Ein neues Jahresende rückt näher und damit auch die Zeit der Bilanzen. Das wird hier zwar nicht stattfinden, dennoch möchte dieser Rezensent auf einige sehr erfreuliche Neuigkeiten eingehen, mit denen uns die Musikverlagsbranche beglückt hat, auch nicht zuletzt dank der Musik-Streaming-Dienste. Zum einen handelt es sich um die Veröffentlichung neuer Werke von Musizierenden mit einer langen Laufbahn, die uns nach wie vor mit ihren Aufnahmen begeistern, zum anderen um die Herausgabe von unveröffentlichten Stücken beziehungsweise »neuentdeckten« Aufnahmen, sei es live oder im Studio, von Künstler*nnen, die leider bereits verstorben sind.
Der erste von ihnen ist Enrique Villegas (1913-1986), dessen Neuauflage einiger seiner Alben, die seit Jahrzehnten nicht mehr auf dem Markt waren, vor einiger Zeit hier präsentiert und gefeiert wurde. 2024 überraschte uns mit der Ankündigung der Veröffentlichung von zwei bislang unbekannten Aufnahmen des argentinischen Pianisten. Im ersten Fall, Mono – Arqueología sonora de Enrique Villegas, handelt es sich um den Live-Mitschnitt eines Auftrittes des Pianisten aus dem Jahr 1974, der nämlich in einem Fußballstadion (Vélez Sarfield) in Buenos Aires stattfand.
Dabei trat Villegas‘ als Solist auf – begleitet vom Orquesta Sinfónica Nacional (Argentinien) unter der Leitung des spanisch-katalanischen Maestros Jacques Bodmer (1924-2014). Das Konzert wurde von Paloma Efron (1912-1977), besser bekannt als »Blackie«, veranstaltet und moderiert, welche als eine der ersten Jazzsängerinnen Argentiniens gilt. Es liegt nahe, dass Efron, die mit der Crème de la Crème des nordamerikanischen Jazz verkehrte, sich von den Konzerten inspirieren ließ, die nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts der Massenverbreitung des Publikums selbst in American-Football-Stadien wie dem Hollywood Bowl in Los Angeles veranstaltet wurden – bei denen u. a. Pianisten wie Arthur Rubinstein und der Geiger Yehudi Menuhin vor großem Publikum auftraten. Auch wenn die Zuspitzung des Trends zu Woodstock geführt hatte, ist es doch auch heute noch schwer vorstellbar, dass sich 20.000 Menschen zu einem Konzert für Klavier und Orchester versammeln, in diesem Fall zu George Gershwins „Rhapsody in Blue“ im Argentinien der 1970er Jahre.
Neben der Rhapsody in Blue enthält das Album drei Bonustracks, Standards, die Villegas 1955 zusammen mit dem Saxophonisten Jorge »Bebe« Eguía, im Haus des Pianisten aufnehmen ließ: Gershwins „Liza”, „It’s the Talk of the Town” (Jerry Livingston/Al J. Neiburg/Marty Symes) und „Blue Orchids“ (Hoagy Carmichael). Diese waren ebenfalls als Bonustracks des bereits 2021 veröffentlichten Albums Entre amigos, das die Aufzeichnung eines Auftritts von Villegas für seinen engen Freundeskreis enthält, erschienen. Arqueología sonora wurde parallel zum Buch „Mono – buscando a Enrique Villegas“ veröffentlicht, einem vom Journalisten Claudio Parisi konzipierten Band, der Anekdoten von Menschen, die diesen außergewöhnlich talentierten Pianisten gut kannten, und Artikel aus der damaligen Presse versammelt.
Zufälligerweise wurde im Laufe desselben Jahres ein weiteres Album mit diesem Werk von Gershwin veröffentlicht, auch mit Villegas als Solist: Teatro Colón 1971. Gershwin – Rhapsody in blue. Diesmal handelt es sich um einen Live-Mitschnitt, der 1971 im Teatro Colón in Buenos Aires mit dem Orquesta Filarmónica von Buenos Aires unter der Leitung des Maestro Pedro Ignacio Calderón (1933*) entstanden ist.
