual expression“ (Werwath 2006) andererseits. Das Mara-Graffiti vereint beides, wiewohl mit einem starken Schwergewicht auf ersterem. Wie jedes andere Graffiti auch will das Mara-Graffiti dabei „notorisch“ sein: der Zeit und dem Verfall trotzen. Da ihm die Machtfrage zugrunde liegt, ist es umkämpft. Es wird deshalb – ob hier oder woanders – immer wiederentstehen, falls es (von der anderen Mara) übermalt oder (von der Polizei) gesäubert worden sein sollte.
Zum dritten soll bei den Mara-Graffiti so wie auch bei anderen Gang-Graffiti das von ihr beherrschte Territorium markiert, mithin sichtbar gemacht werden: „El graffiti sirve para demarcar el territorio“ (Das Graffiti dient dazu, ein Territorium zu markieren) (Demoscopía 2007, 30). Das ist der wichtigste Mara-Graffiti-Zweck:
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Einerseits können sich innerhalb dieser Graffiti-Grenzen die betreffende Mara und jeder ihrer Mareros in der shelter-Sicherheit ihres Habitats und zuhause fühlen. Graffiti mit ihren Buchstaben und Zahlen markieren also die Grenzen ihres Schutz- und Rückzugsraumes (Eingrenzen des „Wir“). Von der betreffenden Mara wird ihre Herrschaft als Empathie für die und als Schutz der Bewohner, ja als „apoyo comunitario“ (kommunitäre Unterstützung) propagiert. Hier knüpft der territoriale an den identitären Graffiti-Zweck der Maras an.
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Andererseits wird durch das Graffiti demonstriert: Hier, in diesem Raum, herrscht, und dies mit allen Ingredienzien von Herrschaft, nur diese eine Mara und keine andere und, allerdings weniger strikt, auch nicht der Staat (Ausgrenzen „des Anderen“). Die betreffende Mara-clica bestimmt allein, wer, wann, wozu und mit welchem Obolus dieses Territorium betreten darf. Hier knüpft der territoriale an den kommunikativen Graffiti-Zweck der Maras an.
Verbände man den Identitäts- und Kommunikationszweck der Mara-Graffiti einerseits mit dem der territorialen Abgrenzung andererseits, könnte man behaupten, die Graffiti seien die Umgrenzung eines „territory of the self“ (Goffman 2015), wenn letzteres im erweiterten Sinne interpretiert würde.
In welchem Verhältnis stehen Mara-Räume und Graffiti zueinander?
Um die territoriale Bedeutung von Mara-Graffiti begreifen zu können, ist es notwendig, das gesamte „Raummachen“ der Mareros zu verstehen, das heißt die Etablierung aller Mara-Räume.
Historisch begann das „Raummachen“ bereits durch die traditionellen Maras, deren Ursprünge bis in die 1940er (El Salvador), 1960er (Honduras) oder 1970er Jahre (Guatemala) reichen. Diese okkupierten damals jedoch nur winzige Territorien: Als (häufig studentische) Bandenmitglieder besetzten sie eine Mauer, auf der nur sie sitzen durften, oder usurpierten (als Straßen-Maras) bestimmte Cafés, das Umfeld einzelner Friseur- oder Lebensmittelläden und Parks.
Unter dem Einfluss der US-Maras entwickelten sich dann die traditionellen Maras in den 1980er Jahren zu sogenannten „hybriden“ Maras, die nun auch schon ihre Codes auf Wände schrieben. Sie operierten vor allem in den größeren Städten, zunächst an denselben Orten wie ihre Vorgänger. Weitere Mitglieder rekrutierten sie aus den (legalen) Barras, den Fußballfangruppen, die auch ihrerseits neben Gewalt schon Graffiti ausprobiert hatten. In den 1990er Jahren begann sich dann der ursprüngliche territoriale Vandalismus, noch als Bagatelldelikt, der in den „hybriden“ Maras vereinigten Jugendlichen territorial zu konzentrieren und zu verstetigen. Dies geschah mit Hilfe eines Partners, der bereits Erfahrung im strategischen Raummachen besaß: der organisierten (Drogen)Kriminalität, die sich zunächst über das narcomenudeo (kleines Drogengeschäft) in Zentralamerika etablierte und einen Partner für ihre schmutzigen Geschäfte benötigte: Die Mara bot sich an. Inzwischen aber gibt es keine problemlose Partnerschaft zwischen narcos und Mareros mehr, denn beide Akteure kämpfen zuweilen um dieselben Pfründe, darunter nun auch um dasselbe Territorium. Das Begehren von Pfründen aber „zerriss“ die Mara: Vorbei war die Zeit, in der in der Mara noch „paz, amor y unión“ (Frieden, Liebe und Einheit) obwalteten („Jorge“ 15.09.16).
Mara-Raum und Mara-Graffiti-Raum sind jedoch nicht identisch: Denn die Maras sind nicht nur tellurisch, sondern auch beweglich, letzteres bis hin zur transnationalen Dimension. Das heißt, sie sind sesshaft und Nomaden (vgl. Deleuze/Guattari 2006, 434 ff.). Vor allem ihre Sesshaftigkeit wird von Graffiti „umschrieben“, ihr Nomadentum weniger. Doch immer wieder überschreiten ihre Graffiti auch den Raum ihrer Sesshaftigkeit, nie aber so weit, wie ihr Nomadentum reicht.
Factual territory
Urbane Barrios
Natürlich sind die Maras nicht nur aufgrund von Sesshaftigkeit territorial interessiert, sondern auch und noch mehr, um in deren Umfeld territoriale Herrschaft auszuüben und entsprechend „Steuern“ einzutreiben. Ganz wie bei Webers Staat geht es auch ihnen um das Gewalt- und Steuermonopol. Insofern ist die Frage, welches von beidem das primäre Territorial-Ziel der Mara ist, Territorium oder „Steuern“, müßig. Das schließt ein, dass es auch Maras gibt, die – wie zum Beispiel das Barrio 18 in Honduras – vorgeben, primär an einem „befreiten Territorium“ interessiert zu sein.
Sesshaftigkeit in den Städten ist bei den Maras auf das Barrio, (Stadtviertel/neighborhood), also auf ein „factual territory“, verwiesen. Keineswegs bedeutet das, dass die Mareros in dessen Grenzen unbeweglich verharren würden. Nicht nur, dass sie ausschwärmen, sie wechseln auch, unter anderem um der Polizei zu entfliehen, innerhalb der Barrio-Grenzen gern ihre Wohnstatt, ja machen sich, da sie so die Polizei in die Irre führen können, zuweilen einen Spaß daraus. Ebenso wenig heißt dies, dass sich die gesamte clica (bis zu 20 – 30 Mareros, häufig auch weniger) und erst recht nicht die gesamte Mara als solche im betreffenden Barrio aufhält: Insbesondere die Chefs (Palabreros, Ranfla) tun das in der Regel nicht.
In manchen Fällen sind Barrio und Colonia identisch, in manchen ist das Barrio größer als die Colonia. Ex-MS-Mitglied „Herbert“ (07.09.16) berichtet, dass in einem Barrio 30 Mareros etwa 1.000 Einwohner kontrolliert haben. Zuweilen sind es aber auch nur einzelne Straßenzüge oder nur eine einzige Straße, die ein Mara-Habitat bilden, sodass ein Barrio dann auch von verschiedenen Maras in verschiedenen Habitaten beherrscht werden kann, wie beispielsweise in Mejicanos, El Salvador (Bild).
