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Politik und Kultur in Lateinamerika

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„Wir waren an der Regierung, aber wir hatten nicht die Macht“*

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 15 Minuten

Vor fünfzig Jahren, am 4. September 1970, wurde der Sozialist Salvador Allende zum Präsidenten Chiles gewählt. Damit begann ein Transformationsprozess, der als „chilenischer Weg zum Sozialismus“ in die Geschichte eingegangen ist. Sein welthistorisches Novum bestand darin, dass der Kapitalismus auf demokratischem Wege überwunden werden sollte. Das Ende dieses hoffnungsvollen Projektes ist bekannt: Am 11. September 1973 putschte die Armee gegen die Demokratie und errichtete unter General Augusto Pinochet eine blutige Diktatur, die erst 1990 per Elitepakt beendet wurde. An dieser Stelle soll es weniger um das Ende als vielmehr um den Beginn des chilenischen Weges zum Sozialismus gehen. Dabei stehen drei Problemfelder im Mittelpunkt. Erstens geht es um die Bedingungen, die es ermöglicht haben, dass Salvador Allende 1970 zum Präsidenten gewählt wurde. Zweitens werden die Maßnahmen erläutert, mit denen die neue Regierung an die Umsetzung ihres Transformationsprogramms gegangen ist, und deren Tragweite diskutiert. Im dritten Punkt ist der Fokus auf jene Kräfte gerichtet, die mit allen Mitteln die Fortsetzung des chilenischen Weges zum Sozialismus verhindert haben.

Zufall oder nicht? Allendes Wahlsieg und seine Bedingungen

Mit 36,6 Prozent und einem Vorsprung von 40.000 Stimmen gegenüber Jorge Alessandri, der mit 1.031.000 Stimmen den zweiten Platz belegte, fiel der Triumph von Salvador Allende ausgesprochen knapp aus. Dies veranlasst Tomás Moulián zu der Einschätzung, dass dieser Wahlsieg „nicht einer durch die Strukturen aufgezwungenen (unentrinnbaren) Notwendigkeit, sondern einem durch Zufälle bestimmten Ereignis aus dem politischen Kampf“ (Baer/ Dellwo, S. 55) entsprungen sei. Ein anderer Autor beschreibt den Sieg von 1970 als „etwas Unglaubliches“, das „(n)icht einmal die Armen … so recht glauben“ konnten (ebenda, S. 95). Dieser Verweis auf die Zufälligkeit (Kontingenz) der Ausgangskonstellation des chilenischen Weges zum Sozialismus ist insofern gerechtfertigt, als dass diese sich nicht im Ergebnis einer strukturellen Krise des Kapitalismus in Chile bzw. einer revolutionären Situation herausgebildet hatte. Zugleich muss betont werden, dass die chilenische Linke einen langen, von harten Kämpfen geprägten Weg bis zu ihrem historischen Triumph im Jahr 1970 zurückgelegt hat. Zuvor hatte Allende bereits drei Mal an der Spitze breiter Linksbündnisse für das Präsidentenamt kandidiert. Während er 1952 mit 5,5 Prozent der Stimmen auf dem letzten Platz gelandet war, verfehlte er 1958 mit 28,9 Prozent den Wahlsieg nur deshalb, weil ein regionaler abtrünniger Linkskandidat ihm die nötigen Stimmen raubte. Statt dessen gelangte Jorge Alessandri Rodríguez, der Kandidat der Rechten, ins Präsidentenamt. 1964 trat Allende gegen Eduardo Frei Montalva von den Christdemokraten an. Frei konnte die Wahl nur deshalb für sich entscheiden, weil die politische Rechte auf einen eigenen Kandidaten verzichtete. Obwohl die Linke 38,9 Prozent der Stimmen erreichte, musste sie die bis dato bitterste Wahlniederlage hinnehmen (Nohlen, S. 349).

