Das zentralamerikanische Gewalträtsel
Heidrun Zinecker, Professorin für Internationale Beziehungen am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig, verspricht in der Einleitung ihres Buches „Gewalt im Frieden. Formen und Ursachen der Gewaltkriminalität in Zentralamerika“ „ein Rätsel“ zu lösen, „wie man sie [es – Anm. d. Verf.] so prononciert nur selten in den Sozialwissenschaften findet“ (19)*. Im 2. Kapitel wird dieses zentralamerikanische Rätsel dann wie folgt beschrieben: „Wie ist zu erklären, dass es in ein und derselben Region mit so vielen historisch-strukturellen Ähnlichkeiten gegenwärtig drei Länder (Honduras, El Salvador, Guatemala) mit höchsten, durch Gewaltkriminalität verursachten Homizidraten gibt, und zwei Länder (Costa Rica, Nicaragua), wo die Homizidraten niedrig sind?“ (38; kursiv im Original). Damit sind Gegenstand und Fallauswahl der vergleichenden Studie klar umrissen. Des Rätsels Lösung fällt mit 600 Seiten auch deshalb so umfangreich aus, weil es um deren theoretische Voraussetzungen nicht zum Besten bestellt ist. Die Autorin vermisst bei den bisherigen Erklärungsversuchen von Gewalt die notwendige „Verknüpfung von Gewalt-, Friedens- und Konfliktforschung einerseits und Entwicklungstheorien andererseits“ (24) und sieht diese politikwissenschaftlichen Themenfelder sogar in der Krise (25). Des Weiteren moniert sie, dass selbst von den Zentralamerikanisten die „Gewaltkriminalität als Forschungsthema erst spät …, zu spät“ (29) erkannt wurde.
Ein anspruchsvolles Erklärungsmodell
Aus diesen Defiziten leiten sich entsprechend hohe Ansprüche ab, die eine stringente, an naturwissenschaftlichen Kriterien orientierte Komparatistik sowie die interdisziplinäre Zusammenführung von Politikwissenschaft und Kriminologie ebenso einschließen wie die Erarbeitung eines ausgefeilten Modells, mit dessen Hilfe die oben beschriebene Aufspaltung (Bifurkation) der Gewaltwirklichkeit in Zentralamerika „wasserdicht“ erklärt werden kann. Mit fast 100 Seiten (49-143) nimmt die Vorstellung und Begründung dieses Modells den Hauptteil der acht Theoriekapitel ein. Auf insgesamt 360 Seiten folgt dessen fünffache Überprüfung anhand der Länderfälle (Kapitel 9-11). Ein Fazit von 35 Seiten (Kapitel 12) bildet schließlich den Abschluss der Studie. Um die Befunde der Autorin verstehen und würdigen zu können, bedarf es also zunächst der Beschreibung des von ihr entworfenen Modells, das sich aus Fundament, Pfeilern und Dach zusammensetzt (vgl. dazu die Schaubilder 2 und 3 auf den Seiten 75 bzw. 76). Es dient dazu, jene Kausalketten zu identifizieren, mit denen ausgehend von ökonomischen Strukturen und politischen Institutionen bis hin zu akteursbezogenen Aktions- und Reaktionsmustern die konträren Gewaltbefunde plausibel erklärt werden können. Zu diesem Zweck unterscheidet die Autorin außerdem zwischen Gewaltanfälligkeit und Gewaltwirklichkeit, wobei sie hinsichtlich dieser „beiden übergeordneten Kategorien der Studie“ (42) folgende Fallzuordnung vornimmt:
Tabelle 1: Fälle-Matrix
Gewaltanfälligkeit | Gewaltwirklichkeit | |
hoch | Honduras, El Salvador, Guatemala, Nicaragua | Honduras, El Salvador, Guatemala |
niedrig | Costa Rica | Costa Rica, Nicaragua |
Die Unterscheidung zwischen niedriger und hoher Gewaltwirklichkeit wird an der Homizidrate (Anzahl der Morde je 100.000 Einwohner) festgemacht. Wenn diese den Wert 20 überschreitet, der das lateinamerikanische Mittel repräsentiert, liegt eine hohe Gewaltwirklichkeit vor (213). An anderer Stelle der Studie wird dafür allein das zentralamerikanische Mittel von 35,5 zugrunde gelegt (43). Wie auch immer, mit 8,9 bzw. 11 für das Jahr 2012 liegen Costa Rica und Nicaragua klar unter beiden Mittelwerten, während die Homizidraten von Guatemala (42), El Salvador (68,5) und Honduras (85,5) diese mehr oder weniger deutlich überschreiten (vgl. Schaubild 1, Seite 36).