Mitunter können aber auch mehrere nachbarschaftliche Barrios gemeinsam das Territorium der Sesshaftigkeit einer Mara-clica oder -cancha bilden. Ein Mara-„sector“ kann beispielsweise fünf clicas oder canchas einer Mara und bis zu 300 Personen umfassen. Mara-Sektoren sind aber allein El-Salvador-typisch. Schließlich gibt es auch Barrios wie das Barrio Rivera Hernández in San Pedro Sula, Honduras, das 15 Colonias umfasst, die zu einem bestimmten Zeitpunkt von sieben verschiedenen Banden (jeweils einer ihrer clicas) kontrolliert wurden. Je dichter ein Territorium besiedelt ist, desto lukrativer ist es finanziell und desto stärker wird es auch von einer Mara begehrt. Je näher es an einer Hauptstraße oder am Stadtrand liegt, umso wichtiger ist es auch. Nie aber ist die Rede von Munizipien, die von einer einzigen Mara vollkommen beherrscht würden. Und keine Mara verfügte je über eine Strategie der Machteroberung im ganzen Land, auch wenn die eine oder andere schon einmal im Überschwang verkündete, dass sie „morgen“ das ganze Land beherrschen würde.
Innerhalb der städtischen Barrios bewohnen die Mareros in der Regel, oft zusammen mit ihrer Familie, private Häuser, wo sie inzwischen auch ihre mirins/meetings (Versammlungen) veranstalten, wobei die anderen Bewohner für diese Zeit einfach hinausgeschickt werden. Seltener finden die mirins auch außerhalb der Wohnhäuser innerhalb des Barrios statt: in separaten oder verlassenen Gebäuden, den „destroyer“ oder „casas locas“. Das Wort „destroyer“ ist abgeleitet vom englischen „to destroy“ (zerstören) im Sinne von zerstörtem, verwüsteten Haus, ein Begriff, der aber von den Maras inzwischen als „zu schmutzig“ abgelehnt wird (Ramos 28.09.16). Deshalb ziehen sie dafür inzwischen das Wort der „casas locas“ (verrückte Häuser) vor. „Destroyer“ befinden sich zwar auch innerhalb des Barrio, aber größtenteils außerhalb. Sollen dort mirins stattfinden, werden im Gelände um das Gebäude herum Posten aufgestellt. Wenn es „verbrannt“ ist, wird es durch ein anderes Gebäude ersetzt.
Das Mara-Habitat ist gemeinhin von Mauern umsäumt. Vor seinen Grenzen sitzen die Wachleute der Mara, regelmäßig sind das Kinder, sogenannte Paisas oder Banderas, die manches Mal sogar vom Gesicht des Verdächtigen ein Foto schießen, aber stets die clica oder cancha per Handy davon informieren, wenn jemand Fremdes ihr Territorium betreten will. Oder es sind Frauen, die sich als „Antennen“ zur Verfügung stellen. Bewohner und Familienmitglieder werden eingelassen, aber niemand Unbekanntes, es sei denn, er entrichtet einen „ordentlichen“ Obolus. Oft hilft ihm nicht einmal das. Nicht eingelassen werden: natürlich die feindlichen Mara, aber auch Patrouillen der örtlichen Selbstverteidigung sowie die Polizei, die allerdings auch immer wieder um gute Beziehungen zur Mara bemüht ist. Das kann bis dahin gehen, dass ein Polizist auch selbst schon einmal zum Marero wird oder dass territoriale Verhandlungen zwischen Polizei und Mara stattfinden. Dann wird auch Polizisten der Zutritt gewährt. Ab und zu bewacht die Polizei sogar die territoriale Grenze eines Barrio zu dem der verfeindeten Mara, um Konflikte zwischen beiden zu vermeiden (Pacheco 29.09.16).
„Miembros calmados“ („schweigende Mitglieder“), die sich aus der im Barrio herrschenden Mara zurückgezogen haben, können nicht oder nur mit einer Genehmigung ihrer Mara dort Wohnung nehmen. Mitunter müssen sie ihren „Zugang“ sogar bezahlen, selbst wenn sie in das Territorium einer anderen clica der eigenen Mara betreten. Für Besuche von Vertretern der örtlichen Administration (Juntas Directivas), etwa in Gesundheits- oder Bildungsfragen, zu denen auch Mareros gehören können, oder von NGOs werden Ausnahmen gemacht. Am sichersten ist es, deren Vertreter kann ein bestimmtes Symbol präsentieren, um von den Wachleuten der clica schnell erkannt zu werden. Nicht selten muss er, wie an einer Landesgrenze, ein Ausweisdokument vorzeigen. Doch jeder, den man nicht kennt, ist verdächtig.
Will ein Auto nachts in das Barrio hineinfahren, hat es seine Scheinwerfer auszuschalten. Geschieht das nicht, wird darauf geschossen. Will ein Bewohner aus einem Barrio in ein anderes gehen, braucht er eine Genehmigung, für die er zahlen muss. Kindern und Jugendlichen ist es verboten, in eine andere Schule zu gehen als in die des Barrios. Manche Mara-Barrios verhängen sogar Kleiderordnungen. Über alles was im Barrio geschieht, hat der Bewohner nach außen hin zu schweigen. „Ver, oír y callar“ (Sehen, Hören und Schweigen) lautet das Motto. Wird diese Regel missachtet, bedeutet das Folter oder Tod. Die Mara-besetzten Territorien sind inzwischen sogar auf den GPS-Karten eingezeichnet, damit Autofahrer sie umfahren können.
In Guatemala ist das „factual territory“ der Mara besonders stark segregiert, denn viele verschiedene Banden mit vergleichsweise wenigen Mitgliedern (insgesamt nicht mehr als 20.000) teilen es sich untereinander auf. In El Salvador sind es nominell die im „nördlichen Dreieck“ Zentralamerikas wenigsten Banden Zentralamerikas, wiewohl mit den meisten Mitgliedern (etwa 70.000). Hier hält die MS mehr Territorium besetzt als alle anderen Banden zusammengenommen. Auch in Honduras ist die MS (etwas) stärker vertreten als das – von der Polizei dort stark angegriffene – Barrio 18 und schwärmt auch stärker aus als jenes (Bardales 20.09.16 zur Situation 2016). Das Land liegt (mit etwa 35.000 Mitgliedern) hinsichtlich der Mara-Mitgliederzahlen zwischen El Salvador und Guatemala, aber näher an Guatemala (alle Zahlen vgl. CIEN 2020).
Folgendes Bild ergibt sich, wenn man die Anzahl der Mareros pro qkm und die Anzahl der qkm pro Marero berechnet:
Tabelle: Mareros pro qkm und qkm pro Marero
Land |
Fläche in qm |
Anzahl der Mareros |
qkm pro Marero |
Mareros pro qkm |
El Salvador |
21.041 |
70.000 |
0,3 |
3,32 |
Guatemala |
108.890 |
20.000 |
5,4 |
0,18 |
Honduras |
112.490 |
35.000 |
3,2 |
0,31 |
(Eigene Darstellung)
Natürlich zeigt die Tabelle nicht die tatsächliche Verteilung der Mareros im jeweiligen Land, denn in allen Staaten gibt es auch Mara-freie Flächen, die aus den verschiedensten Gründen unterschiedlich groß sein können. Die Berechnungen in den Spalten vier und fünf ist daher eine durchschnittliche und insofern „bereinigt“. Dennoch dürfte in ihnen die extreme territoriale Marero-Dichte in El Salvador im Vergleich zu Honduras und Guatemala offensichtlich werden. Bedenkt man, dass es auch in El Salvador Mara-freie Territorien gibt, dann wird die Dichte der dortigen Mareros realiter noch extremer.