Der jeweils unterschiedliche Ausgang der vier Präsidentschaftswahlen lässt sich nur erklären, wenn man die Besonderheiten des politischen Systems Chiles in die Betrachtung einbezieht. Bis zum Putsch 1973 galt Chile als stabile Demokratie und stellte damit (neben Costa Rica und Uruguay) innerhalb Lateinamerikas eine Ausnahme dar. Ab den 1950er Jahren bestimmten drei etwa gleichstarke Parteienblöcke die Politik des Andenlandes. Den entscheidenden Schlüssel zur Erklärung von Allendes Wahlsieg liefert die Regierung seines 1964 gewählten Vorgängers, des Christdemokraten Frei, der die politische Mitte repräsentierte. Einerseits war Frei nur dank der Unterstützung durch die Rechten an die Regierung gekommen, die ihn im Vergleich zu Allende als „kleineres Übel“ ansahen. Andererseits fühlte sich der Christdemokrat einem doppelten Druck von Links ausgesetzt: Im Inneren musste er sich gegen den stärker werdenden Linksblock profilieren, während das kontinentale Umfeld ab 1959 von der kubanischen Revolution bestimmt wurde, die die Errichtung des Sozialismus auf ihre Fahnen geschrieben hatte. „Im Chile der sechziger Jahre galt es als ‚politisch korrekt‘ Anhänger der Revolution zu sein“ (Julio Pinto Vallejos, in: Baer/ Dellwo, S. 17).Chile_Moneda_Bild_Quetzal-Redaktion_pg Frei glaubte, mit der „Revolution in Freiheit“ einen reformerischen Ausweg aus diesem Dilemma gefunden zu haben. Im Rahmen der importsubstituierenden Industrialisierung, die bis 1980 die dominante Entwicklungsstrategie Lateinamerikas darstellte, leiteten die Christdemokraten Strukturreformen ein, die später von Allende beschleunigt zu Ende geführt wurden. Neben einer Agrarreform und der partiellen Nationalisierung des Kupferbergbaus standen eine Verfassungs- und Bildungsreform auf der Agenda von Frei, der von zwei Seiten ins Kreuzfeuer geriet: Den Rechten ging er zu weit, den Linken hingegen nicht weit genug. „Ein unbeabsichtigter Nebeneffekt der eingeleiteten Sozialreformen war eine Verhärtung der Parteienfronten und eine Eskalation der politischen Dynamik, welche sich in immer radikalerer Form Luft zu machen begann“ (Koch, S. 791). Dies betraf auch die Christdemokraten selbst. Teile des linken Flügels hatten sich im Mai 1969 abgespalten und eine eigene Partei – den MAPU (Movimiento de Acción Popular Unitaria) – gegründet. Im Dezember desselben Jahres entstand dann mit der Unidad Popular (UP) ein breites Linksbündnis, dem neben Allendes Sozialistischer Partei und dem MAPU die Kommunisten, die Radikale Partei und andere kleinere Linksparteien angehörten. Salvador Allende wurde im Januar 1970 – auch wenn er nicht von allen Teilen seiner eigenen Partei unterstützt wurde – zum Spitzenkandidaten der UP gekürt. Da er am 4. September nur mit relativer Mehrheit gewonnen hatte, stand laut Verfassung die Wahl durch das Parlament an. Dort war er auf die Unterstützung der Christdemokraten angewiesen, die mit ihrem Spitzenkandidaten Radomiro Tomic nur 28,1 Prozent der Stimmen erhalten hatten und damit auf dem dritten Platz gelandet waren. Frei, der vielleicht mehr Zustimmung erhalten hätte, durfte laut chilenischer Verfassung keine zweite Amtszeit in Folge ausüben. Um die Stimmen der Christdemokraten zu erhalten, musste Allende ein Statut unterschreiben, das ihn zusätzlich an die Einhaltung der Verfassung binden sollte. Am 24. Oktober 1970 wurde Salvador Allende mit 153 zu 35 Stimmen schließlich zum Präsidenten Chiles gewählt.