Abgesehen von den Unterschieden im Klang und den unvermeidlichen Hustenanfällen aus dem Publikum (man muss bedenken, dass es sich um überarbeitete Aufnahmen handelt, die jedoch nicht unbedingt für eine Veröffentlichung aufgenommen worden waren) zeigt der Vergleich beider Mitschnitte die Natürlichkeit des Pianisten, mit der er das Werk zwei sehr unterschiedlichen Publikumsgruppen näherbringt und vermittelt. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Villegas, ähnlich wie sein Kollege Arthur Rubinstein, in der Lage war, mit derselben Selbstverständlichkeit im Wohnzimmer seines Hauses, in einer Kneipe, einem Gymnasium in einer Provinzstadt, einem Fußballstadion oder in einer der bedeutendsten Opernhäuser Südamerikas aufzutreten. Villegas konnte ebenfalls vierhändiges Klavier mit Duke Ellington spielen und das Klavierkonzert G-Dur von Ravel mit einem Philharmonie Orchester (ein Werk, das er 1932 in Argentinien uraufführte) vortragen, über die Valses nobles et sentimentales ebenfalls von Ravel oder die Präludien von Frédéric Chopin in Jazz improvisieren (und damit anderen Kollegen wie seinem Freund Friedrich Gulda voraus sein). Villegas‘ umfangreiche Diskographie beweist, dass er mit Selbstverständlichkeit Jazz, Tango, Volks-, klassische und sogar progressive Musik spielen konnte. Die Veröffentlichung der Alben Mono – Arqueología sonora de Enrique Villegas und Gershwin – Rhapsody in blue. Teatro Colón 1971 macht erstmals Aufnahmen des Repertoires für Klavier und Orchester von Villegas zugänglich und stellt damit Stoff zu einem Teil seines Repertoires zur Verfügung, von dem es bisher keine (veröffentlichten) Aufnahmen gab.
In derselben Dokumentarserie des argentinischen Teatro Colón, die Teil der Heritage Collection Live (HCL) ist, einem Projekt zur Erhaltung, Restaurierung und Verbreitung des Klangarchivs des Theaters, wurde kürzlich auch Astor Piazzollas Astor Piazzolla Conjunto 9. Teatro Colón 1983 (2025) veröffentlicht. Es handelt sich um die Aufzeichnung eines Konzerts des Piazzollas Nonett, das im Juni 1983 in Begleitung des bereits erwähnten Orquesta Filarmónica von Buenos Aires und der Leitung Calderóns gegeben wurde.
Der Live-Mitschnitt, welcher bereits 1997 veröffentlicht worden war, kann nun in restaurierter Form genossen werden. Die Darbietung beginnt mit vier Klassikern aus Piazzollas Repertoire, aufgeführt vom Komponisten am Bandoneon und dessen Ensemble („Buenos Aires Hora Cero”, „Vardarito”, „Fuga y misterio” und „Verano porteño”). Diesen Stücken folgt das „Concierto de Nácar para 9 tanguistas y orquesta”, welches Piazzolla für neun Solisten und Orchester konzipiert hatte, und das „Concierto para Bandoneón”. Das Event endete eigentlich mit einer außergewöhnlichen Version von „Adiós Nonino”, die mit einem Bandoneon-Solo beginnt, zu dem sich das restliche Nonett und schließlich das gesamte Orchester gesellen. Nach dem tosenden Applaus wird das Stück erneut als Zugabe gespielt – jedoch nicht Da capo, sondern diesmal beginnend mit dem Nonett-Tutti. Zudem sind zwei luxuriöse Bonustracks enthalten, und zwar Aufnahmen aus der letzten Probe vor dem Konzert. Diese ermöglichen es, die feine Arbeit des Nonetts und die Anweisungen Piazzollas bei „Vardarito” und „Verano Porteño” zu erlauschen.
Die Publikation der genannten Live-Aufschnitte von Enrique Villegas und Astor Piazzolla im Teatro Colón ergänzt den Katalog der HCL, in dem u. a. auch Live-Aufschnitte eines Klavierabends Martha Argerichs 1965, des Auftritts von Horacio Salgán und seinem Tango-Orchester (1972) (samt Roberto Goyeneche und Edmundo Rivero als Solisten) und Aníbal Troilos und seinem Sexteto Tango (1972) und der ebenfalls von Astor Piazzolla und Conjunto 9 dargebotenen Vorstellung (1972) zu finden sind. Also durchaus unschätzbare Dokumente, die somit vor dem Vergessen bewahrt wurden.