Auf den Mauern rund um das „factual territory“ geben Graffiti darüber Auskunft, welche Mara und welche clica oder cancha hier herrscht. Interessanterweise beginnen die Mareros, ihre Graffiti schon zu zeichnen, wenn sie gerade erst im Begriff sind, das Barrio zu besetzen und nicht erst nach dem Vollzug. Ist die Wand voller Graffiti, finden im Barrio Mara-Aktivitäten statt, denn dann wird das Territorium umkämpft, es ist also noch nicht sicher. Ist die Wand dagegen leer, ohne Graffiti, dann kontrolliert die betreffende Mara das Territorium bereits, ohne größere Auseinandersetzungen. (Ramos 28.09.16) Eine Graffiti-lose Mauer bedeutet also nicht notwendig, dass da keine Mara ist. Nicht immer ist ein „factual territory“ durch Wände begrenzt. Manches Mal ist die Grenze auch nur „virtuell“ und entbehrt Häuserwände, jeder aber kennt sie, auch wenn es „Grenzzaun“ und folglich auch Graffiti nicht gibt.
Rurale Gebiete
Inzwischen, etwa in El Salvador nach dem Scheitern der Paktversuche mit der Regierung, sind viele Mareros auf das Land geflüchtet und in den „zonas rurales“ (ländliche Gebiete) angekommen. Auch hier wurden sie sesshaft. Oft siedelten sie sich in verlassenen Häusern auf dem Land an, in denen sie als Gruppen wohnen, manchmal bauten sie auch eigene Lager auf. Was die „Steuern“ betrifft, so stammen sie hier aus der räuberischen Erpressung von Kaffee-Bauern und Viehzüchtern.
Knäste
Ein weiteres, wiewohl recht spezifisches Habitat als „factual territory“ der Mareros findet sich in den immer wieder völlig überbelegten Knästen, wo die Maras natürlich keine Herrschaftskontrolle besitzen sollten. Doch de facto teilen sie sich diese mit dem Gefängnispersonal. Auch im Knast werden durch die Maras „Steuern“ eingetrieben, manchmal sogar von den eigenen Leuten. Mara-Kriege innerhalb der Knäste sind keine Ausnahme, um Territorium dürfte es dabei aber nicht gehen. Immer wieder kommt es für die Insassen auch zu Verlegungen in andere Knäste, zum Beispiel von einem „normalen“ Knast in ein Hochsicherheitsgefängnis. Insofern wechselt auch das jeweilige Habitat, für den einzelnen Marero ohnehin, doch ab und zu auch für alle Insassen einer bestimmten Mara. Es wäre sicher interessant zu schauen, wie sich das Zusammenlegen der großen Maras in den salvadorianischen Knästen auf deren Graffiti ausgewirkt hat: Wird der Platz für sie nun verhandelt?
Im Strafvollzug leben von 20 bis 70 Mareros in einer einzigen Zelle, wenigstens aber, wenn das Gefängnis luxuriöser ist, in einem Modul. Ein Modul umfasst mehrere Zellen, gelegentlich mit Aufenthaltsraum und Innenhof (z.B. in der Haftanstalt Támara, Honduras). Der für Graffiti zur Verfügung stehen Wände sind da viele: Zellenwände, Modulwände, Außenmauern des Knastes. Für Honduras‘ Strafvollzugsanstalten wird berichtet (Mejía 26.09.16), dass deren Insassen ihr Gefängnisterritorium auch baulich verändern dürfen, zum Beispiel zusätzliche Wände einziehen: ein weiterer Platz für Graffiti. Es sind die Knäste, in denen die besten Graffiti, ja geradezu ganze Galerien davon zu sehen sind. Hier gibt es lange „Klagemauern“ mit einer Unzahl von Porträts getöteter Mareros. Zuweilen sind es auch Totenschädel.
Die Mareros führen in den – ganz offensichtlich unzureichend überwachten – Strafanstalten problemlos ihre mirins durch, organisieren über ihre hier einsitzenden Chefs (es gibt auch Chefs außerhalb) und deren Handys kriminelle Aktionen außerhalb des Knast-Territoriums und werden von Besuchern mit Drogen und Waffen versorgt. Genauso problemlos können sie ihren satanistischen Riten nachgehen. Im Knast scheinen die Mareros in ihrer Graffiti-Kunst völlig frei zu sein. Die Gefängniswände sind mit Graffiti übersät, in denen Grabmale über Grabmale, aber auch die Namen von ermordeten Freunden und, nicht zuletzt, der Teufel in all seinen Facetten und Symbolen zu sehen sind. Dieser Umgebung unterwerfen die Mareros über Jahre ihre Psyche.
Isolierte Gebäude und „plazas“
Auch einzelne, isoliert stehende Gebäude außerhalb des Barrio oder der Colonia gehören zum „factual territory“, wenigstens solange sie stabil kontrolliert werden. Dazu gehörte beispielsweise längere Zeit die Mehrzahl der „destroyer“, der früheren, jetzt aber aus Sicherheitsgründen verworfenen Versammlungs-, zuweilen aber auch Wohn- oder Aufbewahrungsorten für Waffen. Sie sind zudem Stützpunkte von Folter und Mord.
Inzwischen hingegen erfüllen diese Funktion mehr und mehr die sogenannten „plazas“, die sich gleichfalls außerhalb des Barrio bzw. des Mara-Territoriums der Sesshaftigkeit, schon im angrenzenden Aktionsraum und dort eine Insel des „factual territory“ bilden. Diese können in der Nähe von Fußballfeldern oder -stadien liegen, wo die tatsächlichen Fans keine Placas mehr anbringen dürfen, sondern nur die Mareros, aber desgleichen versteckte Orte in den Bergen (sitios/Orte/ in den cerros/kleinere Berge), wo die Maras, dem Beispiel von Guerillas folgend, ihre Waffen deponieren. Hinzu kommen geheime Orte von „Gewaltschulungen“ bzw. Unterweisungen im Waffengebrauch für die Gatilleros (Schützen) und auch die Ausbildungsstellen für die Graffer.
Der Auswahl ihres „factual territory“ liegt bei den Maras nicht das Kriterium der Maximierung ihrer Raumgröße zugrunde, sondern das ihrer Nützlichkeit: denn ein kleines, aber günstig gelegenes Territorium kann strategisch wichtiger sein oder, wenn es dichter besiedelt ist, mehr „Steuern“ abwerfen als ein großräumiges. Von der Polizei werden aber als Mara-Territorien nur die zusammenhängend-flächigen, die der Barrios oder Colonias, registriert.
