Honduras – ein zweites Rätsel?
Der Vergleich der Homizidraten der drei Länder des „nördlichen Dreiecks“ (Tabelle 2) als Hauptindikator der Gewaltwirklichkeit nach dem Krieg zeigt unterschiedliche Dynamiken: Honduras, das im Unterschied zu seinen beiden Nachbarn von direkten Kriegshandlungen während des Zentralamerika-Konflikts (1979-1990) verschont geblieben war, startet mit dem sehr niedrigen Wert von 10 im Jahr 1990, erreicht 1997 mit 52,6 seinen ersten Gipfelpunkt und nach einen kurzen Tal (39 im Jahr 1999) einen zweiten (56 im Jahr 2002), um dann 2004 mit 32 eine zweite Talsohle zu durchschreiten. Danach erfolgt ein kontinuierlicher Anstieg bis zum Höchstwert von 92 im Jahr 2011. (214)
Guatemala weist 1996, dem Jahr der Unterzeichnung des Friedensvertrages zwischen Guerilla (URNG) und Regierung (Präsident A. Arzú), einen Wert von 40 auf und kommt bis 2012 nicht über einen Wert von 46 (2008 und 2009) hinaus. Der niedrigste Wert liegt bei 26 (1999 und 2000). (220)
Tabelle 2: Vergleich der Homizidraten des „nördlichen Dreiecks“ nach dem Krieg
Land |
Ausgangs-wert |
1996 |
2000 |
2004 |
2008 |
2012 |
2012a |
niedrigster Wert |
höchster Wert |
Honduras |
10 (1990) |
41,2 |
51 |
32 |
61 |
85,5 |
90,4 |
10 (1990) |
92 (2011) |
El Salvador |
165,2 (1994) |
117,3 |
60 |
65 |
52 |
68,5 |
41,2 |
36,2 (1999) |
165,2 (1994) |
Guatemala |
40 (1996) |
40 |
26 |
36 |
46 |
42 |
39,9 |
26 (1999; 2000) |
46 (2008; 2009) |
Quellen: Gewalt im Frieden, S. 214, 217, 220. Der Ausgangswert bezieht sich auf das erste erfasste Friedensjahr. 2012a sind die Länderwerte des Jahres 2012 aus: UNODC 2013, S. 126.
El Salvador startet 1994, dem „Superwahljahr“ nach Abschluss des Friedensvertrages 1992, mit dem – auch im regionalen Vergleich – absoluten Höchstwert von 165,2. Bis 1999 fällt die Kurve auf ein Tief von 36,2, um danach zwischen den Werten 47 (2002) und 71 (2009) zu pendeln. (217)
Von seinen beiden Nachbarn El Salvador und Guatemala unterscheidet sich Honduras also durch folgende Merkmale: Erstens weist es die größte Steigerung auf (von 10 auf 92), die zweitens in einem Land ohne Krieg erfolgt und drittens in dauerhaften „Weltrekorden“ der Gewaltkriminalität gipfelt. Sieht man von den salvadorianischen Raten der Jahre 1994 bis 1996 ab, die durchaus als Nachwehen des Bürgerkrieges interpretiert werden können und später nicht einmal annährungsweise erreicht wurden, dann ist der Kontrast zwischen Honduras einerseits sowie Guatemala und El Salvador andererseits noch offensichtlicher. Damit verweist der honduranische Fall auf ein Problemfeld, das im Modell von H. Zinecker bewusst ausgespart wird, vom Rezensenten aber als ein zentraler Faktor der Erklärung von Gewaltkriminalität gesehen wird – die Drogenökonomie.
Die Drogenökonomie als Gewaltvariable – Argumente kontra …
Unter der Überschrift „Drogenhandel“ (121-125) polemisiert die Autorin – zu Recht – gegen eine „bemerkenswert vereinfachte ‚Erklärungskette‘ für Gewalt“, an deren „Anfang … der Drogenhandel gestellt (wird)“ (121). Gegen diese Vereinfachung führt sie im Einzelnen folgende Argumente an:
- Drogenhandel ist nicht mit Gewalt gleichzusetzen;
- der Stellenwert von Drogenhandel für die Erklärung von Gewalt ist nicht messbar;
- die Drogenhändler sind in der Regel nicht die Gewalttäter;
- Zentralamerika ist zwar „die entscheidende Drogentransitregion in Lateinamerika“, „aber eben … keine Handelsregion“ (122);
- im Drogenhandel ist Gewalt die ultima ratio, weil zu kostspielig und zu riskant (kursiv bei H.Z.).