Weitere unveröffentlichte Aufnahmen, die ans Licht kamen, sind die des Pianisten und Komponisten Manolo Juárez (1937-2020): Grabaciones encontradas 1 und Grabaciones encontradas 2. Wie der Name schon verrät, handelt es sich im ersten Fall, Grabaciones encontradas 1 (2025), um eine Reihe von Tonbändern, die Juárez vor Jahrzehnten bei einem Umzug weggeworfen hatte und die seine damals noch jugendliche Tochter instinktiv aus dem Müll wieder herausfischte. Die Überarbeitung der Bänder, die kurz vor Juárez‘ Tod durchgeführt wurde und nun der Öffentlichkeit zugänglich sind, umfasst Material, das sich aus der Besichtigung verschiedener Aufnahmestudios in New York zwecks eines künftigen Solo-Piano-Projekts, ergab.
Die damit nun konzipierte Platte vereint vier Solo-Piano-Stücke, die Juárez zuvor in verschiedenen Formaten aufgenommen und aufgelegt hatte, von denen drei aus seiner Feder stammen. Beispielsweise handelt es sich bei „Pablo y Alejandro” um eine Ballade, die auch auf seinem Album Tiempo reflejado (1977) erschien, jedoch mit Orchesterarrangements von José Carli und Synthesizer (!). „Presencia del Diablo“ ist eine Art Suite, die zuerst in einer Version für zwei Klaviere auf dem 1983 zusammen mit Lito Vitale publizierten Album A dos pianos – en vivo und danach auch in einer Quartettversion zusammen mit Sergio Liszewski an der Gitarre, Miguel Crosignani am Synthesizer und dem bereits erwähnten Lito Vitale am Bass und Synthesizer im Album Grupo de familia (1997) erschien. Die Ballade „Mora“, die der Komponist für seine Tochter schrieb – dieselbe, die die Bänder rettete –, ist auch im Album Manolo Juárez – Daniel Homer Cuarteto (2008) jedoch in einer Version mit Quena, Sopransaxofon, klassischer Gitarre und Bass zu hören. Eine weitere Interpretation, ebenfalls für piano solo, findet sich auf dem bereits erwähnten Album Grupo de familia. Schließlich enthält das Album „Horizonte Cero“, ein Stück im Malambo-Stil, das aus der Feder seines Kollegen Daniel Homer stammt und man auch in einer Quartettversion im bereits erwähnten Album Manolo Juárez – Daniel Homer Cuarteto finden kann.
Auch das Material des Grabaciones encontradas 2 stammt von wiederentdeckten und überarbeiteten Tonbändern. Dabei handelt es sich um Aufnahmen, die 2002 im Aufnahmestudio des bereits erwähnten Kollegen Vitale entstanden sind. Die nun veröffentlichte Platte besteht aus fünf Werken, die vom Manolo Juárez Quintett eingespielt wurden. Begleitet wird Juárez‘ Klavier von Arturo Ritrovato (E-Bass), Leonardo Bernstein (Klavier, Keyboards), Sergio Liszewski (spanische Gitarre) und Luis Alberto Cerávolo – dem Schlagzeuger, der unter anderem Mitglied des Octeto Piazzolla war, welches das legendäre Album Olympia 77 während eines Konzerts in la ville lumière aufnahm.
Mit Ausnahme des ersten Stücks des Albums, „Al pie de la cordillera“ (Oscar Alem), wurden die Titel zuvor von Juárez im Laufe seiner Karriere begleitet mit anderen Besetzungen beziehungsweise solo piano aufgenommen. Dies gilt beispielsweise für „Cueca para Daniel Homer” (Juárez), das zusammen mit dem Geehrten aufgeführt und zuvor im Album Manolo Juárez – Daniel Homer Cuarteto erschien. Die jetzt verfügbare Version ähnelt der von 2008, zumindest was die Instrumentation betrifft, obwohl die Anwesenheit anderer Musiker nicht nur in den improvisierten Parts, sondern natürlich auch in der persönlichen Prägung der einzelnen Musiker zu vernehmen ist. „La humilde“ (Julián A. Díaz) ist eine Chacarera, die ebenfalls Teil des Albums Grupo de familia ist. Die dort eingesetzte spanische Gitarre, Bombo-Legüero und Percussion machen dem Synthesizer, dem E-Bass und dem Schlagzeug Platz.