Mara-freie Territorien
Natürlich gibt es auch Mara-freie Territorien in allen drei Ländern. Es sind allerdings weniger geworden. In El Salvador befanden sie sich eine Zeit lang in den Zonen, in denen die Ex-Kämpfer der FMLN nach dem Krieg zur Wiedereingliederung Land bekommen und sich zu alternativen kommunitären Wirtschaftsformen zusammengeschlossen hatten. Solange diese funktionierten, fanden die Maras dorthin kaum Eingang. Hier gingen die Ex-Guerrilleros auch schon einmal mit letaler Gewalt gegen Mareros vor, umgekehrt natürlich ebenso. In den „historischen FMLN-Territorien“, auch wenn da heute keine Ex-FMLN-Kämpfer residieren, ist aus den Zeiten des Bürgerkrieges eine im Wesentlichen christlich motivierte Solidarität der Bewohner überkommen: Dort sind entsprechende soziale Netze geknüpft, in die sich die Mareros ebenso schlecht „einknüpfen“ können. Auch die – gut bewachten – Viertel der Reichen, z.B. ihre condominios, sind im Wesentlichen Mara-frei. Angesiedelt haben sich die Mareros in ihnen bis heute nicht, aber auf ihren Raubzügen dringen sie in diese ein. Graffiti hinterlassen sie dabei kaum. Schließlich werden auch die Autobahnen oder Hauptstraßen als „no-lugares“ (Cruz 2010, 104) kaum von Maras besetzt oder kontrolliert, wohl aber zur Kontrolle hart umkämpft, doch auch hier sieht man Mara-Graffiti nur schwerlich.
Vor allem aus drei Gründen gehen die Mareros, wiewohl diese beibehaltend, von der Sesshaftigkeit auch zum Nomadentum über: Erstens geschieht das, wenn sie zu Aktionen starten und dazu, ob mit oder ohne Gewalt, „ausschwärmen“. Danach kehren sie aber wieder in „ihr“ Barrio zurück. Ihr Nomadentum ist daher durch Sesshaftigkeit begrenzt. Zweitens tun sie das, wenn sie „factual territory“ erweitern – immerhin ist die Expansion ihres Gebietes ein genuines Ziel jeder Mara, ob aus Macht- oder „Steuer“-Gründen, auch wenn das Absichern schon besetzter Territorium immer Vorrang hat. Drittens passierte das, als die „mano dura“ (harte Hand) der Staaten sich anschickte, die Maras aus den Barrios zu vertreiben: Da wurde Mobilität zur Flucht.
Relationaler Aktionsraum
Hinsichtlich jedweden Nomadentums können von Akteuren „Reiseberichte“ und „Wegstrecken“ abgefragt werden (vgl. Certeau 2006, 348), so auch von den Maras. Ihr relationaler Aktionsraum besteht aus solchen „Wegstrecken“ und ist dementsprechend linien- und routenförmig. Linien, Pfaden, Routen oder Korridoren folgen die Mareros in ihren Aktionen, um zu mirins außerhalb des „factual territory“ zu einer „casa loca“ oder auf einen „plaza“ zu gehen, an andere Orte zum Training oder zur Weiterbildung zu gelangen, zu missionieren und zu rekrutieren, zu erpresserischen und/oder gewalttätigen Missionen in das Barrio der gegnerischen Mara aufzubrechen, im Drogenhandel aktiv zu sein, etwa „para ganar plaza“ (um Platz zu gewinnen), um einen Ort für das narcomenudeo auszukundschaften oder auch konkurrierende kleinere Drogenhändler zu töten, bei Bus- und Taxifahrern „Steuern“ abzugreifen, ob aus eigener Initiative oder im Auftrag der narcos, manchmal aber auch auf Veranlassung der Busunternehmer, wenn diese selbst zu einer Mafia gehören, ihre homies in anderen Städten, ja Ländern zu unterstützen, Aufgaben in den Knästen zu erfüllen: ein kleiner Diebstahl auf einer angrenzenden Straße verschafft schnell „legalen“ Eintritt, evangelikale Kirchen zu besuchen, zum Beispiel, wenn der Pastor gleichzeitig Marero ist, mit Krawatte und Anzug in ihr Wirtschaftsunternehmen zu schreiten oder sich an neutralen Orten mit Politikern zu treffen. Zu alldem müssen die Mareros ihr Barrio und „factual territory“ verlassen und sich in den „relationalen Aktionsraum“ begeben, der relational ist, weil er nur in der Beziehung zu anderen Akteuren (oft potentielle Opfer) gebildet wird, aber auch, weil er in ihren Aktionen mit den Mareros „mitzieht“. Die werden dabei von ihren Chefs beobachtet, natürlich auch durch die Satellitensysteme der Polizei. Um ihre „Wegstrecken“ zurückzulegen, gehen die Mareros zu Fuß, nutzen Taxis, Motorräder und (gepanzerte) Autos, oder auch, im Drogenhandel, Boote.
Die Mareros in den Knästen „lassen“ vielmehr ausschwärmen: Die diesbezüglichen Befehle werden von ihnen über Mittelsmänner nach außen, an Familienangehörige und Freunde, gegeben. Darüber wird genau Buch geführt. Letztere übersiedeln dann in das unmittelbar an die Gefängnismauern anschließende Barrio, um „ihre“ Mareros – auch über Korruption des Wachpersonals – versorgen und ihnen nahe sein zu können. Sie haben dabei gewissermaßen die „Klagemauer“ an der Gefängniswand im Rücken. Das ist dann ein „indirekter“ Aktionsraum der Mareros. Der Aktionsraum der Mareros ist im Übrigen auch dann „indirekt“, wenn die Gangmitglieder ambulante Händler als (angestellte) Strohmänner einsetzen, ob in der Umgebung des Knastes oder des Barrio.
Wie an der obengenannten Aufzählung zu sehen ist, stellt sich die Mara primär andere Aufgaben und führt dementsprechende Aktionen aus: Das Graffiti ist dabei nur ein Nebenprodukt. Nur beim Graffer ist es, wegen seiner Spezialisierung, das Hauptprodukt. Doch dieser ist in der Organisationshierarchie der Gang untergeordnet. An den Orten ihres „relationalen Aktionsraumes“ sind die Graffiti weniger flächig als an den Rändern ihres „factual territory“: eher sporadisch-punktuell und diskret (diskontinuierlich). Sie sind auch kleiner. In diesem Raum bedecken sie vor allem Grenzsteine, Müllcontainer, Bordsteinkanten, Türen zu Einkaufszentren, Strommasten oder -kästen und Zaunpfosten. Keineswegs füllen sie den gesamten Aktionsraum.
Während also große, flächige und kontinuierliche Graffiti das unbewegliche (Herrschafts-)Gebiet in den Barrios kennzeichnen, symbolisieren kleinere, punktuelle und diskrete den Aktionsraum des „Ich war hier, bin aber weitergezogen“. Das Graffen zieht zwar mit dem agierenden Marero mit und bildet so den beweglich-relationalen Aktionsraum ab, das Graffiti aber, als das vergegenständlichte Resultat seiner Aktionen, bleibt stehen. Darin unterscheiden sie sich von den Tattoos, die letztlich immer beweglicher sind, weil Personen und Körper sich bewegen, nicht aber Mauern.
