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El lugar más pequeño – Ein Film von Tatiana Huezo Sánchez

Andrea Lammers | | Artikel drucken
Lesedauer: 7 Minuten

Filmbild zu Tatiana Huezo Sánchez' El lugar más pequeño. Foto: Filmcapture.

Wir sehen keine Bewaffneten, keine Leichen, keine Knochen. Als die Kamera einmal auf halb im Waldboden versunkene Überreste aus Stoff und Leder blickt, reicht die Erschütterung bis ins Mark. Viel später blicken uns die Augen der Ermordeten aus simplen Pass- und Erinnerungsfotos an, vermeintlich schon hundertfach gesehene Relikte aus Kriegszeiten, und doch ist der Stich ins Herz unvergesslich. Die junge salvadorianisch-mexikanische Regisseurin Tatiana Huezo erzählt in ihrem Debüt-Langfilm Geschichten vom Überleben nach dem Bürgerkrieg in El Salvador. Sie lässt uns ganz allmählich und ohne Pathos immer weiter in die Seele ihrer Protagonisten blicken, dorthin, wo ein so extremer Schmerz sitzt, dass von „Bewältigung“ eigentlich nicht die Rede sein kann, aber vom Weiterleben: nachdenklich, ohne Zynismus, ohne Rachegelüste, jeder auf seine Art.

Die nüchterne Zahlenbilanz des Bürgerkrieges in El Salvador, der 1979 begann und zwölf Jahre dauerte, beträgt 80.000 Tote sowie mehrere tausend Verschwundene und Flüchtlinge. Die Konsequenzen des Krieges lassen sich nicht in Zahlen messen. Ihre mexikanische Mutter wanderte mit Tatiana Huezo nach Mexiko aus, als sie fünf Jahre alt war. Mit dreizehn, 1985, reiste sie zum ersten Mal zurück in ihr Geburts- und „Vater“land El Salvador. Einer ihrer Onkel war tot, andere Familienangehörige „verschwunden“, die Cousins Waisen. Sie spürte eine starke Verbindung und kehrte immer wieder zurück. Eines Tages nahm ihre Großmutter sie mit in ihr früheres Heimatdorf, Cinquera, den „allerkleinsten Ort“ („el lugar más pequeño“). Drei Stunden dauerte damals die Fahrt von der Hauptstadt San Salvador über 70 Kilometer schlammige Bergstraßen. Cinquera war 1983 nach jahrelanger Besetzung, nach Bombardements, Folter, Ermordung und Vertreibung der etwa 800 Bewohner vom Militär dem Erdboden gleichgemacht worden. Überlebende hatten nach dem Friedensschluss 1992 begonnen, den Ort wieder aufzubauen. Tatiana lernte nun einen Teil ihrer Familie und alte Freundinnen ihrer Großmutter kennen. Viele hielten sie für eine der ihren, eine entfernte Verwandte, eine späte Rückkehrerin aus dem Krieg. Sie begann nachzufragen, was passiert war, kam immer wieder zu Besuch und brachte eines Tages, inzwischen am Ende ihres Filmstudiums in Mexiko angelangt, auch den Kameramann Ernest Pardo mit. Zwei Monate lebten die beiden – ohne Kamera – in Cinquera, hörten Erzählungen der Bewohner, hielten Ausschau nach Protagonisten. Im Jahr darauf entstand in neun Wochen Drehzeit das Material für EL LUGAR MAS PEQUEÑO.

Der Film vermeidet die „Reliquien” und Guerilla-Anekdoten des bescheidenen Nachkriegstourismus in El Salvador, mit dem sich die Einwohner des „allerkleinsten Ortes“ ein Zubrot verdienen. Er bleibt beharrlich und emphatisch bei den Menschen und bei den Spuren, die die extreme Gewalt in ihnen hinterlassen hat. Zum Beispiel bei Don Pablo und den wenigen Überlebenden seiner Familie. Wie früher wird er nicht müde, seinem Bildungshunger mit Büchern zu stillen, nach der Feldarbeit von der Hängematte aus Erklärungen für den Zustand der Welt zu suchen, während die Frauen des Hauses nebenan weißen Käse herstellen. Er sagt selbst, dass er zur Hälfte in der Vergangenheit und nur halb in der Gegenwart lebt. Es ist wohl hauptsächlich sein Land, die Erde, die ihm auch dann noch Trost gibt, wenn die Mitmenschen und die Bücher das nicht mehr können. Draußen, im „Freien“, lernen wir auch Armando kennen, den Kuhhirten, der so beiläufig und eindrücklich von seiner seit dem Krieg anhaltenden Schlaflosigkeit, seinen Alpträumen und seinen unkontrollierbaren Gewaltausbrüchen erzählt, dass wir nicht über ihn urteilen, sondern eher selbst somnambul werden und beginnen, durch den Film zu traumwandeln. Doña Elbas urzeitliches Gesicht und ihre einsame Existenz scheinen so fragil, dass wir schon zittern, wenn sie bloß Eier einkaufen geht (zu welchem Zweck wird hier nicht verraten). Es scheint, dass diese alte Frau nur durch ihre unerschöpfliche Imagination und ihre Fähigkeit, Geschichten immer wieder neu zu erzählen, jeden Tag aufs Neue überstehen, überleben und manchmal auch zusammen mit anderen lachen kann. Unmöglich, nach diesem Film je wieder ein Glühwürmchen aufblinken zu sehen, ohne darin Doña Elbas omnipräsente irrlichternde lebendige Seelen zu erblicken.