Die Zamba „La nochera“ (Ernesto Cabeza/Jaime Dávalos) nahm Juárez bereits auf seinem Album Trío Juárez (1970) auf, dem Debütalbum des Pianisten – welches heute aufgrund der Kühnheit und Originalität der Instrumentierung und Arrangements als Meilenstein der »Neuen Folklore« gilt, und damals wie auch bei anderen innovativen Musikern wie Astor Piazzolla und Horacio Salgán, gleichzeitig Ablehnung seitens der »Purist*innen« hervorrief. Die gut 30 Jahre später aufgenommene Quintettversion ist zwar klanglich »sauberer« wohl aufgrund der aktuelleren Technologie und der eingesetzten verstärkten Musikinstrumente. Diese stellt jedoch eine vom Quintett exquisit dargebotene Ballade dar, die den „warmen“ Charakter des Stückes bewahrt. „Tarde de invierno“ ist ein Titel, den Juárez ursprünglich für Klavier schrieb und zuvor auf Solo-Klavieralben wie Tarde de invierno (1982) und Teatro Colón (2003) aufnehmen ließ. In der nun veröffentlichten Fassung kommt zunächst die Gitarre hinzu und dann der Einsatz der übrigen Instrumente, woraus sich eine sehr innovative Version ergibt. Als Bonustracks werden zwei Solo-Piano-Zambas aus dem argentinischen Volksrepertoire angeboten: „Juan Panadero” (Gustavo Leguizamón/Manuel Castilla) und „La última palabra” (Ariel Ramírez). Letzteres, ein Werk, das Juárez zusammen mit dem Trio aus „Chango“ Farías Gómez (Schlagzeug), Oscar Taberniso (Gitarre) und Juan Dalera (Quena) für das Album De aquí en más (1975) aufgenommen hatte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese beiden nun veröffentlichten und aus der Vergessenheit geretteten Alben sowohl die Originalität von Manolo Juárez als Komponist, Arrangeur und Interpret – am Solo-Klavier und begleitet von seinem letzten Quintett – unter Beweis stellen. Die gefundenen Aufnahmen vervollständigen somit ein umfangreiches Werk, das zahlreiche Alben im Bereich der argentinischen Volksmusik umfasst: Solo-Klavier (Tarde de invierno, 1982; Solo piano y algo más, 1984; El que nunca se va, 1988; Teatro Colón, 2003; Incidental, 2007), Duo (A dos pianos, 1983, Grupo de famlia, 1997) Trio (Trío Juárez, 1970; De aquí en más, 1975), Quartett (Manolo Juárez/Daniel Homer Cuarteto, 2008; Cuarteto, 2012) und Quintett (Trío Juárez +2, 1971), Kammer- (Obras de cámara, 2020; Obras para Flauta, 2020) und symphonische Musik (Obras Sinfónicas, 2020), sowie Filmusik (Incidental, 2007, mit der Originalmusik für Rolo Pereyras Doku-Thriller Nazi-Gold in Argentinien). Manolo Juárez‘ Œuvre, das größtenteils auf digitalen Musikplattformen verfügbar ist, stellt einen enormen Beitrag zur Klavierliteratur im Besonderen, aber auch zur Musik im Allgemeinen dar, denn es besteht aus Werken, die aus dem Herzen kommen und als solche dazu bestimmt sind, die erstarrten stilistischen Grenzen zu überwinden.