Transnationaler Raum
Der transnationale Mara-Raum ist eine spezifische Ausprägung des umfassenden transnationalen Zirkulations-, Transfer- und Kommunikations-Raumes, in den wir alle hineingestellt sind. Für das Mara-Handeln bleibt jedoch der nationale Raum weiterhin entscheidend. Insbesondere über ihre Qualität als Diaspora (Zinecker 2016), ja als Teil der „diasporic publics“ (Gilroy 1993), aber auch, wiewohl seltener, mit einem bestimmten Reiseauftrag der heimatlichen clica machen die Mareros dennoch auch ihrerseits transnationalen Raum: Dabei sind sie zunächst relativ stabil international verortet. Denn sie finden sich nicht nur in Kalifornien und nunmehr auch an der US-Ostküste, Kanada, Mexiko, Argentinien und in Zentralamerika, sondern inzwischen auch in Barcelona und Milano oder Australien, um nur einige betroffene Länder und Städte zu nennen. Insgesamt sollen es schon rund 20 sein. Zwischen ihnen gibt es Begegnungen, insbesondere, wegen der geographischen Nachbarschaft, natürlich mit den homies aus den anderen zentralamerikanischen Ländern, aus Mexiko und den USA. Man hat sich vor allem in den Knästen kennengelernt und besucht sich auch: Der betreffende Gast-Marero bekommt eine Adresse, die er selbstständig aufsucht („Jorge“ 15.09.16.). In dem Moment aber, wenn sich die Maras – etwa zum Zweck von Drogen- und Waffenhandel – über Kontinente hinweg vernetzen und sogar gemeinsame Projekte („programas transnacionales“) in Angriff nehmen, werden sie ganz unmittelbar – transnational. Ihre Bankgeschäfte sind es längst.
Was aber bedeutet das nun für die Dimension ihrer Graffiti?
Erstens: Bei den „Reisen“ der Maras im transnationalen Raum kann, anders als beim Tattoo, vergegenständlichte Graffiti-Symbolik natürlich nicht mitgeführt werden. Ebenso wenig ist ein solcher Raum durch Graffiti umgrenzbar. Doch auch in ihm haben Graffiti eine grenzüberschreitende und kommunizierende Funktion, auf eine spezifische Weise: Sie kehren in anderen Ländern, auf anderen Kontinenten, wieder, weil sie von derselben Mara, zuweilen sogar von einer clica mit demselben Namen (z.B. Hollywood, Fulton oder Normandie) gezeichnet wurden. Dabei können sie dem Graffiti im heimatlichen Barrio täuschend ähnlich sein. Der zentralamerikanische Marero dürfte also in diesen Fällen, ob in den USA oder Spanien und Italien, einen Graffiti-déjà vu-Effekt erleben. Die „transnationalen“ Graffiti sind demnach nicht das Resultat des kontinuierlichen Weiterschreibens oder der ein Kontinuum markierenden Expansion, sondern die Wiederkehr gleicher Symbole am anderen Ort.
Zweitens: Auch den transnationalen Mara-Raum dominieren statt Orte Linien und Routen. Spätestens hier Raum werden diese schließlich – im Drogentransit und -handel, auf den Migrationsrouten oder auch im Waffengeschäft – zu Netzwerken oder Rhizomen.
Diese besonders „langen“ Wegstrecken oder komplexen (darunter virtuellen) Netzwerke können fraglos nicht von „realen“ Graffiti nachgezeichnet werden. Ob die Maras für Wege und Netzwerke (virtuelle) Netgraffiti, etwa über Facebook, nutzen, ist der Autorin nicht bekannt.
Alles in allem, die Graffiti-Häufigkeit schwindet bei der zentralamerikanischen Mara, je größer die Räume werden: angefangen vom flächigen „factual territory“ über den linienförmigen „relationalen Aktionsraum“ bis hin zum „transnationalen Zirkulations-, Transfer- und Kommunikations-Raum“, allerdings auch dort nicht auf null.
In stark abstrahierter Form kann man sich diese drei Mara-Räume (noch ohne Gewalt- und Graffitiräume) so vorstellen:
Abbildung 1: Drei Mara-Großräume (Eigene Darstellung)
Imaginierter Raum
Der vierte Mara-Raum, der von ihnen imaginierte, ist zu einem Teil, das heißt zunächst, nicht gegenständlich, sondern kognitiv, also nur im Kopf der Mareros vorhanden. Auch Graffiti sind anfangs nur kognitiv. In dieser Erscheinungsform konnte dem imaginierten Raum logischerweise in der obengenannten Abbildung kein Kreis zugeordnet werden. Zum anderen Teil, in ihrer zeitlich nachfolgenden Erscheinungsform, kann sich Imagination – auch als (sub)kulturelle Symbolik – aber vergegenständlichen. Graffiti sind folglich zunächst im Kopf der Mareros, wo sie am Anfang nur als Idee über alle gegenständlichen Räume „hinwegprojiziert“ werden. Dann aber „verlassen“ sie diesen, indem die Imagination die Hand des Marero dazu anleitet, zu kratzen oder zu zeichnen. In dieser Erscheinungsform hätte Imagination durchaus in die Abbildung aufgenommen werden können, jedoch nicht als selbstständiger Kreis. Denn die vergegenständlichten Graffiti sind punktuell und diskret, besetzen also keinen zusammenhängenden Raum. Auch deshalb wurde in der Abbildung auf einen selbstständigen Graffiti-Kreis verzichtet.
Die Imagination von Raummachen verläuft bei den Maras sequentiell: 1) vor dem Raummachen, als Planung und Avisieren: Maras erarbeiten tatsächlich Pläne zur territorialen Eroberung, der sich die Graffiti später anpassen. Ihre diesbezüglichen Aktionen sind also nicht nur spontan: Es wird genau geplant, welche und wie viele clicas sich beteiligen und an welchem Tag die Aktion erfolgen soll. Die Imagination setzt sich dann 2) während des Raummachens fort, hier nun schon in Gestalt der Graffiti. Danach wird 3) das symbolische Umgrenzen des flächigen Territoriums abgeschlossen. Damit ist das Graffiti, als „territorio simbólico“, zumindest vorerst, solange es bestehen bleibt, vollendet.
Ob und inwiefern die Mara ihr „symbolisches Territorium“, etwa aus taktischen Gründen, größer oder kleiner imaginieren und gar durch Graffiti „zeichnen“ als es realiter ist, muss hier offen bleiben, wird aber nicht als Regel angesehen, denn, wie erwähnt, der Erhalt des Territoriums ist den Maras ja wichtiger als dessen Erweiterung.
Die Graffitiräume wie auch die Gesamtheit der zuvor skizzierten Räume sind also ausgesprochen weiträumig, in der Kognition natürlich noch mehr als in ihrer vergegenständlichten Erscheinungsform. Es scheint sogar, sie seien unendlich. Doch Recht haben wohl auch die, die die Mara als ein „carcel cultural de muchos brotes“ (kulturelles Gefängnis aus vielen Gitterstäben) beschreiben, weil der, der es verlassen wollte, seine Identität verlöre, und das sei schlimmer als ermordet zu werden, denn es bedeute den sozialen Tod (ERIC/IUDOP/IDESO/IDIES 2001, IV). Nimmt man transnationale Quasi-Unendlichkeit und Eingesperrtsein zusammen, dann könnte man das als ein „kulturelles Gefangensein trotz Unendlichkeit“ bezeichnen.
Zusammengefasst: Der durch Graffiti symbolisierte Mara-Raum umsäumt also das flächige „factual territory“, indem es, im betreffenden Territorium die Linien von Häuser- und Mauerwänden im Kontinuum nachzeichnet. Im Aktionsraum erscheinen die Graffiti dagegen eher, Linien und Routen folgend, als diskret, als sporadische Wegemarken oder „Punkte“ in der Landschaft. Der Übergang zwischen beidem ist freilich fließend bzw. hybrid, denkt man etwa an die „destroyer“-Graffiti oder an die an den Wänden von Schulen oder Fußballstadien, die beides vereinen. Im transnationalen Raum kehren die Graffiti in den Augen der zentralamerikanischen Mareros als Replik wieder. In der Vorstellung der US-amerikanischen Mareros hat sich davor der gleiche Prozess vollzogen wie bei ihren zentralamerikanischen homies: Die Imaginationen beider regionalen Maras begegnen einander in diesem Raum und verschmelzen – als Wiedererkennen.