Die Unidad Popular setzt ihr Programm um

Als die UP-Regierung am 4. November 1970 ihr Amt antrat, wies die Wirtschaft des Landes gravierende Anomalien auf. Hohe Konzentration der wichtigsten Unternehmen in den Händen einiger weniger Privateigentümer, Dominanz des Auslandskapitals, einseitige Abhängigkeit von Rohstoffexporten und ungerechte Einkommensverteilung prägten die ökonomischen Verhältnisse. „17 Prozent der Firmen verfügten über etwa 78 Prozent aller Aktiva. In der Industrie konzentrierten sich bei drei Prozent der Firmen etwa 60 Prozent des Kapitals. In der Landwirtschaft besaßen zwei Prozent der Landbesitzer 55 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Im Bergbau kontrollierten drei US-amerikanische Firmen die Kupferproduktion. Im Kreditwesen hielten drei Privatbanken die Kontrolle über 50 Prozent der Einlagen und Kredite. Ein weiterer struktureller Nachteil der chilenischen Wirtschaft war ihre externe Abhängigkeit vom Kupferpreis. … von den 100 größten Firmen (wiesen) 61 ausländische Beteiligungen auf. Schließlich wurde die Einkommensverteilung als ungerecht empfunden, da auf das ärmste Zehntel der Bevölkerung lediglich 1,5 Prozent des Gesamteinkommens entfielen, während das reichste Dezil über 40 Prozent verfügte“ (Koch, S. 792).

Die Zustimmung und das Tempo der von der Unidad Popular umgesetzten Strukturreformen fielen unterschiedlich aus. Bereits Ende 1971 war die Nationalisierung der Gran Minería – der großen Bergbauunternehmen – weitgehend abgeschlossen. Durch den massenhaften Aufkauf von Aktien durch die Regierung befanden sich bis zu diesem Zeitpunkt die 16 größten Banken und 90 Prozent des Kreditvolumens unter staatlicher Kontrolle. Mitte 1972 waren faktisch alle Agrarbetriebe übeChile_Allende-Denkmal_Bild_Quetzal-Redaktion_pgr 80 ha, die sich bis dahin in Privateigentum befunden hatten, enteignet. Dies entsprach ca. 10 Mio. ha bzw. 60 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Im industriellen Sektor stießen die Verstaatlichungen auf den größten Widerstand (ebenda, S. 792ff). Im ersten Jahr erzielte die Wirtschaftspolitik der UP „geradezu spektakuläre Resultate“. Das Wachstum des BSP lag 1971 bei 8,0 Prozent, wobei der Industrie- und Handelssektor mit 13,6 bzw. 15,8 Prozent Spitzenwerte erreichte. Inflation und Arbeitslosigkeit konnten deutlich gesenkt werden und die Reallöhne erhöhten sich um 22,3 Prozent. Gleichzeitig fiel der Kupferpreis auf ein Drittel des Wertes von 1970, wodurch das Haushaltsdefizit weiter zunahm. In der Folge nahm die Inflation rasant zu und stieg von 260 Prozent (1972) auf 605 Prozent (1973). Durch gezielte Hamster-, Streik- und Boykottstrategien der Unternehmer und der politischen Rechten wurde die Wirtschaft des Landes gezielt destabilisiert (ebenda, S. 794f). Die CIA, der US-Präsident Richard Nixon 10 Mio. Dollar bewilligt hatte, unternahm alles, um die Position der Regierung von Allende zu unterminieren und Chile ins politische und wirtschaftliche Chaos zu stürzen (Weiner, S. 421). Dennoch gelang es der Unidad Popular, ihre Wählerbasis im Vergleich zu 1970 weiter auszubauen. So erreichte sie bei den Kommunalwahlen im April 1971 49,7 Prozent und bei den Parlamentswahlen im März 1973 43,9 Prozent der Stimmen. Als Salvador Allende am 11. September 1973 eine Volksabstimmung über seinen weiteren Verbleib im Amt ankündigen wollte, verhinderte das Militär mit einem Putsch diese vermutlich letzte Chance, einen demokratischen Ausweg aus der Krise zu finden.