Als ob die „Entdeckung“ der oben kurz präsentierten Aufnahmen noch nicht genug wäre, wurden kürzlich auch neu aufgenommene Alben aufgelegt. Zum einen möchten wir hier drei Alben der Pianistin, Komponistin und Musikpädagogin Hilda Herrera (1933*) besprechen. Das erste davon ist Y así nomás es (2024), welches aus 15 Stücken für Klaviersolo, die von Herrera gemeinsam mit ihrem jüngeren Kollegen Sebastián Gangi vierhändig gespielt wurden, besteht. Das von Herrera arrangierte und von beiden Pianist*nnen exquisit eingespielte Repertoire umfasst insbesondere Zambas („Zamba del Chaguanco”, „Zamba de Lozano”, „Zamba azul”, „De Simoca”, „Juntito al fogón”) und Chacareras („Chacarera del Santiagueno”, „Chacarera en espiral”, „La huesuda”, „Córdoba norte”), aber auch Gatos („Capitán de los Andes”), Chamamés („Alma guaraní”), Tonadas cuyanas („De Tinajas”) und Valses criollos („Temblando”), sowie Tango (“Pampero”) und Milonga (“Milonga triste”). Das bietet insgesamt einen privilegierten Überblick über das breite Spektrum der argentinischen Populärmusik, die mit Kompositionen von Atahualpa Yupanqui (1908-1992), Gustavo »Cuchi« Leguizamón (1917-2000), Adolfo Ábalos (1914-2008), Sebastián Piana (1903-1994) und Osvaldo Fresedo (1897-1984) zum Vorschein kommt. Ebenfalls enthalten sind Herreras Werke, die bereits in früheren Alben der Pianistin in einer Solo-Klavier-Fassung zu finden sind, wie beispielsweise „Zamba del Chaguanco”, „De Tinajas” und „La huesuda” (alle enthalten im Album Señales luminosas, 1997). Mit Ausnahme dieser drei Stücke und der „Zamba del Chaguanco“ präsentiert diese Neuerscheinung den Musikliebhaber*innen auch Arrangements von Werken, die zuvor noch nicht von Herrera aufgenommen worden waren.
Ebenfalls 2024 erschien La iluminada – Folklore argentino en piano, ein Album, dass Hilda Herrera 2023 anlässlich ihres 90. Geburtstages (!) aufnahm. La iluminada enthält fünf unveröffentlichte Kompositionen der Pianistin, darunter ihre erste, mit erst 17 Jahren geschriebene Zamba „El llanto del Crespín”, und „A Don Argentino”, eine weitere Zamba, die die Komponistin ihrem Vater widmete und auf einem Gedicht ihres Bruders Nelson »Kiko« Herrera basiert. Hilda Herreras Feder findet sich auch im Tango „Vieja trampa“ wieder, einem Genre, das auf ihren Alben stets präsent ist und dem sie sogar ein ganzes Album gewidmet hat – wie im Fall von Gardel en piano (2010), dem Album mit Werken des weltberühmten Sängers. Weitere Eigenkompositionen auf dem Album sind die wunderbare Cueca „A Mendoza” und „Vidala para llanto y piano”. Neben diesen Originalwerken macht La iluminada dem Publikum erstmals eine Vielzahl von Stücken aus dem argentinischen Volksrepertoire zugänglich, die zuvor noch nicht von Herrera auf Platten festgehalten worden waren, darunter „La humpa” (Yupanqui), „Córdoba norte” (Yupanqui/Del Cerro) und „Vidala para piano y llanto” (Herrera/Yupanqui), die das Yupanqui- Repertoire ergänzen. Yupanquis Werk hatte sie ihr das gesamte Album Yupanqui en piano (2000) gewidmet, auf dem Originalarrangements zu finden sind. Letzteres, aus der Zusammenarbeit mit Yupanqui entstandene Stück, ist dem Pianisten Edgar „Tucho“ Spinassi (1926-1983) zum Gedenken geschrieben, mit dessen Komposition, „La Casiana“, das Album eröffnet.
Der vorherrschende Stil ist hier die Zamba, ein argentinischer Volkstanz, in dem sich die Pianistin wie ein Fisch im Wasser bewegt und mit dem sie u. a. uralte Leidenschaften zum Leben erweckt. Dieses Album zeugt also nicht nur von der Originalität der Kompositionen und Klavierarrangements, sondern auch von der Natürlichkeit, mit der Herrera Musik zum Ausdruck bringt – eine Eigenschaft, die bei vielen ihrer Kollegen leider nicht immer zu finden ist, die eher damit (allzu sehr) beschäftigt zu sein scheinen, die Klaviertastatur in hoher Geschwindigkeit zu schlagen, um somit sich gegenüber ihren Kollegen zu behaupten und das Publikum zu beeindrucken. La iluminada vereint eine durchaus exquisite Auswahl sehr persönlicher Werke, deren organische Interpretation eine 90-jährige Pianistin in ihrer ganzen Lebenskraft zeigt.
