Am vergangenen Sonntag wurde José Antonio Kast, Kandidat der ultrakonservativen Partei Partido Republicano mit einer deutlichen Mehrheit von Prozent 58,16 Prozent der Stimmen zum neuen Präsidenten Chiles gewählt. Obwohl seine Konkurrentin Jeannette Jara, Mitglied der Kommunistischen Partei und Kandidatin des Linksbündnisses Unidad por Chile, in der ersten Wahlrunde noch knapp vor Kast gelegen hatte, kam sie diesmal nur auf 41,84 Prozent. Warum dieser Ausgang keine Überraschung war, erläutern José Horacio Wood und Claudia Vera von der chilenischen Kinderrechtsorganisation Fundación ANIDE im Gespräch mit Jürgen Schübelin, das unmittelbar vor dem 14. Dezember stattfand. Es vermittelt nicht nur einen authentischen Eindruck vom Wahlkampf, sondern macht zugleich deutlich, in welcher gesellschaftlichen Atmosphäre er geführt wurde. Kast, 59 Jahre alt, katholisch, Jurist und Sohn eines deutschen Wehrmachtleutnants, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Chile auswanderte, gilt als der rechteste Wahlsieger seit dem Ende der Militärdiktatur von Augusto Pinochet vor 35 Jahren. Sein Bruder diente in dieser Zeit als Präsident der Zentralbank und mehrere seiner Geschwister waren wie er Abgeordnete oder Senatoren. Der Rechtsrutsch in Chile ist einerseits Teil eines breiteren Trends in Lateinamerika, andererseits markiert er einen Bruch. Die Ära, in der die politische Mitte das Land regiert, aber nie den herrschenden Neoliberalismus in Frage gestellt hatte, gehört nun der Vergangenheit an. Kasts Botschaft ist klar: Unter seiner Regierung werden Repression und Sozialkürzungen neue Rekorde erreichen. Javier Milei, der ultraliberale Präsident des Nachbarlandes Argentinien, gratulierte Kast zum Sieg und feierte ihn als weiteren Schritt zugunsten der Freiheit und des Privateigentums in Lateinamerika. Auch US-Außenminister Marco Rubio beglückwünschte den künftigen Präsidenten Chiles auf der Plattform X. Im März 2026 wird Kast sein Amt antreten und wie angekündigt die Steuern für die Reichen senken und die Privatisierung des Daseinsfürsorge forcieren. Wie es der Bevölkerung damit ergehen wird, ist leicht zu erraten. Ob daraus Widerstand und Umkehr erwachsen werden, wird sich spätestens in vier Jahren zeigen.
Die Redaktion
Chile vor der bittersten Zäsur seit dem Ende des Pinochet-Regimes: Jürgen Schübelin im Gespräch mit Claudia Vera und José Horacio Wood über die bevorstehende Stichwahl am 14. Dezember um das Präsidentenamt in Chile
Nur noch wenige Tage fehlen. Dann steht Chile vor der tiefgreifendsten politischen Zäsur seit dem Ende des Pinochet-Regimes 1990: Alle Umfragen prophezeien für die Stichwahl um das Präsidentenamt in Chile am Sonntag, 14. Dezember, einen regelrechten Erdrutschsieg des rechtsextremen deutschstämmigen Kandidaten José Antonio Kast (59) über die ehemalige Arbeits- und Sozialministerin der derzeitigen Regierung, Jeannette Jara (51), die von einem breiten Parteienbündnis, das von der Kommunistischen Partei bis zu den Christdemokraten reicht, unterstützt wird. Hinter den Menschen liegen Monate eines seitens der Parteien auf dem rechten Spektrum mit einer so in Chile zuvor nie erlebten verbalen Brutalität und einem Sich-Überbieten bei der Suche nach immer noch radikaleren Positionen geführten Wahlkampfes, der ganz viel Verunsicherung und tiefe Wunden hinterlässt. Wir wollten wissen, wie haben Engagierte aus Organisationen der Zivilgesellschaft diese Zeit erlebt? Welche Herausforderungen sehen sie ihre zukünftige Arbeit? Und welche Perspektive gibt es für das Engagement für Kinder- und Menschenrechte unter völlig veränderten politischen Rahmenbedingungen – mit einer rechtsextremen Regierung als Gegenüber? Unsere Gesprächspartner sind José Horacio Wood und Claudia Vera von der chilenischen Kinderrechtsorganisation Fundación ANIDE in Santiago de Chile.