Gewaltanfälligkeit
Für H. Zinecker bedeutet Gewaltanfälligkeit, dass aufgrund strukturell verankerter Entwicklungsdefizite ein generelles Gewaltpotenzial – zumeist in Entwicklungsländern – existiert (42/43). Dieses ist ihrer Meinung nach in der Verkoppelung bestimmter Rentenökonomien mit bestimmten politischen Strukturen angelegt. In beiden Fälle handelt es sich um hybride Strukturen, die einerseits (ökonomisch) aus dem Aufkommen neuer Renten (remesas und maquila)**, andererseits (politisch) aus der Koexistenz von demokratischen mit nichtdemokratischen Segmenten (fehlende Rechtsstaatlichkeit, Exklusion und mangelnde Performance des Sicherheitssektors) resultieren. Diese hybriden Rentenökonomien und Regimehybride bilden das Fundament des von der Autorin entworfenen Models (Kapitel 4). Von den fünf zentralamerikanischen Fällen besitzen vier (Honduras, El Salvador, Guatemala, Nicaragua) aufgrund dieses Fundaments eine hohe Gewaltanfälligkeit, während Costa Rica als einzigem eine niedrige bescheinigt wird. Diese Ausnahme wird mit dem Vorhandensein von Demokratie und Marktwirtschaft begründet (144-158).
Gewaltwirklichkeit
Damit Gewaltanfälligkeit zu Gewaltwirklichkeit wird, bedarf es weiterer Bedingungen, zu denen die Autorin spezifische Substrukturen, opportunities und gewaltkriminelle agency zählt (43). Um den Vermittlungsraum zwischen Basisstrukturen (Fundament) und dem tatsächlichen Ausbruch von Gewaltkriminalität zu füllen, greift die Autorin auf Kriminalitätstheorien zurück, aus denen sie „Dach und Pfeiler des Theoriengebäudes“ entwickelt (Kapitel 5). Auf diesem Wege gelangt sie zu einer Ablaufdarstellung des Gewaltprozesses (vgl. dazu Schaubild 4 auf Seite 106). Die Kapitel 6 bis 8 sind den Methoden und Quellen, der Auswahl der unabhängigen Variablen und der Formulierung einer ganzen Sammlung von Hypothesen vorbehalten. Letztere leiten sich aus den verschiedenen Ebenen des Theoriengebäudes ab. Die Hypothesen 1a-d beziehen sich auf Gewaltanfälligkeit und damit auf die Basisstrukturen, 2a-b auf die daraus folgenden Rententypen bzw. Regimesegmente, 3a-d schließen die agency mit ein; mit 4a-g wird die „Gewaltkette“ um die Vermittlungsglieder zwischen Druck und Gewalt-agency erweitert sowie hinsichtlich der drei Länderfälle El Salvador, Guatemala und Honduras einerseits und Nicaragua andererseits konkretisiert.
Die klaren Fälle (Costa Rica, El Salvador, Guatemala)
Die Kapitel zu den Länderfällen beginnen mit Costa Rica (Kapitel 9). Hier fällt der Befund schon deshalb klar aus, weil aus niedriger Gewaltanfälligkeit eine ebenfalls niedrige Gewaltwirklichkeit folgt. Dennoch wird auch der Frage nachgegangen, woraus die in den letzten Jahren zu beobachtende Zunahme der Gewaltwirklichkeit und die höchste Unsicherheitsperzeption in Zentralamerika überhaupt (177) resultieren. H. Zinecker kommt zu dem Schluss, dass hierfür keine politökonomischen Gründe vorliegen. Vielmehr macht sie „den leichten Schwund von Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaatlichkeit“, „Versicherheitlichungsdiskurse“ sowie eine daraus folgende „leichte Beschädigung des externen sozialen Kontrollgleichgewichts“ für diesen Sachverhalt verantwortlich (202). All jenen, die sich für die angeführten Argumente im Detail interessieren, sei die Lektüre des 60-seitigen Länderkapitels empfohlen.