Strategien der Konterrevolution

Bis zuletzt hatte Salvador Allende auf die Verfassungstreue der chilenischen Streitkräfte gesetzt. Unter dem Druck der politischen und ökonomischen Krise, die im Unternehmerstreik vom Oktober 1972 ihren ersten Höhepunkt erreichte, übernahm die Armee mehr und mehr politische Aufgaben. Seitdem hing die Unidad Popular „am dünnen Faden der militärischen Verfassungstreue“ (Tomás Moulián in: Baer/ Dellwo, S. 57). Diese machtpolitische Abhängigkeit der Linksregierung vom Verhalten der Armee, die auch ein Ergebnis von Fehlern und Schwächen der Unidad Popular war, rückte damit ins Zentrum der Auseinandersetzungen um Sieg oder Niederlage des chilenischen Weges zum Sozialismus. Im Rückblick stellt sich Frage, warum und wie diese vom Mythos der Verfassungstreue geadelte Institution zum Hauptinstrument der Konterrevolution werden konnte. Diese machtpolitische Grundfrage lässt sich aus verschiedenen Perspektiven diskutieren. Der wohl am beste geeignete Fokus, in dem sich diese Perspektiven darstellen und bündeln lassen, ist die Zeit zwischen den beiden Wahlgängen vom 4. September bzw. 24. Oktober 1970. Innerhalb dieser Entscheidungssituation bildet die Ermordung von General René Schneider, dem Oberbefehlshaber der Armee, das Schlüsselereignis. Am 22. Oktober wurde er auf dem Weg zu seiner Dienststelle von einem Killerkommando bei einem Schusswechsel schwer verwundet. Drei Tage später erlag er seinen Verletzungen.

Mindestens drei Gründe sprechen dafür, die oben aufgeworfene Frage ausgehend von den Ereignissen und Entscheidungen zu beantworten, die mit der Ermordung von General Schneider verbunden sind. Erstens sind Ablauf und Hintergründe des Attentats durch einen Sonderausschuss des US-Senats, der 1975 unter Leitung von Senator Frank Church die Tätigkeit der US Geheimdienste untersuchte, in einem Zwischenbericht über die Ermordung ausländischer Führungspersönlichkeiten gut dokumentiert. Zweitens legt der Church-Report schlaglichtartig die innere Verfasstheit der chilenischen Streitkräfte bereits vor dem Regierungsantritt von Salvador Allende offen. Drittens erlaubt der Bericht Rückschlüsse über die zentrale Rolle, die die USA und insbesondere ihre Geheimdienste bei der versuchten Verhinderung und später beim Sturz der UP-Regierung gespielt haben. Zusammen mit den Erkenntnissen, die auf der Grundlage der ab 1999 frei gegebenen US-Dokumente gewonnen wurden (siehe Hurtado Torres), lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen:

A. Salvador Allende und sein politischer Aufstieg wurden von den USA bereits frühzeitig (ab 1964) als Gefahr ausgemacht. Im Mittelpunkt ihres Vorgehens gegenüber Chile stand die Verhinderung der Regierungsübernahme durch linke Kräfte.