In welchem Verhältnis stehen Mara-Gewalträume und Graffiti zueinander?
Der hauptsächliche Zweck der Mara-Graffiti – eigenen Herrschaftsraum als Teil ihres „factual territory“ abzugrenzen – ist nicht zu verwechseln mit der Abgrenzung ihres Gewaltraumes, denn Herrschaft ist nicht notwendig an physische Gewalt gebunden, gerade bei den Maras nicht. Zwar sind die Maras zumindest in Zentralamerika tatsächlich die prominentesten Gewalttäter, und der von ihren Graffiti umsäumte Raum ist auch ein „Ermöglichungs- und Ermächtigungsraum“ von Gewalt, aber in ihm wird sie nicht hauptsächlich ausgeübt. Im Raum des „factual territory“ gilt die Mara vielmehr als Beschützer, und daher ist er in der Regel, wenn auch nicht immer, friedlich. Zur Gewalt greift die Mara auf diesem Territorium nur, wenn Barrio-Bewohner ihren Anweisungen nicht folgen, Jugendliche es ablehnen, sich in die herrschende Mara rekrutieren zu lassen oder sich die betreffende Mara in ihm bewohnte Häuser aneignet, deren Bewohner auf die Straße setzt und sich letztere wehren.
Wenn der Kampf um territoriale Erweiterung des „factual territory“ gegen die gegnerische Mara gewonnen wird, findet auch keine Vertreibung der „alten“ Bevölkerung aus den neu eroberten Barrio statt. Denn auch die neue Mara kann sich jene nicht vollkommen zum Feind machen (Velásquez 01.09.16). Ihr Eindringen erfolgt vielmehr zweifach: zuerst werden im anderen Barrio Verbündete (Cousins, Neffen usw.) „überzeugt“ („haciendo mente“ oder „enfermar“), von denen dann Informationen „abgegriffen“ werden. „Fünf reichen da schon“ („Jorge“ 15.09.16). Mit deren Hilfe wird schließlich das Barrio von Feinden gesäubert. Am Ende werden die anderen Bewohner durch Überzeugung oder Schüren von Angst „stillgehalten“ („Jorge“ 15.09.16). Dabei hilft der Mara ein eigenes „Einwohnerregister“. Ihre Losung heißt also: „Überzeugen + Schlagen + Überzeugen“. Nur kleine Kinder und Greise werden in Ruhe gelassen.
Die Mara-Gewalträume (auch sie werden hier wegen ihrer Diskontinuität im Plural gebraucht) konstituieren also nur einen Teil des Aktionsraumes und folgen auch ihrerseits Linien, Pfaden und Routen, wo sie bestimmte Punkte, hier Gewaltorte, setzen. Mara- Gewalt findet vor allem an den äußeren Grenzen des besetzten Barrio statt. Das alles schließt nicht aus, dass es auch Territorien gibt, wie etwa der historische Stadtkern von San Salvador (Bild), die von zwei Maras flächig umkämpft sind (in den öffentlichen Zonen darf der gemeine Bürger eintreten, nur die der anderen Mara nicht) oder dass gewaltsame Territorial-Kämpfe sogar zwischen clicas oder canchas ein und derselben Mara vorkommen.
Die Gewalträume als Teil des relationalen Aktionsraumes sind im Unterschied zum umsäumten „factual territory“ und genauso wie der gesamte Aktionsraum beweglich und nicht starr. Sie werden darüber bestimmt, wo die Maras ihre Gewalttätigkeit konkret verrichten: erstens und vor allem als Kämpfe an den Grenzen des „umzäunten“ Territoriums, zweitens darüber hinaus und weitergehend dorthin, wohin die Maras insbesondere ihre auf Mord spezialisierten sicarios (spezialisierte Mörder) ausschicken, gewissermaßen als „migrierendes Delikt“ (Pacheco 29.09.16), oder auch an Orten, wo sie Massaker ausüben, drittens wohin sie die Leichen ihrer Opfer verbringen, oft in das Barrio der feindlichen Mara: Niemals verbleiben die Leichen am Ort des Mordes und schon gar nicht, wenn ein Mord ausnahmsweise dort geschieht, wo die eigene Mara wohnt. Viertens, dies aber nur vereinzelt, werden Mara-clicas zur gewalttätigen „Amtshilfe“ für eine andere, woanders verortete clica ausgeschickt. Sehr selten wird ein Mord-Auftrag auch für jenseits der Landesgrenzen erteilt. In den transnationalen Raum hat sich die Gewalt der zentralamerikanischen Maras noch nicht „verirrt“, das besorgen die dortigen homies allein.
Wie im bisherigen Text sichtbar geworden sein dürfte, muss hier – wie schon bei den Graffitiräumen – statt von einem in sich geschlossenen Gewaltraum von vielen kleinen Gewalträumen ausgegangen werden, die – nicht-kontinuierlich, mithin diskret – als Punkte an den Linien, Pfaden und Routen des Aktionsraumes zu verorten sind. Auch insofern wäre der von den Punkten „abstrahierte“ Gesamt-Gewaltraum der Maras auf jeden Fall kleiner zu zeichnen als deren Aktionsraum, weil eben nicht jede ihrer Aktionen mit Gewalt verbunden ist. Neben dieser Ähnlichkeit können bei Gewalt- und Graffitiräumen zwei gegenläufige Entwicklungen konstatiert werden: Die Graffiti-Frequenz nimmt ausgehend vom Barrio bis zur äußeren Rand des Aktionsraumes tendenziell ab, die Gewalthandlungen der Mara aber nehmen zu. Im Aktionsraum können sich Gewalt- und Graffitiräume der Maras auch punktuell überlappen, sind aber weder untereinander noch mit dem umgebenden Raum identisch.
Insgesamt gilt:
Erstens: Die generellen Aktionen der Mara reichen weiter und vollziehen sich örtlich-kontinuierlicher als ihre Gewaltaktionen und auch als ihre Graffiti. Zweitens, auch Gewalt(aktions)- und Graffitiräume sind nicht identisch, auch deshalb nicht, weil das Graffiti-Zeichnen eine gewisse Zeit der Gewaltlosigkeit braucht und zeitlich daher bestenfalls der – territorial vorbereitenden Mara-Gewalt und dem Etablieren von Gewalträumen – nachfolgt, nicht umgekehrt. Graffiti als Produkt ist dann aber unbeweglicher als jegliche Aktion, auch der gewaltsamen: Es bleibt (an einer Wand) „stehen“, bei der unmittelbar-physischen Gewalt hingegen bleibt (nur) das Opfer „liegen“, sie selbst aber ist, als ein sich bewegendes Handeln, fluid.