„Alles in allem: Empirisch kann in den Ländern des ’nördlichen Dreiecks‘ Zentralamerikas keine Korrelation zwischen Drogenhandel und hohen Homizidraten nachgewiesen werden, weil ersterer gering bemessen ist und (nur) letztere hoch sind.“ (124)
… und pro
Mit einem derart begründeten Ausschluss der Drogenökonomie aus der Erklärung von Gewaltkriminalität in Zentralamerika schüttet H. Zinecker jedoch das Kind mit dem Bade aus. Gegen ihren „Kurzschluss“ lassen sich folgende Argumente anführen:
Erstens: Die Drogenökonomie ist eine Rentenökonomie und deshalb mit dem Erklärungsmodell der Autorin kompatibel. Zunächst ist unverständlich, warum in der Polemik gegen die „vereinfachte Erklärungskette“ Drogenökonomie auf Drogenhandel reduziert und ein Gegensatz zwischen Handels- und Transitregion postuliert wird. Als illegale, enorm gewinnträchtige und hart umkämpfte Rentenökonomie, die transnationale Dimensionen hat und Zentralamerika einschließt, geht die Drogenökonomie strukturell sehr wohl mit Gewalt einher. Diese kann in Abhängigkeit von der jeweiligen „Geopolitik der Drogen“ ganz unterschiedliche Formen annehmen, in ihrer Intensität schwanken und sich örtlich verschieben, sollte aber gerade deswegen nicht gleich negiert werden. Und wenn remesas und maquila als Rententypen bereits im „Fundament“ des Modells von H. Zinecker berücksichtigt werden, warum dann nicht auch die Drogenrente? Dies ist umso erstaunlicher, weil die Autorin in einer früheren Arbeit (Drogenökonomie und Gewalt. Das Beispiel Kolumbien. Frankfurt a. M., HSFK-Report 5/ 2004) selbst die Beziehung zwischen Drogenökonomie und Gewalt untersucht hat. Zwar ließen sich Besonderheiten des kolumbianischen Falles (bewaffneter Konflikt, Kokaproduktion und Kokainexport statt Drogentransit) anführen, die aber eine Negierung des Faktors „Drogenökonomie“ bei der Erklärung von Gewaltkriminalität keineswegs hinreichend begründen können. Entscheidend ist, dass auch der Drogentransit (als Teil des Drogenhandels!) (neue) Renten generiert und strukturell Gewalt impliziert. Wie auch immer der Endbefund ausfallen mag – eine Analyse dieser beiden Aspekte gehört zur Erklärung der Gewaltkriminalität in Zentralamerika.
Zweitens ließe sich schon eine empirische Korrelation zwischen Drogenökonomie und hohen Homizidraten aufzeigen. Dazu müsste man jedoch das Analyseraster von der Länderebene auf die Region erweitern. Aus dieser zentralamerikanischen Regionalperspektive offenbart sich, dass gerade der Drogentransit grenzüberschreitend, d.h. transnational abgewickelt wird. Die einzelnen Routen betreffen in Frequenz und Verlauf nicht nur die einzelnen Länder der Region in unterschiedlicher Weise, sondern auch die Gebiete innerhalb dieser. Auffällig ist, dass die Drogentransitrouten hauptsächlich in Grenz- und Küstenzonen etabliert werden. Es handelt sich in der Regel um Territorien, in denen erstens die Grenzen zwischen Ländern verlaufen, die zweitens abgelegen und wenig erschlossen (staatsfern) sind sowie drittens eine gute Kombination von Tarnung und Transport erlauben. Würde man nun die Regionalkarte mit den Transitrouten auf eine entsprechende Karte mit der lokalen (!) Verteilung der Homizidraten legen, dann könnte man eben jene, ganz Zentralamerika durchlaufende Korrelation zwischen Drogenökonomie und Gewaltkriminalität erkennen, die von der Autorin so vehement bestritten wird. Ein aktueller Bericht der Intenational Crisis Group über den guatemaltekisch-honduranischen „Gewaltkorridor“ (ICG 2014) belegt den engen Zusammenhang von Drogentransit und hohen Homizidraten ebenso wie ein Report über das transnationale organisierte Verbrechen in der Region (UNODC 2012). Übrigens bietet die Karibik als zweite Drogentransitregion ebenfalls ein „Gewalträtsel“: Ländern mit hohen Homizidraten wie Jamaika (39,3), St. Kitts & Nevis (33,6 ) und den Bahamas (29,8) stehen solche mit niedrigen Werten gegenüber: Kuba (4,2), Barbados (7,4) oder Haiti (10,2). Selbst das mit den USA assoziierte Puerto Rico liegt mit 26,5 über dem lateinamerikanischen Mittel (alle Angaben zur Karibik beziehen sich auf 2012; vgl. UNODC 2013, S. 125).
Wie passt Belize ins zentralamerikanische Gewaltbild?
Ein zweiter Hinweis für einen Zusammenhang zwischen hoher Homizidrate (sprich: hohe Gewaltwirklichkeit) und Drogenökonomie ist Belize. Das kleine Land (22.965 km²; 340.000 Einwohner im Jahr 2012), das 1981 von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen wurde und eine historisch gewachsene karibische Identität besitzt, hat sich seit den 1980er Jahren zunehmend „zentralamerikanisiert“. Hier interessiert besonders der starke Anstieg der Homizidrate in den letzten Jahren, die inzwischen das Niveau der Werte des „nördlichen Dreiecks“ Zentralamerikas erreicht hat (Tabelle 3). 2012 belegte Belize mit einem Wert von 44,7 weltweit sogar den dritten Platz und lag damit noch vor allen anderen zentralamerikanischen Ländern – außer Honduras, das mit 90,4 erneut „Mord-Weltmeister“ wurde (UNODC 2013, S. 24, 126).