B. Um dieses Ziel zu erreichen, wandte Washington verschiedene Strategien an. Zunächst (1964 bis 1970) wurden Frei und seine „Revolution in Freiheit“ gefördert und unterstützt. Nachdem die Christdemokratie als Verhinderer von Allende versagt hatte, wechselten die Geheimdienste zu einer Doppelstrategie. Am 15. September 1970 setzte US-Präsident Richard Nixon den damaligen Direktor der CIA, Richard Helms, davon in Kenntnis, dass eine Regierung unter Allende für die USA nicht akzeptabel sei. Nachdem alle Versuche gescheitert waren, diese Regierung mit Hilfe der Christdemokraten zu verhindern, sah die CIA Ende September in einem Staatsstreich der Armee die einzige Möglichkeit, ihr Ziel dennoch zu erreichen. Ohne das Pentagon, das Außenministerium oder den US-Botschafter in Santiago zu unterrichten, gab es zwischen dem 5. und 20. Oktober seitens der CIA 21 Versuche, um hochrangige Militärs und Carabinieri für dieses Vorhaben zu gewinnen. Da der Oberkommandierende der chilenischen Streitkräfte, General Schneider, fest auf dem Boden der Verfassung stand und jeden Putschversuch ablehnte, war er das Hauptziel der verdeckten CIA-Operation. Die drei Versuche (am 19., 20. und 22. Oktober), ihn auszuschalten, wurden von den Generälen Roberto Viaux und Camilo Valenzuela organisiert. Die als Track II bezeichneten Aktivitäten der CIA zur Organisierung eines Militärputsches wurden auch nach 1970 weitergeführt, was von dem CIA-Beamten Karamessines, der die Operationen gegen Allende koordiniert hatte, 1975 vor der Church-Kommission auch bestätigt wurde. Mit Blick auf den Putsch vom 11. September 1973 kommt er zu folgendem Schluss: „Ich bin sicher, dass die Saat, die 1970 gelegt wurde, 1973 ihre Früchte getragen hat“ (Church, S. 254 – Übersetzung P. G).

C. Der entscheidende Ansatzpunkt für Track II war die enge Kooperation mit jenen Teilen der chilenischen Streitkräfte, die zum Putsch bereit waren. Dass diese Kräfte bereits vor dem Regierungsantritt von Allende in Schlüsselpositionen saßen und zum Handeln bereit waren, hatte die Ermordung von General Schneider deutlich gemacht. Nachdem Allende sein Amt übernommen hatte, ging es der CIA vor allem darum, die Putschistenfraktion zu stärken und die Fraktion der verfassungstreuen Offiziere zu schwächen. Dazu Noticias_Chile_Bild_Quetzal-Redaktion_solebiasatti (2)sollte eine Situation von Chaos und Unregierbarkeit geschaffen werden, wozu auch Track I diente. Darunter verstand die CIA „offene“ Operationen wie Desinformation, Finanzierung der Opposition, Sabotage, Organisierung von Boykottmaßnahmen etc. Damit nahm sie entscheidenden Einfluss auf die Veränderung des Kräfteverhältnisses innerhalb der Streitkräfte zugunsten der Putschisten. In diesem Sinne nutzten auch die in Brasilien regierenden Militärs ihre Kontakte zu chilenischen Offizieren.

D. In jüngeren Arbeiten zu den Beziehungen zwischen Chile und den USA in den Jahren 1964 bis 1973 wird unter anderem die These vertreten, dass Washington nicht direkt am Putsch vom 11. September 1973 beteiligt gewesen sei. Die chilenischen Putschisten hätten die Aktion vielmehr eigenständig durchgeführt und die zuständigen US-Dienste hätten erst wenige Tage vorher von entsprechenden Plänen erfahren. Eine solche Argumentation verengt die Diskussion und geht am Kern des Problems vorbei. Der Putsch war das Ergebnis eines längeren Prozesses der politischen Polarisierung und der Interaktion verschiedener Akteure. Im September 1973 war er das letzte und einzige Mittel, mit dem Allende gestürzt werden konnte. Sein Sturz war das Werk eines konterrevolutionären Blocks verschiedener Kräfte, in dem die chilenischen Streitkräfte und die USA die wichtigsten waren. Die von ihnen angewandten Strategien hatten ein gemeinsames Ziel und haben Synergieeffekte produziert, die in der Summe zum Sieg der Konterrevolution geführt haben. Auch wenn Richard Nixon und Henry Kissinger hinterher ihre Hände in Unschuld wuschen – ohne die Hilfe und die Einmischung der USA hätte es den 11. September 1973 nicht gegeben.