Die Protagonisten und die Kamera ziehen uns hinein in die Sichtweise der heute Alten, die damals für ein anderes, gerechteres Land kämpften, als „Subversive“ verfolgt wurden, noch ehe sie überhaupt zur Waffe gegriffen hatten und sich doch niemals hätten träumen lassen, mit welcher Welle von Gewalt sie überzogen würden. Die Verantwortung lastet bis heute auf ihnen: Der Tod ihrer Kinder, die radikale Konsequenzen ziehen mussten, ist unüberwindlich. EL LUGAR MAS PEQUEÑO zeigt uns auch, wie die heute mittlere Generation sich schon früh, fast im Kleinkindalter, einen eigenen Reim auf die grausamen Vorgänge und das seltsame geheimniskrämerische Verhalten der Erwachsenen machen musste. Eine frühreife Generation „sin ternura“ wuchs heran, ohne Zärtlichkeit, die ihre Gefühle früh abschotten und abspalten musste. Viele sind ohne Abschied gegangen. Andere, wie Rosi, damals eine kleine Botin mit geheimen Nachrichten-Zettelchen unter der Haarspange und dem Auftrag, als erste nachzugucken, wenn eine Leiche gefunden wurde, ringen bis heute um Möglichkeiten sich auszudrücken, zum Beispiel mit Hilfe von Bildern. Rosi ist eine Tochter von Don Pablo, der nach der Besetzung von Cinquera nicht zu seiner Familie zurückkehren konnte und schließlich erfahren musste, dass sieben seiner neun Kinder tot waren.

Filmbild zu Tatiana Huezo Sánchez' El lugar más pequeño. Foto: Filmcapture.

Tatiana Huezo hatte eine ebenso riskante wie geniale Idee, wie mit den Erzählungen der Dorfbewohner über die Vergangenheit umzugehen sei: Sie hat sie, mit einer kleinen Ausnahme, alle ins Off gelegt. So sehen wir sie meist bei alltäglichen Verrichtungen oder beim Ausruhen oder lassen den Blick über die großartige Berglandschaft rund um Cinquera schweifen, über den Wald, der das Dorf wie ein riesiger grüner Mantel umgibt und hören dazu ihre Stimmen. Dank der gelungenen Montage, die niemals bebildert und immer „unmerklich“ bleibt, funktioniert das optimal. Die Intimität der Protagonisten bleibt in besonderer Weise gewahrt, sie sind „beschützt“, und wir dürfen ihnen doch ganz, ganz nahekommen. Sie werden niemals als schwer traumatisierte Opfer präsentiert, sondern sie teilen ihre eigenen, schmerzhaften, manchmal zwanghaften, bisweilen auch befreienden Reflexionen und Überlebensstrategien mit uns. Der Film gewinnt durch diesen „Trick“ eine große Flexibilität im Aufbau, die er bestens nutzt – vielleicht mit Ausnahme der Tatsache, dass er nicht einen Schluss hat, sondern ungefähr vier. Da man aber trotz der „langen“ 104 Minuten keine Sekunde ungeduldig auf das Ende wartet, sondern im Gegenteil gerne noch bei den Protagonisten bleiben möchte, ist das gar kein Problem. Dramaturgisch gipfelt EL LUGAR MAS PEQUEÑO in einem extra für die Filmcrew hergestellten Ereignis, das aber nicht artifiziell wirkt, sondern sich ganz natürlich aus dem Erzählfluss ergibt: dem Besuch einer Höhle in den Bergen. Zweieinhalb Jahre haben 15 Frauen aus Cinquera und ihre Kinder in dieser stockdunklen Felsspalte ausgeharrt, in der sie von der Guerilla versteckt wurden, als es unmöglich geworden war, im Dorf selbst zu überleben. Doch dann wurden sie vom Militär gefunden, und offenbar hat nur ein Kind, nämlich Armando, überlebt. Die Erzählung des heute erwachsenen Mannes und die dazu parallel montierte von Doña Elba über Folter und Tod ihrer Tochter Aida, die sich als ganz junges Mädchen der Guerilla angeschlossen hatte, schnüren uns die Kehle zu, und es dauert eine Weile, das Herz wieder zu weiten für die heutige Realität und die Schönheiten von Cinquera, mit seinem riesigen Nebelwald und dem idyllischen kleinen See.

EL LUGAR MAS PEQUEÑO ist ein Film für die große Leinwand. Er hat inzwischen fast ein Jahr lang das Festivalpublikum in aller Welt berührt und von den Jurys mehr als 30 Auszeichnungen bekommen (z.B. in Leipzig 2011 die „Goldene Taube“). Man kann nur hoffen, dass er nun endlich auch hier einen Verleih findet und möglichst bald mit deutschen Untertiteln in hiesigen Kinos zu sehen ist.

EL LUGAR MÁS PEQUEÑO – THE TINIEST PLACE
Drehbuch und Regie: Tatiana Huezo Sánchez. Mexiko 2011.

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