Vor vier Jahren ist José Antonio Kast, der Kandidat der auch in den chilenischen Medien als offen rechtsextrem bezeichneten Republikanischen Partei Chiles, noch in den Stichwahlen an Gabriel Boric, dem jetzigen Präsidenten und seinem Mitte-Links-Bündnisses, gescheitert. Was war diesmal, in dem jetzt am kommenden Sonntag zu Ende gehenden Wahlkampf anders?
José Horacio Wood: Ich bin davon überzeugt, dass das, was wir gerade in Chile erleben, immer noch mit dem estallido social, den Massenprotesten zwischen dem 18. Oktober 2019 und dem Beginn der Corona-Pandemie im März 2020, zusammenhängt. Damals kämpften Millionen Menschen gegen die unbezahlbar gewordenen Kosten für das Leben im Alltag, viel zu niedrige Löhne, schlechte Bildung und diese wirklich krassen Abgründe zwischen Arm und Reich in unserem Land. Für einen kurzen historischen Moment gab es die Hoffnung, an all dem etwas verändern zu können. Aber nach zwei gescheiterten Versuchen, die autoritäre Verfassung aus der Pinochet-Zeit zu überwinden und damit die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen neu zu definieren, ist es den Parteien aus dem rechten und rechtsextremen Spektrum gelungen, die Frustrationen über all die nicht erfüllten Erwartungen und Hoffnungen in und auf eine Verbesserung – wohlgemerkt: der eigenen, ganz persönlichen Situation – zu kapitalisieren, auf ihre Mühlen zu leiten. Das Narrativ, dass an Allem die staatlichen Institutionen und zu allererst die derzeitige Regierung Schuld habe, zündete und traf auf eine erschöpfte Gesellschaft, in der es heute keinerlei Vertrauen mehr in Exekutive, Legislative, Judikative und am allerwenigsten in traditionelle Parteien und ihre Repräsentanten gibt.
Claudia Vera: Hinzu kommt, dass zum ersten Mal seit Jahren bei einer Wahl für das Präsidentenamt wieder Wahlpflicht herrscht. Das heißt, Menschen, die sich nicht für Politik interessieren und sich auch nicht zivilgesellschaftlich engagieren, die sich nicht über Programme und inhaltliche Positionen von Kandidatinnen und Kandidaten informieren und deshalb besonders leichte Beute von Social Media-Kampagnen mit ihrem unablässigen Trommelfeuer an Fake News werden, fühlen sich vom Staat unter Androhung von Geldstrafen gezwungen, ihre Stimme abzugeben. Aus vielen Untersuchungen wissen wir, dass sie besonders oft rechtsextrem wählen, auf alle Fälle aber populistischen Kandidaten ihre Voten geben, als eine Art Rache an eben diesem Staat und seinen Institutionen. Und, das kennen wir bereits aus den USA oder Argentinien, wer am lautesten brüllt, die vulgärste Sprache benutzt, erhält Aufmerksamkeit und am Ende das Kreuz auf dem Stimmzettel. Verkauft wird das als ‚klar und deutlich sprechen‘, sagen ‚was Sache ist‘, auch, wenn die entsprechenden Behauptungen mit den tatsächlichen Daten und der Faktenlage so gut wie nichts zu tun haben.
Was wird denjenigen, die mit Sorge auf diese Entwicklung blicken, von diesem Wahlkampf in Erinnerung bleiben?