Tabelle 3: Homizidrate in Belize
2000 |
2002 |
2004 |
2005 |
2006 |
2007 |
2008 |
2009 |
2010 |
|
Belize |
17,2 |
34,6 |
29,8 |
29,8 |
33 |
33,9 |
35,1 |
32,2 |
41,8 |
Belize-City* |
k.A. |
k.A. |
54 |
60 |
62 |
65 |
71 |
81 |
106 |
Quellen: UNODC 2013, S. 126; *Peirce/ Veyrat-Pontet 2013, S. 8.
Da Belize an Guatemala und Mexiko grenzt und zudem eine lange, stark gegliederte Küste aufweist, liegt es nahe, dieses Ansteigen der Gewaltkriminalität in Verbindung mit dem ebenfalls anwachsenden Einfluss der Drogenökonomie (Belize als weiteres Transitland) zu bringen. Hinzu kommt, dass Belize-City (mit 55.000 Einwohnern die größte Stadt des Landes) eine ähnlich hohe Homizidrate aufweist wie Guatemala-Stadt, Tegucigalpa oder San Salvador.*** Hier kommt ein Argument ins Spiel, das sich ebenfalls auf die Drogenökonomie als Gewaltvariable bezieht: Gerade die großen Städte sind – nicht nur in Zentralamerika – Zentren sowohl des Drogenhandels als auch der Gewaltkriminalität. Auch in dieser Hinsicht würde sich Belize als zusätzlicher Testfall anbieten, um die Einbeziehung der Drogenökonomie in das Erklärungsmodell von H. Zinecker zu begründen.
Ausblicke und Empfehlungen
Die entscheidende Leistung der Studie von H. Zinecker liegt darin, drei Aspekte zusammengeführt zu haben, die bereits für sich genommen Anerkennung verdienen: Erstens ist es ihr überzeugend gelungen, zentrale Ursachen der Gewaltkriminalität in jener Region zu enthüllen, wo diese einerseits am höchsten ist, andererseits auch Länder mit deutlich niedrigerer Gewaltrate liegen; zweitens hat sie dafür ein komplexes Modell kreiert, das interdisziplinär angelegt, politökonomisch fundiert und logisch stringent ist; und drittens hat sie eine enorme Menge empirischen Materials (darunter über 250 Interviews) aufbereitet und verdichtet. Letzteres ist schon deshalb verdienstvoll, weil sich die Datenlage gerade zur Gewaltkriminalität alles andere als übersichtlich präsentiert.
Die weiter oben vorgebrachten Kritiken machen zugleich deutlich, dass es weiterer Anstrengungen in zwei Richtungen bedarf: Erstens, gerade weil einerseits der Rentenansatz zum Fundament des Erklärungsmodells von H. Zinecker gehört und andererseits mit Bezug auf die ungleich globalisierte Weltwirtschaft verstärkt über eine Ausweitung bzw. Dominanz von Renten debattiert wird (Christoph Deutschmann, Hartmut Elsenhans, David Harvey, Christian Zeller – um nur einige zu nennen), muss dieser Ansatz weiter vertieft und „plausibilisiert“ werden. Nur so kann er sich in den wissenschaftlichen und politischen Debatten die erforderliche Akzeptanz verschaffen. Ein zweiter Punkt betrifft die adäquate Verbindung der verschiedenen räumlichen Dimensionen – lokal, national, regional und global – der politikwissenschaftlichen Analyse. Gerade die Gewaltkriminalität in Zentralamerika liefert ein überzeugendes Beispiel dafür, dass die nationalstaatlich strukturierte Analyse allein nicht mehr genügt.
Alle, denen die hier besprochenen Themen, Ansätze und Länder am Herzen liegen, sollten zu „Gewalt im Frieden“ von Heidrun Zinecker greifen. Fundierteres zu „Formen und Ursachen der Gewaltkriminalität in Zentralamerika“ findet man derzeit nicht.
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*** Belize-City ist nach Basseterre (St. Kitts & Nevis), Caracas (Venezuela) und Guatemala-Stadt die viertgefährlichste Stadt der Welt, gefolgt von Tegucigalpa (Honduras) auf Platz fünf, Panama-City auf Platz acht und San Salvador (El Salvador) auf Platz neun. http://www.theguardian.com/cities/gallery/2014/jun/24/10-world-cities-highest-murder-rates-homicides-in-pictures (Abruf: 14. Oktober 2015).
Literatur
International Crisis Group (ICG): Corridor of Violence: The Guatemala-Honduras Border. Latin America Report No. 52, Brussels, June 2014
Pierce, Jennifer/ Veyrat-Pontet, Alexandre: Citizen Security in Belize. Inter-American Development Bank, Technical Note, Oct. 2013
United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC): Global Study on Homicide 2013. Vienna 2014
United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC): Transnational Organized Crime in Central America and the Caribbean: A Threat Assessment. Vienna 2012
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Bildquelle: Presidencia de la República Mexico