Folglich lassen sich bei den Mara insgesamt fünf Raumtypen mit jeweils ganz spezifischen Eigenschaftskombinationen feststellen:
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„factual territory“: gegenständlich-flächig, relativ starr und kontinuierlich;
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„relationaler Aktionsraum“: relational-vergegenständlicht, linien-, pfad- oder routenförmig, fluid und kontinuierlich;
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„transnationaler Raum“: relational, vergegenständlicht und „sphärisch“, fluid und kontinuierlich;
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„Gewalträume“: relational- vergegenständlicht, fluid und punktuell-diskret;
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a) „imaginierte Graffitiräume“ (1): kognitiv, nicht-vergegenständlicht;
b) „imaginierte Graffitiräume“ (2): symbolhaft-vergegenständlicht, flächig-kontinuierlich und punktuell-diskret.
Die Kombination der genannten Räume lässt sich an folgender, natürlich immer noch stark vereinfachender Abbildung ablesen:
Abbildung 2: Fünf Mara-Räume (Eigene Darstellung):
Graffiti-Farben, -Schrift und -Symbole
Anders als bei sonstigen urbanen Graffiti ist der Stil der Mara-Graffiti, abgesehen von denen in den Knästen und manchen Murales, nicht übermäßig dekorativ, sondern funktional. Beide Maras verwenden als ihre Grund-Farben Blau und Schwarz, auch in ihrer Schrift. Das hat mit ihrem US-amerikanischen Ursprung zu tun, den Suren͂o Gangs.
Die Suren͂o Gangs oder auch Southern California Hispanic Street Gangs standen und stehen in den USA den Norten͂o Gangs oder auch Northern California Hispanic Street Gangs diametral feindlich gegenüber und sind dort mit zwei verschiedenen, rivalisierenden mexikanischen Mafias, der Nuestra Familia bzw. der EME, assoziiert. Die Farbe der Norten͂os ist rot, die der Suren͂os blau. Daher sind auch die zentralamerikanischen Maras, im Übrigen alle, diesem Farbenkodex ergeben: Die Farbe Rot ist für sie ein No-Go.
Die Schrift der Mara-Graffiti folgt in der Regel dem Cholo-Stil der sogenannten „gebrochenen“ Schriften, insbesondere der deutschen (got(h)ischen) Frakturschrift, die eine Blackletter-Schrift ist, zu der auch das Old English Font gehört. (Die Vatos Locos besitzen eine eigene Schrift.) Die Blackletter-Schrift ist über 400 Jahre alt und wurde schon von den mexikanischen Gangs in den 1940er Jahren benutzt. In Mexiko soll sie auch offiziell üblich sein, ja einmal eine religiöse Bedeutung besessen haben (Chastanet/Gribble 2009, 53). Bis heute gilt sie als Zeichen „kalifornischer Kultur“, während die (spätere) New Yorker Graffiti-Kultur eher farbig und flächig ist. Cholo-Writing stammt ursprünglich von handschriftlichen Briefen der mexikanischen Gangs in Los Angeles.
Bei den in den Graffiti visualisierten Symbolen handelt es sich zunächst und vor allem um die Namen der Gangs, hier der Maras: Mara Salvatrucha, Barrio 18 oder – in El Salvador – der Revolucionarios und Suren͂os und auch der Retirados, die in der salvadorianischen MS wie „Revolucionarios“ gehandelt werden, sowie, in allen drei Ländern, auch kleinerer Maras. Die Buchstaben sind den Maras alles: „Para nosotros las letras valen demasiado, entonces las cuidamos“ (Für uns bedeuten die Buchstaben zu viel, als dass wir auf sie nicht aufpassen würden.) (Marero, zitiert in: Savenije 2009, 110). Die Graffiti verschmelzen in der Vorstellung der Maras mit ihrer Gang: Sie sind die Gang. Mehr noch, beim Raummachen übernehmen sie gewissermaßen die „Führung“: „A las letras nos debemos, llegamos hasta donde las letras nos dejen” (Den Buchstaben sind wir verpflichtet, wir gehen dorthin, wohin uns die Buchstaben führen.) (MS-Marero, zitiert in: Insight Crime/Center for Latin American & Latino Studies 2018, 23). In der Vorstellung der Mareros bestimmen also die „letras“, wo sie „Raum machen“: sie allein, nicht umgekehrt.
Die Namen der Gangs kennzeichnen in der Regel den Eingang zu einem Barrio und reichen von einem Ende der Wand bis zum anderen. Sie sind zwischen 25 und 50 Meter lang und mindestens ein Meter hoch angebracht, damit sie nicht beschmutzt werden können. Auf Häuserwänden innerhalb des Barrio fallen sie aber auch schon einmal kleiner aus. Des Weiteren sind auf den Wänden die Namen der clicas, canchas, jengas, tribus usw. zu finden, die in der Regel aber nur von der Mara selbst oder der Polizei zu dechiffrieren sind, aber auch Schriftzüge mit Todesdrohungen wie beispielsweise: „Los del Combo se van o los matamos“. (Die von der Combo hauen ab, oder wir töten Euch!).
So wie bei den Tattoos werden von den Mareros auch bei ihren Graffiti gern Abkürzungen genutzt, also MS (MS 13) oder 18. Es sind diese Abkürzungen, die in den Graffiti stets mit den größten Lettern getaggt werden. Das Barrio 18 bzw. seine „Erben“ nutzen dafür besonders gern römische Zahlen (z.B. XVIII) oder Verbindungen von arabischen (18) und römischen (z.B. XV3, X8). Auch die Zahlen sind für die Mareros höchst bedeutungsvoll: „Por el número nos matan, y por el número matamos nosotros“ (Wegen der Zahl töten sie uns, wegen der Zahl töten wir.) (Marero, zitiert in: Savenije 2009, 110).
Die Mitglieder des Barrio 18 werden „chicos de los números“ (die Burschen der Zahlen), genannt, die der MS dagegen „chicos de las letras“ (die Burschen der Buchstaben). Bei den kleineren Maras ist das nicht viel anders: So hat sich die Mao-Mao in El Salvador für die Abkürzung m180 entschieden, der sie das Bild der Mickey Mouse (Mao-Mouse) beifügt, und die Mara Máquina für ein MM oder M+M. Das Symbol für El combo que no se deja in Honduras ist der Picachito, ein Pokemon-Symbol.
Allein diese Zahlen und Namen der Gangs, nicht die Bilder, sind in der Regel klar erkennbar, und nur bei ihnen sind Spekulationen nahezu ausgeschlossen. Nur bei den Retirados, die als Akronym ebenso ein R gewählt haben wie die Revolucionarios des Barrio 18, ist das anders. Das zu unterscheiden, hilft nur der Kontext.
Auch die Namen der Letreros oder aber die getöteter Homeboys sind auf den Wänden zu lesen so wie dort auch die von den Tattoos bekannten Clowns, Gräber, Totenköpfe oder dekorative Darstellungen der Cannabis-Pflanze an ihnen zu sehen sind. Die gehörnte Hand gehört dazu wie andere satanische Symbole. Manchmal prahlen die Mareros durch entsprechende Graffiti mit begangenen kriminellen Delikten. Prangt neben dem Namen eines Marero ein umgedrehtes Kreuz oder eine Wolke, dann weilt dieser nicht mehr unter den Lebenden. Beliebt sind auch Mode- und Werbemarken, die in den Graffiti vereinnahmt werden, entweder weil die Letreros sie schön finden oder, wie z.B. die Zeichen von Nike (bei der MS) oder Jordan (beim Barrio 18), weil sie von einer Mara als Kleidungsstil ausgewählt wurden. Die schon von den Tattoos bekannte Jungfrau von Guadalupe, zuweilen auch mit Jesus Christus in ihren Armen, oder Frauen in erotischen Positionen finden sich gleichfalls auf den Mauern.