Kürzlich wurde auch Romance de aquella porteña veröffentlicht, ein Werk, das vor mehr als 50 Jahren aus der Zusammenarbeit Hilda Herreras und der Autorin Margarita Durán (1919-2004) entstand und das bis dahin noch nicht aufgenommen worden war. Die nun stattgefundene Verwirklichung dieses alten Vorhabens – ebenfalls eine Rettung – wurde durch ein Ensemble ermöglicht, bestehend aus Edith Rossetti (Gesang), Gabriel Quiña (Klavier), Santiago Martínez (Violine) und Matías Wilson (Bandoneon), das Hilda Herrera einlud, um die Texten Duráns Leben vorzulesen. Eine Live-Aufführung des Werks im Jahr 2022 legte den Grundstein für die Aufnahme, die nun glücklicherweise der Öffentlichkeit zur Verfügung steht.
Die Platte besteht aus acht Stücken und acht rezitierten Texten, die das Schicksal anonymen Frauen erzählen, welche den Grundstein für Argentinien gelegt haben – und bislang aus der offiziellen Geschichtsschreibung ausgeschlossen wurden. In diesem Werk in Form einer Kantate wechseln sich die von Herrera vorgetragenen Texte mit Musik des Trios (Klavier, Violine, Bandoneon) und Gesang – Kammermusik, in der die Komponistin verschiedene Rhythmen (Estilo, Triste, Triunfo, Milonga Pampeana, Walzer, Candombe, Milonga und Tango) verwendet, die sich meisterhaft anpassen und die von Durán beschriebene Atmosphäre wiedergeben: Alltagsgeschichten von unbekannten Frauen, die zu Arbeit und Unsichtbarkeit verdammt waren. Die interpretatorischen Leistungen von Rossetti, Quiña, Martínez und Wilson werden dem mutigen Werk von Herrera und Durán durchaus gerecht und überzeugen uns davon, dass es sich gelohnt hat, ein halbes Jahrhundert darauf zu warten, um die Kantate hören zu können – von nun an immer und immer wieder. Wer das Œuvre Herreras noch nicht kennt, hat nun die Möglichkeit, drei neu ausgelegten Alben einer Pianistin, Arrangeurin und Komponistin zu genießen, die sich glücklicherweise immer noch ganz in den Dienst der Musik stellt.
Der bereits erwähnte Pianist Sebastián Gangi und die Sängerin Manuela Argüello gaben 2024 das Album Tierra, savia y sombra – Hilda Herrera inédita heraus. Die Platte des Duos umfasst ein Repertoire Hilda Herreras, das sowohl Bekanntes aus der Feder der Komponistin als auch bislang unveröffentlichte Stücke, umfasst. Mit Ausnahme von „La diablera“ und „Al calor de la tierra“, die bereits im Album Al calor de la tierra (1978) enthalten sind und dort von der Pianistin auch gesungen wurden, werden in Tierra, savia y sombra erstmals Werke von Herrera veröffentlicht, die zuvor in einer Fassung für Klavier solo erschienen waren. Dies ist der Fall bei der Chacarera „La huesuda” und der „Zamba del Chaguanco” (beide aufgenommen in Señales luminosas und dem neuen erschienen Y así nomás es), „La obrajera” und „Volvé ciudad” (Instrumental in La diablera), der Tango „Señales luminosas” (mit einem Text von Margarita Durán, in Señales luminosas) und die Zamba „A don Argentino” (ebenfalls in dem kürzlich erschienenen Album La iluminada). Das oben erwähnte Stück „Vidala para piano y llanto”, welches bereits im Album Y así nomás es erschien, stellt einen besonderen Fall dar, da man nun auch den wunderbaren Text Yupanquis hören darf. Die Platte enthält auch Unbekanntes, wie den Tango „Ella de madrugada“ (mit Text von „Kiko“ Herrera) und „Responso blanco“ (Text von Alberto Benassi), sowie „Y lo acuna el aire“ (Text von Osvaldo Gallone) – einen weiteren Tango, dessen Arrangements an den besten Horacio Salgán (1916-2016) erinnert.
Der Wert dieses Albums beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Enthüllung von Neuheiten. Vielmehr ist es bemerkenswert, wie viel Herzblut das Argüello-Gangi Duo in die zwölf ausgewählten Werke gesteckt hat. Sowohl Argüellos Ausdruck als auch Gangis Phrasierung zeugen vom Engagement und Einfühlungsvermögen dieser Musiker für Herreras Werk. Das Album leistet einen sehr wertvollen Beitrag zum Repertoire der populären Musik für Klavier und Gesang, das sowohl urbane Genres wie den Tango als auch die vielfältigen folkloristischen Stile argentinischen Hinterlands wiederspiegeln.