Im zehnten Kapitel werden dann auf 250 Seiten Honduras, El Salvador und Guatemala untersucht. Die Zusammenführung dieser drei Länder ergibt sich aus dem Befund, dass dort sowohl Gewaltanfälligkeit als auch Gewaltwirklichkeit hoch sind. Alle drei Länder werden dem Modell entsprechend in folgenden Schritten analysiert: Am Anfang steht ein kurzer Abriss der Nichtmarkökonomien und Nicht-Demokratien; im zweiten wird der Befund hoher Gewaltwirklichkeit empirisch untermauert; im dritten wird den drei relevanten Gewaltformen (Mara-Gewalt, Lynchjustiz, Femizide) nachgegangen; viertens erfolgt eine Kausalerklärung hoher Gewaltwirklichkeit. Dieser letzte Schritt untergliedert sich in zwei Teilschritte: Den Nachweis und die Bewertung „hohe(r) relative(r) Remittances- und Maquila-Raten innerhalb hybrider Rentenökonomien“ (318-344) sowie die Analyse des Kontrollungleichgewichts, das sich aus defizitärem demokratischem Gehalt und fehlender Performanz des politischen Regimes ergibt (344-457). Nach Meinung des Rezensenten lässt sich der honduranische Fall nicht ohne weiteres den klaren Fällen zuordnen, worauf noch zurückzukommen sein wird.
Das Rätsel Nicaragua …
„Nicaragua ist mit seiner Inkongruenz von Gewaltanfälligkeit und -wirklichkeit für den zentralamerikanischen Gewaltvergleich das Rätsel und der Schlüsselfall.“ (458; kursiv im Original). An anderer Stelle wird die zentrale Bedeutung des Landes wie folgt begründet: „Nicaragua ist deshalb der Schlüsselfall des in diesem Buch zu lösenden Gewalt-Rätsels, weil es sich im heutigen zentralamerikanischen Vergleich, gemessen an seinen Homizidraten als das nach Costa Rica gewaltärmste Land präsentiert.“ (466) Zudem ist dieser positive Befund nicht – wie in Costa Rica – auf eine niedrige Gewaltanfälligkeit zurückzuführen (506). Denn erst damit wird Nicaragua zum Rätsel. Der Suche nach einer Lösung ist das elfte Kapitel der Studien gewidmet. Die Schwierigkeit besteht darin, dass „die Lösung des Rätsels … zwei Anforderungen gehorchen (musste): Sie durfte der für Costa Rica gefundenen Lösung nicht widersprechen, musste aber für Nicaragua das Setzen anderer Kausalbedingungen ermöglichen. Das heißt, Nicaragua hatte zur Erklärung niedriger Gewaltwirklichkeit Bedingungen zu erfüllen, die weder in der Erklärung von niedriger Gewaltanfälligkeit wurzeln noch in mit der für die hohe Gewaltwirklichkeit in Honduras, El Salvador und Guatemala zusammenfallen durften.“ (507)
Der Befund, dass Nicaragua trotz (hybrider) Rentenökonomie und Regimehybridität eine niedrigere Gewaltwirklichkeit aufweist, macht die zentralamerikanische Ausnahme einerseits zu einem möglichen Modell für all jene Länder, die ebendiese „Defizite“ noch nicht überwunden haben (521). Andererseits kommen bei Nicaragua so viele Besonderheiten zusammen, dass die Frage nach der Übertragbarkeit offen bleiben muss! Dafür nur einige Beispiele aus der Studie: Niedrige Remittances- und Maquila-Raten (344, 480-484), der „Sonderstatus“ des politischen Regimes sowohl unter den Somozas (1934-1979) als auch unter den Sandinisten (1979-1990) (462, 464-466, 485), die „Nicaragua-Spezifik“ in der Armuts- und Gleichheitsfrage (463, 501-504), die Unterschiede zwischen den maras im „nördlichen Dreieck“ (El Salvador, Guatemala, Honduras) und den pandillas in Nicaragua (472-474), die – ebenfalls im Vergleich zum „nördlichen Dreieck“ – niedrige Bedeutung innerhalb der Drogenökonomie (476), die historisch relativ neuen „Ursachen der Ursachen“ (501ff.), die „größtenteils an die [sandinistische – Anm. d. Verf.] Revolution gebunden sind“ (505). Letztere haben dazu geführt, dass Nicaragua in dreifacher Hinsicht über bessere Bedingungen zur Gewalteindämmung als die Länder des „nördlichen Dreiecks“ verfügt: die Verteilungsverhältnisse sind egalitärer; es existiert eine stärkere soziale Abfederung der Unterschichten und der ärmeren Mittelschicht; außerdem weist das Land relativ hohe Wachstums- und Investitionsraten auf.