Anders als ihre Schriftzüge sind die Bilder der Mara-Graffiti nicht immer klar interpretierbar, deren Botschaften können „verdeckt“ sein. Doch gerade hier können Spekulationen gefährlich werden. Besonders schlimm wird es dann, wenn die Graffiti-Zeichnungen von Nicht-Mareros nicht als Produkte mit „Mara-Copyright“ erkannt und übernommen werden. Dann ist die feindliche Mara schnell zur Stelle.
Der Kampf um die Herrschaft im Territorium wird sichtbar als – gewaltsam geführter – Kampf um die Graffiti(Hoheit): Sie werden (von der anderen Mara) „ausgeixt“ oder überschrieben bzw. (von der Polizei) mit Farbe übertüncht oder mit Chemikalien entfernt. Letreros werden bei ihrer Graffiti-Aktion auch schon einmal von der anderen Mara be- und erschossen. Die Polizei wiederum nutzt gern die Kinder der Mareros, um Graffiti entfernen zu lassen, „damit das Barrio wieder schön wird“. Konflikte sind hier natürlich vorprogrammiert. Wurden eigene Graffiti von anderen entfernt, gilt das den Mareros als Warnung: Sie haben sich nun auf den Kampf vorzubereiten. Zuweilen sieht man auch „Zahlenspiele“ – wenn an ein und derselben Wand die Zeichen zweier verfeindeter Maras zu sehen sind. Eines wird weichen müssen – eine besondere Art des Palimpsests. Alles in allem: „Los graffiti se defienden a muerte“ (Die Graffiti werden bis zum Tod verteidigt) (Andino 23.09.16). Insofern verschmelzen Graffiti- und Gewaltraum zu einem Raum.
Worin besteht das Besondere der Mara-Graffiti?
So wie im ersten Artikel dieser Folge nach dem Besonderen der Mara-Tattoos im Vergleich zu anderen Tattoos gefragt wurde, soll das hier nun auch zu deren Graffiti geschehen, dies sowohl gegenüber anderen Graffiti, darunter auch anderer Gang-Graffiti, als auch gegenüber den eigenen Tattoos:
- wie bei den Tattoos findet sich das Besondere zunächst im kulturell-dualen Ursprung von Chicano- und Gothic-Kultur bzw. von christlicher und satanischer Symbolik und der entsprechenden Schrift;
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wie die Tattoos werden auch die Graffiti der Mara inzwischen weniger praktiziert, sind aber noch immer sichtbar und, anders als de Tattoos, nicht verboten,
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Mara-Graffiti gehören zu den „diasporic public“; Mara-Tattoos sind nur „privat“, andere Graffiti mehrheitlich nicht „diasporic“,
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sie symbolisieren eine „dominante Gruppenexklusivität“, die noch weniger Individuelles an sich hat als die Tattoos und sich von anderen Graffiti, solange diese nicht wie sie Gang-Graffiti sind, unterscheiden,
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sind ein Ausdruck für „kulturelles Gefangensein trotz Unendlichkeit“;
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sie besitzen eine Gewaltimmanenz und -bedeutung, bis zu dem Punkt, dass Graffiti-Produzenten und -Auftraggeber für ihr Wandbild sterben würden und
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weisen eine spezifische Variabilität als punktuell-diskreter und flächig-kontinuierlicher Raum aus.
Wenn es insgesamt immerhin sieben Merkmale braucht, die nur in ihrer Verknüpfung deren Spezifik charakterisieren können, dann sind Mara-Graffiti gewiss keine „einfache Sache“. Sie lohnen also komplexe und interdisziplinäre Forschungsanstrengungen.
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XIn New York wurde die broken-windows-Strategie ab 1994 von Polizeikommissar William J. Bratton durchgesetzt. Er ging davon aus, dass es nötig sei, schon leichte Gesetzesverletzungen (wie etwa kaputte Fensterscheiben) hart zu bestrafen, weil die Täter später auch schwere Delikte begehen würden und die kaputten Scheiben bereits eine beginnende Unordnung symbolisierten, die die Täter dann nur noch vertiefen müssten. So konnte der Eindruck von der Notwendigkeit einer besonders repressiven externen Kontrolle, der „harten Hand“, erweckt werden.
Ich danke Laura Wägerle für ihre Hilfe bei einem Teil der Recherche zu diesem Text. Ihm liegen auch 44 Feldforschungsinterviews zugrunde, die ich mit Mara-Spezialisten in El Salvador und Honduras geführt habe. Für deren Finanzierung gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft mein besonderer Dank. Zu den Graffiti haben sich insbesondere geäußert:
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„Herbert“, Ex-Mitglied der Mara Salvatrucha, früherer FMLN-Guerrillero, dann Marero „der ersten Stunde“; zum Zeitpunkt des Gespräches: selbstständiger Unternehmer, El Salvador, 07.09.16.
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Corrales, Glenda, Dania und Yojana, Policía Nacional/Antipandilla, Programa GREAT, Honduras, 30.09.16.
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Flores, Nelson, Policía Nacional, Chef der Unidad Anti-Pandillas, El Salvador, 14.09.16.
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González Montes, José, Policía Nacional, Angehöriger der Unidad Anti-Pandillas, El Salvador, 07.09.16.
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Mejía, Alba, Centro de Prevención, Tratamiento y Rehabilitación de las Víctimas de la Tortura y sus Familiares (CPTRT), Honduras, 26.09.16.
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Moreno, Douglas, früher: Direktor des Strafvollzugs, dann Vize-Minister für Justiz und öffentliche Sicherheit; zum Zeitpunkt des Gesprächs: Berater Alcaldía Ilopango, El Salvador, 03.09.16.
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Pacheco, Trinilo, Kommissar der Policía Comunitaria/Subsecretaría de Asuntos Interinstitucionales, Honduras, 29.09.16.
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Ramos, Marcos, Marero retirado der MS 13, Proyecto Victoria, Honduras, 28.09.16.
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Reyna, Veronica, Servicio Social Pasionista Mejicanos, El Salvador, 05.09.16.
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Simón, Arturo Alejandro, Marero retirado der MS 13, Proyecto Victoria, Honduras, 28.09.16.
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Velásquez, Hugo Salvador/Lazo Merino, Walter, INTERPOL, Oficina Regional para América Central, El Salvador, 01.09.16.
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„Jorge“, Ex-Mitglied der Mara Salvatrucha, El Salvador, 15.09.16.
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Bardales, Ernesto, Ex-Direktor der NGO Jha-Ja, Honduras, 20.09.16.
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Sánchez, Arabesca, Kriminologin, Honduras, 20.09.16.
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Estrada, Oscar, Journalist, El Pulso, Honduras 23.09.16.
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Flores, Melvis, Proyecto Victoria, Honduras, 26.09.16.
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Andino, Tomás, Analyst, früher: Save the Children, Honduras 23.09.16.
Zitierte Literatur:
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CIEN (2020): Análisis Reforma al Código Penal, modificación del Delito de Terrorismo. Unter:
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Bildquellen: [1,2,4-6,11-13] wiki_CC; [3] canva_CC; [7,9,10] presidencia.gov.sv; [8] presidencia.gov.hn; [12] Public Domain, Daniel Lobo_; [14] Walking the Tracks_