Das Jahr 2025 bescherte uns zudem die freudige Überraschung, Zugang zu einem neuen Studioalbum des großen Bandoneonisten Dino Saluzzi (1935*) im Alter von 90 Jahren zu erhalten. Im Gegensatz zu Albores (2020), seinem vorigen außergewöhnlichen Soloalbum für Bandoneon, wird Saluzzi nun im neuen El viejo caminante von Jacob Young (akustische Stahlsaitengitarre, E-Gitarre) und José María Saluzzi (klassische Gitarre) begleitet. Letzterer wirkte bereits an anderen Aufnahmen Dino Saluzzis wie Responsorium (2003) und Cité de la musique (1997).
El viejo caminante besteht aus einem Dutzend Titeln, zu denen auch neue Stücke des Bandoneonisten gehören, wie der Tango „Buenos Aires 1950” und „El viejo caminante”, eine wunderschöne Ballade, die nur mit Bandoneon interpretiert wird, sowie „Mi hijo y yo”, eine Milonga, die aus der Zusammenarbeit zwischen Saluzzi Senior und Saluzzi Junior entstanden ist. Andere Stücke sind in Saluzzis Diskografie vertreten. So wurde der Titel „Tiempos de ausencias”, der das Album abschließt, bereits 1987 auf Volver, dem Album des Dino Saluzzi Quintetts und des italienischen Trompeters Enrico Rava, aufgenommen. Andere Versionen des Stücks „Y amó a su hermano“ erschienen auf Pas de trois (1989), der zusammen mit dem Saxophonisten Charlie Mariano und dem Pianisten Wolfgang Dauner publizierten Platte, und auf Ríos (1995), dem Projekt Saluzzis zusammen mit dem Kontrabassisten Anthony Cox und dem Vibraphonisten David Friedman.
Auf El viejo caminante steuert der Norweger Jacob Young wiederum Kompositionen wie „Quiet March“, „Dino Is Here“ und „Old House“ bei, in denen das ausdrucksvolle Bandoneon die Echos eines alten Hauses heraufbeschwört, in das dann nacheinander die Gitarristen eintreten. Dieses Album enthält auch eine weitere Komposition von José María Saluzzi, „La ciudad de los Aires Buenos” – welche das Album eröffnet und in derer ersten Takten sich der Balg des Bandoneons öffnet, als würde die Sonne aufgehen –, sowie von der norwegischen Sängerin Karin Krog, „Northern Sun”, zuvor aufgenommen auf Where Flamingos Fly (2002), dem Album von Young und Krog.
Als ob das noch nicht genug wäre, umfasst das Repertoire auch zwei Klassiker: zum einen „Someday My Prince Will Come” (Larry Morey/Frank Churchill) aus Walt Disneys Film Schneewittchen und die sieben Zwerge. Zum anderen „My One and Only Love” (Ruy Good/Robert Mellin), das 30 Jahre zuvor auf dem bereits erwähnten Album Ríos aufgenommen worden war. In beiden Fällen ist es ein großes Vergnügen, Saluzzis Improvisationen zu diesen Jazz-Standards zu hören, die zu keinem Zeitpunkt in den Selbstzweck bloßer technischer Virtuosität abgleiten. Insgesamt ist El viejo caminante ein organisches Album, auf dem sich die unverwechselbare Ausdrucksweise von Saluzzis Bandoneon wunderbar mit den gewundenen Gitarren verbindet.
Schließlich hinterließ uns das Jahr 2025 ein neues Album der Sängerin Liliana Herrero (1948*), Fuera de lugar. Es handelt sich um das fünfzehnte Album einer makellosen Laufbahn, die mit der Platte Liliana Herrero (1987) begann, ihrem vom Songwriter „Fito“ Páez produzierten Debütalbum, das aufgrund seines gewagten ästhetisch-musikalisch mutigen Konzepts (Synthesizer, E-Gitarren usw.) von den Puristen der argentinischen Folklore heftig kritisiert wurde. Trotzdem blieb die Künstlerin ihren Überzeugungen treu und schuf mittlerweile ein sehr einflussreiches musikalisches Vermächtnis, in dem sie sich auf sehr eigenständige Weise mit dem Repertoire der südamerikanischen Volksmusik auseinandersetzt. Dieses Repertoire umfasst nicht nur das traditionelle Liedgut der Region, sondern auch den argentinischen Rock.