… und seine Lösung?
Die Krux zwischen Nicaragua-Spezifik einerseits und wünschenswerter Übertragbarkeit des Nicaragua-Modells andererseits zeigt sich in der von H. Zinecker formulierten Lösung des Nicaragua-Rätsels: „Die ‚ganze‘ Erklärung dafür, dass in Nicaragua heute die Gewaltwirklichkeit trotz hoher Gewaltanfälligkeit vergleichsweise niedrig ist, ergibt sich also aus dem Zusammenwirken der drei unmittelbaren Bedingungen (relative niedrige Remittances- und Maquila-Raten, höhere und lokal sogar hohe politische Inklusion bis hin zur Partizipation und ein externes Kontrollgleichgewicht) und der drei mittelbaren Ursachen, der ‚Ursachen der Ursachen-Bündel‘, die, als Vermittlungsstruktur, die hohe Gewaltanfälligkeit bereits leicht abgefedert haben, schon ehe die unmittelbaren Ursachen ‚eingreifen‘ konnten.“ (504/505)
Im Fazit benennt die Autorin zwei Wege (bzw. Modelle), die zu einer niedrigen Gewaltwirklichkeit führen: Einen historisch-strukturell basierten und deshalb nachhaltigen, der sich durch die Kombination von Demokratie und Marktwirtschaft auszeichnet und der in der Region durch Costa Rica repräsentiert wird; und einen kürzeren, aber anfälligen, bei dem das Fehlen von Demokratie und das Bestehen von Rentenökonomie nicht infrage gestellt werden: „Das konnte allein durch die Kombination einer zumindest örtlich hohen politischen Inklusion, der hohen Performanz eines demokratisch konfigurierten Sicherheitssektors, einer im Sicherheitsbereich demokratisch engagierten Zivilgesellschaft und niedriger relativer Remittances- und Maquila-Raten gelingen. Diesen Weg ist Nicaragua gegangen.“ (523) Im Vergleich mit der „ganzen“ Erklärung zu Nicaragua fällt auf, dass hier die Wegbeschreibung allgemeiner gehalten ist und die mittelbaren Ursachen (die Ursachen der Ursachen) von Seite 505 fehlen, womit sich für die Frage nach der Übertragbarkeit des nicaraguanischen Weges zwei verschiedene Antworten anbieten: Eine, die das Erbe der sandinistischen Revolution einschließt und damit auf die Notwendigkeit entsprechender struktureller Veränderungen verweist, oder eine andere, die ohne diese auskommt. Leider lässt H. Zinecker den Leser an dieser Stelle im Ungewissen, welche der beiden Varianten nun gilt.
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* Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Seiten des rezensierten Buches.
** Remesas (spanisch; bei H.Z. englisch: Remittances) sind Rücküberweisungen von (Arbeits-)Migranten an ihre Familien in den Herkunftsländern. Maquila bedeutet, dass eine Fabrik im Auftrag eines anderen Unternehmens agiert, die Arbeitskräfte zumeist prekär beschäftigt werden und die Ansiedlung in einer Freihandelszone liegt (vgl. dazu die Fußnoten 43 und 44 auf Seite 56 von „Gewalt im Frieden“.)
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Heidrun Zinecker
Gewalt im Frieden: Formen und Ursachen
der Gewaltkriminalität in Zentralamerika.
Studien zu Lateinamerika Bd. 24
Nomos, Baden-Baden 2014, 602 S.
Bildquelle: [1] Buch-Cover; [2] University of Texas at Austin