Claudia Vera: Die Erinnerung daran, mit welcher Brutalität da zur besten Sendezeit völlig ungeniert extrem menschenfeindliche Positionen ausgebreitet wurden, etwa die Idee, unsere 830 Kilometer lange Grenze zu Bolivien erneut mit Antipersonen-Minen unpassierbar zu machen, um Menschen, darunter viele Familien mit kleinen Kindern, die auf der Flucht vor Gewalt und Armut in unserem Land Schutz suchen, ein Durchkommen zu verwehren. Oder die Androhung des am weitesten rechtsstehenden Präsidentschaftskandidaten Johannes Kaiser, der in der ersten Runde dieser Wahlen immerhin 14 Prozent holte und jetzt José Antonio Kast unterstützt, Boliviens größte Stadt La Paz anzugreifen, wenn die bolivianische Regierung nichts gegen den Schmuggel von in Chile gestohlenen Autos nach Bolivien unternimmt. Kast selbst möchte die Waffengesetze liberalisieren, um ‚anständigen Bürgern‘ die Möglichkeit zu geben, sich besser gegen Kriminelle zur Wehr zu setzen. Als ob in diesem Land nicht bereits genug Schusswaffen zirkulieren würden! Wohin das führt, sehen wir in den USA, wo der Schusswaffenkult fast 50.000 Todesopfer pro Jahr fordert. Und er verlangt, Täter, die wegen Menschenrechtsverbrechen während der Zeit des Militärregimes verurteilt wurden und jetzt in Sondergefängnissen unter privilegierten Haftbedingungen einsitzen, freizulassen, sobald sie die Altersgrenze von 75 Jahre erreicht haben. Diese Alters-Amnesty, so Forderungen aus seinem Umfeld, soll auch für verurteilte Pädophile gelten. Ein Albtraum, der uns in Sachen Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen und beim Kampf um den Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt um Jahrzehnte zurückwirft!
José Horacio Wood: Was ebenfalls in Erinnerung bleiben wird, ist das Zerrbild, das von Menschen, die in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren auf der Flucht vor dem Terror krimineller Banden, politischer Verfolgung – etwa in Venezuela – und sich zuspitzenden Armuts- und Klimakrisen nach Chile kamen, gezeichnet wird. Menschen, die aus anderen lateinamerikanischen Ländern nach Chile emigrierten, werden pauschal als Kriminelle diffamiert, beschuldigt, für all die Probleme hier bei uns verantwortlich zu sein. Unser wohl zukünftiger Präsident Kast versprach, über 300.000 Personen, die über keine regulären Papiere verfügen, in kürzester Zeit in ihre Herkunftsländer zu deportieren und sie nach dem Vorbild der USA beim Aufsuchen eines staatlichen Gesundheitszentrums oder bei dem Versuch, ihre Kinder in der Schule anzumelden, festnehmen und in Abschiebehaft internieren zu lassen. Besonders gut kam auf seinen Wahlkampfveranstaltungen die Ansage an, die Deportierten für ihre Abschiebung selbst bezahlen zu lassen und ihr Eigentum zu konfiszieren! Dieses Appellieren an die niedrigsten Instinkte und das hemmungslose Nach-Unten-Treten, die Schwächsten in unserer Gesellschaft zu Sündenböcken machen, das wird von diesem Wahlkampf in Erinnerung bleiben und setzt den Ton für die kommenden Jahre. Um zu illustrieren, wovon ich spreche: Bei den Kindern und ihren Familien im von Kindernothilfe Österreich unterstützten Programm Niñas y Niños sin Fronteras, das seit über zwei Jahrzehnten mit Kindern und Jugendlichen aus Einwandererfamilien im Santiagoer Stadtteil Independencia arbeitet und für deren Rechte auf Zugang zu Schulbildung und Gesundheitsversorgung kämpft, löst dieser Diskurs regelrechte Panik aus – und zwar auch bei denen, deren Eltern längst über einen regulären Aufenthaltsstatus verfügen.
Claudia Vera: Es ist extrem bitter, erleben zu müssen, dass hier bewusst Integrationsleistungen und -erfolge zerstört werden! Unter den Mitte-Links-Regierungen von Michelle Bachelet und Gabriel Boric gab es gerade auf diesem Feld wichtige Menschen- und Kinderrechts-Fortschritte: Etwa, dass der Staat Kindern, deren Eltern noch über keinen regulären Aufenthaltsstatus verfügen, durch eine provisorische Personen-Identitätsnummer – genannt RUN – die Möglichkeit zum legalen Schulbesuch und zur Gesundheitsversorgung eröffnete. Das, wie Kast es jetzt ankündigt, in die Tonne zu treten, verstößt klar gegen internationale Konventionen, die Chile ratifiziert hat! Aber es gibt noch einen anderen Aspekt, der mich zutiefst beunruhigt: Dieser Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Partei, José Antonio Kast, dessen Vater Wehrmachtsoffizier und NSDAP-Mitglied war und dessen Familie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Chile emigrierte, spricht in seinen Wahlkampfauftritten, immer, wenn er sich auf Menschen im öffentlichen Dienst bezieht, von ‚Parasiten‘, die entfernt werden müssen. Was für eine Sprache! Und er kündigt an, dass unter seiner Regierung die ohnedies bescheidenen Abfindungsregeln für Arbeitnehmer, die bislang sogar nach jahrzehntelanger Tätigkeit für ein Unternehmen bei Kündigung maximal elf Monatsgehälter als Entschädigung erhalten, geschleift werden sollen. Geplant ist, dass diese Abfindung, die in Chile anstelle einer praktisch nicht vorhandenen Arbeitslosenhilfe bezahlt wird, von den Entlassenen zukünftig selbst aus ihren Rentensparvermögen aufgebracht werden muss.