Fuera de lugar (etwa „fehl am Platz“) besteht aus einem Repertoire von zehn Titeln, die eine sorgfältige und persönliche Auswahl des Materials offenbaren. Dies wird bereits durch das erste Stück, „Poema/El Sanjuanino”, deutlich, in dem Herreros Stimme nur von einem Klavier begleitet wird, ebenso wie durch den abschließenden Titel, „Horacio”, eine Vertonung von kurzen Zitaten ihres kürzlich verstorbenen Ehemanns, des Soziologen Horacio González, untermalt von einer Improvisation auf Klavier und Kontrabass.
Auf diesem Album Herreros, welche sich durch eine sehr charakteristische Artikulation auszeichnet, wird die Sängerin (und Philosophin) von Ariel Naón (Kontrabass) und Pedro Rossi (Gitarre und Gesang) unterstützt. Zudem sind hochkarätige Gäste wie Liliana Borda (Gesang), Mariano Agustoni (Klavier), Facundo Guevara (Percussion) und Susy Shock (Rezitation) vertreten. Es überrascht nicht, dass diese Konstellation zu einem so originellen musikalischen Ergebnis geführt hat – was sich sowohl bei den relativ neuen Titeln zeigt als auch bei denen, die die persönliche Handschrift ihrer jeweiligen Autor*innen tragen und seit langem zum Volksliedgut gehören. Ein Beispiel dafür ist die exquisite Version von Atahualpa Yupanquis „El alazán”, aber auch andere kürzlich veröffentlichte Werke wie die zwei Titel der talentierten uruguayischen Musikerin Luciana Mocchi, „Compostaje” (Single aus dem Jahr 2024) und „Ejercicio” (2017 auf dem Album Mañana será otro disco erschienen); sowie „Martín”, welcher der argentinische Gitarrist, Sänger und Komponist Edgardo Cardozo auf seinem Album Las canciones del muerto (2018) veröffentlichte.
Das Album enthält auch Werke von gleichaltrigen Künstler*innen, wie beispielsweise „Aguafuerte” (Teresa Parodi/ Elvio Romero), das ursprünglich auf Parodis (1947*) Album Todo lo que tengo, in dem Liliana Herrero zusammen mit der Autorin im Duett singt; und „Por seguir”, geschrieben vom Gitarristen und Komponisten Raúl Carnota (1947-2014) und veröffentlicht auf seinem Album Espejos I (2005). Besondere Erwähnung verdienen Luis A. Spinettas (1950-2012) Titel „Asilo en tu corazón” und Charly Garcías (1951*) „Chipi chipi”, Songs aus dem Repertoire des argentinischen Songwriter Szene, die eine ganze Generation prägten und hier, meisterhaft arrangiert und vorgetragen, mit überwältigender Frische und Originalität wieder erscheinen. Insgesamt ist Fuera de lugar ein exquisites ästhetisch-musikalisches Werk, der ideale Rahmen, um das ganze Talent dieser wunderbaren Künstlerin frei entfalten zu lassen.
Möge das kommende Jahr 2026 uns nur halb so viele (musikalische) Wunder bescheren wie das ausklingende (zerstörende, durchaus menschenverachtende) Jahr 2025.
Enrique Villegas
Mono – Arqueología sonora de Enrique Villegas. RGS Music, 2024
Gershwin – Rhapsody in blue. Lantower Records, 2024
Astor Piazzolla – Conjunto 9
Teatro Colón 1983. Lantower Records, 2025
Manolo Juárez
Grabaciones encontradas 1 / Grabaciones encontradas 2. Manolojuarez.com, 2025
Hilda Herrera/ Sebastián Gangi
Y así nomás es. Los años luz discos, 2024
Hilda Herrera
La iluminada – Folklore argentino en piano. Alborada éditions, 2024
Rossetti/ Martínez/ Wilson/ Quiña feat. Herrera
Hilda Herrera – Margarita Durán: Romance de aquella porteña. Bandcamp, 2025
Sebastián Gangi/ Manuela Argüello
Tierra, savia y sombra – Hilda Herrera inédita. Los años luz discos, 2024
Dino Saluzzi/ Jacob Young/ José María Saluzzi
El viejo caminante. ECM Records, 2025
Liliana Herrero
Fuera de lugar. Elefante en la habitación, 2025
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