E. Um den tragischen Ausgang des chilenischen Experiments erklären und bewerten zu können, muss man unbedingt berücksichtigen, dass die Unidad Popular nur einen Teil der Macht in ihren Händen hatte. Diesen hat sie genutzt, um einen Transformationsprozess in Gang zu setzen. Dessen Dynamik hat ab Herbst 1972 zur Herausbildung einer revolutionären Situation geführt, in deren Verlauf sich die Machtfrage unmittelbar stellte. Dies nicht in vollem Umfang erkannt zu haben, war wohl der Hauptfehler der Unidad Popular. Im einzelnen ging um drei damit in Zusammenhang stehende Probleme: Erstens die Gewinnung der Mittelschichten, eine klare Haltung in der Militärfrage und die Vorbereitung der eigenen Basis auf den sich abzeichnenden Putsch.

Während die USA alles taten, um die Bedingungen für einen Putsch zu schaffen und dabei besonders das Militär ins Visier nahmen, verhielten sich die revolutionären Kräfte gegenüber ihren potentiellen Bündnispartnern innerhalb der Armee zu passiv. Das Bündnis der Bewegung der Streitkräfte (MFA) mit dem Volk, das der Nelkenrevolution 1974/75 in Portugal zugrunde lag, zeigt Möglichkeiten auf, die auch in Chile vorhanden waren, von der Unidad Popular aber ungenügend erkannt und genutzt wurden. Auch das Beispiel des Militärreformismus im Nachbarland Peru 1968 bis 1975 verweist auf die Chance eines Bündnisses mit fortschrittlichen Teilen der Armee. Der Putsch vom November 2019 in Bolivien zeigt unter entgegengesetzten Vorzeichen, wie wichtig es auch heute für alle linken Transformationsprozesse ist, die richtige Antwort auf die Militärfrage zu finden.

In einem Interview aus Anlass des 40. Jahrestages des Putsches vom 11. September 1973 im Deutschlandfunk hebt Claudia Zilla, Lateinamerika-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, noch einmal den kontinentalen Bezug dieser historischen Zäsur hervor: „Es ging darum, zu verhindern, dass Lateinamerika rot wird. Mittlerweile haben auch Primärquellen das bestätigt, dass die USA sich aktiv dafür eingesetzt haben, die Wahl Allendes zu verhindern. Durch nordamerikanische Unternehmen vor Ort, aber auch durch Aktionen der CIA.“ https://www.deutschlandfunk.de/sozialismus-mit-rotwein-und-empanadas.871.de.html?dram:article_id=127081 (Abruf vom 1.9.2020). Als generelles Vermächtnis der 1000 Tage der Unidad Popular bleibt folgende Lehre: Wenn Bourgeoisie und Imperialismus ihre Herrschaft in Gefahr sehen, sind sie bereit, die bürgerliche Demokratie zu zerstören. Mit der Präsidentschaft von Donald Trump stellt dies nun auch für die USA eine reale Gefahr dar.

 

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Literatur:

Baer, Willi/ Dellwo, Karl-Heinz (Hrsg.): Salvador Allende und die Unidad Popular. Bibliothek des Widerstandes, Bd. 28, Laika Verlag, Hamburg 2013

Church, Frank (Chairman): Alleged Assessination Plots Involving Foreign Leaders. An Interim Report of the Select Committee to Study Governmental Operations with Respect to Intelligence Activities. Washington D.C., November 20, 1975, S. 225-254

Hurtado Torres, Sebastián: Chile y Estados Unidos, 1964-1973. Una nueva mirada, in: Nuevo Mundo Mundos Nuevos (online, Abruf 1.9.2020), Oktober 2016

Koch, Max: Die Krise der Demokratie in Chile, in: Utopie kreativ, Heft 155, September 2003, S. 789-797

Nohlen; Dieter: Salvador Allende, in: Werz, Nikolaus (Hrsg.): Populisten, Revolutionäre, Staatsmänner. Politiker in Lateinamerika, Frankfurt a. M. 2009, S. 342-365

Weiner, Tim: CIA – Die ganze Geschichte. Frankfurt a. M. 2016 (7. Auflage)

 

* Isidoro Bustos im Interview, ND 4. September 2010

Bildquellen: Quetzal-Redaktion: [1,2]_pg; [3]_solebiasatti

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