Warum ist es bei Alledem so gut wie überhaupt nicht gelungen, wichtige Erfolge und Verbesserungen, die es gesellschaftspolitisch, wirtschaftlich, aber auch in Sachen Kinderrechten während der vergangenen Jahre in Chile gab, ins öffentliche Bewusstsein zu rücken?
José Horacio Wood: Dieses Zerrbild, das von der Situation in unserem Land gezeichnet wird, hat ganz viel mit der praktisch totalen Dominanz der kommerziellen Medien, die den mächtigsten Unternehmer- und Finanzgruppen gehören, zu tun. Dass es unter der derzeitigen Regierung von Gabriel Boric – auch als Antwort auf den Druck, der aus der Zivilgesellschaft aufgebaut wurde – gelungen ist, den Mindestlohn deutlich zu erhöhen und nach Jahrzehnten Blockade durch die konservativen und rechten Parteien im Parlament endlich doch eine Reform des Pensionssystems mit deutlichen Verbesserungen für die Versicherten durchzusetzen, dass die Kosten für die Behandlung von Patientinnen und Patienten, die aufgrund eines medizinischen Notfalls in ein Krankenhaus eingeliefert werden müssen, jetzt komplett vom Staat getragen werden – oder ganz wichtig im Zusammenhang mit unserer Arbeit und der von anderen Kinderrechtsorganisationen – dass der Staat jetzt endlich biologische Väter wirksam zwingt, sich finanziell an den Kosten für den Unterhalt und die Erziehung ihrer nur mit den Müttern zusammenlebenden Kinder zu beteiligen, sind eindeutig Fortschritte, die anerkannt werden müssten. Gerade in den Armenvierteln ist der Anteil der Frauen, die bislang allein mit der Verantwortung für das Großziehen ihrer Kinder gelassen wurden, besonders hoch. Aber auch dieses ironisch Ley papito corazón‚ frei übersetzt ‚Papa zeigt Herz‘-Gesetz, läuft Gefahr, unter einer Rechtsaußen-Regierung wieder kassiert zu werden, ebenso wie die Gesetze zur Verbesserung der Situation von Kindern mit Beeinträchtigungen in Schulen und zu Inklusionsanstrengungen.
Claudia Vera: Wir mussten in diesem Wahlkampf erleben, wie dramatische Entwicklungen rund um die Kinderrechte in Chile, etwa der wirklich alarmierende Jahresbericht des chilenischen Kinderrechtsbeauftragten, nach dem über 70 Prozent aller Kinder in diesem Land Opfer von physischer, sexualisierter, psychischer Gewalt oder extremer Vernachlässigung werden und – ein völlig unterschätztes Problem – es allein bei den Fällen von sexuellem Missbrauch von Kindern im Internet, dem sogenannten Cybergrooming, im vergangenen Jahr eine Zunahme von über 45 Prozent gab, praktisch überhaupt nicht thematisiert wurden. Für Organisationen, die sich wie unsere Partner und wir in Chile für Kinderrechte engagieren, ist es so gut wie unmöglich, gegen das unablässige Bombardement von Nachrichten über Eigentumsdelikte, Mord und Totschlag – oder den Diskurs von Kast, dass in Chile längst die Kriminellen das Land regieren würden, durchzudringen. Dabei zeigen die Statistiken, dass Chile von allen Ländern der Region immer noch das sicherste ist, mit der niedrigsten Mordrate auf dem Kontinent. Die Tatsache, dass sich Gewalt gegen Kinder vor allem in den eigenen Familien, in der Schule oder an den Smartphones und Computern abspielt und es dafür strukturelle Ursachen gibt, die dringend bearbeitet werden müssen, war in diesem Wahlkampf kein Thema.
Wie wird es für die Arbeit von ANIDE und anderer Organisationen, die sich Kinder- und Menschenrechte engagieren, nach dem 11. März 2026, dann, wenn die neue Regierung die Amtsgeschäfte übernimmt, weitergehen?
José Horacio Wood: Kast hat angekündigt, das Land nach dem Vorbild seiner beiden großen Idole Trump und Milei mit Notstandsdekreten zur regieren, also das Parlament, in dem es nach den Wahlen vom 16. November keine eindeutige rechte oder rechtsextreme Mehrheit gibt, zu umgehen. Wir stehen in intensivem Dialog mit allen Organisationen, die von Kindernothilfe Österreich unterstützt werden, aber auch mit vielen Kolleginnen und Kollegen aus Netzwerken, in denen wir mitarbeiten. Die Teams vor Ort, aber auch Kolleginnen und Kollegen aus anderen Nicht-Regierungsorganisationen, machen sich keine Illusionen darüber, welche Herausforderungen auf sie zukommen werden, wie schwierig es sein wird, zukünftig mit öffentlichen Institutionen über die gemeinsame Arbeit zu sprechen. Aber viele, vor allem die Älteren, erinnern sich noch an ihre Erfahrungen aus der Pinochet-Zeit, die ja gerade erst 35 Jahre zurückliegt. Es wird darum gehen, sich nicht einschüchtern zu lassen, Zivilcourage zu zeigen und für diejenigen, deren Lebens- und Alltagsbedingungen sich massiv verschlechtern werden, etwa Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte und ihre Familien, weiterhin engagierte und verlässliche Ansprechpartner zu sein. Die Kindernothilfe- und ANIDE-Partnerprojekte haben viel Erfahrung damit, geschützte, alternative Räume anzubieten und offen zu halten, Kinder selbst unter widrigsten Bedingungen dabei zu unterstützen, Selbstbewusstsein zu entwickeln und in eigener Sache zu sprechen.
Claudia Vera: Und die Herausforderungen vor Ort, im Armenviertel, werden ja nicht weniger! Der Alkohol- und Drogenkonsum, der zuletzt vor allem unter der Gruppe der 40 bis 50jähren Frauen, also der Mütter und Großmütter, massiv zugenommen hat, der Dauerstress, unter dem Schulkinder stehen, die Gefahren, die von Apps wie TikTok ausgehen, sind Probleme, denen sich die Teams unserer Partner weiterhin engagiert und professionell stellen werden und angesichts des Gegenwinds, der ihnen von Seiten der zukünftigen Regierung entgegenweht, dafür auch neue Strategien und Arbeitstechniken entwickeln. In allen Projekten wird weiter intensiv mit den gesamten Familien gearbeitet und Konzepte wie das Prinzip des buen trato, des guten, gewaltfreien Umgangs miteinander, das in den vergangenen Jahren so etwas wie der rote Faden unserer Arbeit war, erhalten angesichts dessen, was uns bevorsteht, noch einmal eine ganz anderes Gewicht!
Zu den Interviewten: Der Anthropologe José Horacio Wood arbeitet seit 1995 bei der Fundación ANIDE (Fundación de Beneficiencia de Apoyo a la Niñez Desprotegida), der Kindernothilfe-Österreich-Partner- und Koordinationsstruktur in Chile, und wurde 2001 zum Direktor dieser ökumenischen Stiftung berufen. Seine Kollegin Claudia Vera ist Germanistin und seit 1991 bei ANIDE, bzw. der Vorgänger-Organisation Programa de Menores, als Programm- und Projektkoordinatorin engagiert. Ihr Bruder wurde vom Pinochet-Regime ermordet – und ihre Familie musste das Land verlassen und schaffte es, in der DDR Asyl zu erhalten. Claudia Vera begleitet und betreut seit vielen Jahren auch die Lern- und Freiwilligendienstleistenden des Bündnisses Evangelische Freiwilligendienste und anderer Freiwilligenorganisationen in Chile. Chile war 1969 das erste Land in Lateinamerika, in dem sich die Kindernothilfe engagierte.
Bildquellen: [1-3] Jürgen Schübelin