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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Testimonio, Teil 3: Neugründung und Massaker

Natividad Sales Calmo | | Artikel drucken
Lesedauer: 21 Minuten

Dorfzentrum von Xamán. Bild: Lars Barthel. Copyright: ZDF / pop tutu film, 2008.Was so viele verschiedene Gruppen zusammengehalten hat, fragt ihr? Die Idee. Die Vollversammlung. Die Zusammenkünfte. Also, wenn wir zum Beispiel von der Aufteilung der Felder sprechen: Da wurde zuerst in der Vollversammlung das Leitungsgremium gewählt, wie immer mit Vorsitzendem, Sekretär, Schatzmeister, Sprecher. Die haben sich dann getroffen. Außerdem wurden verschiedene Komitees gewählt – für Gemeinschaftsarbeiten,  Gesundheit, Bildung. Die haben sich wiederum mit dem Leitungsgremium besprochen. Da ging es z.B. darum, dass es unter den Rückkehrern ja Lehrer gab, die sich in Mexiko qualifiziert hatten. Wir hatten also ausgebildete Lehrer und die sollten mit dem Unterricht anfangen. Und mit der Zeit haben wir auch Kontakte mit anderen geknüpft und nicht zuletzt waren die internationalen Begleiter immer bei uns. Und in den Vollversammlungen wurden die Entscheidungen gefällt: „Ein Haus allein reicht nicht. Wir müssen arbeiten! Aber wo?“ Da haben sie uns provisorisch schon mal vier cuerdas (etwa 2.800 Quadratmeter) zugeteilt. Damit wir uns gleich vier cuerdas ausmessen und endlich Mais aussäen konnten. Vier, vier, vier.. eine Familie nach der nächsten. Inzwischen würde man die Flurgrenzen herausfinden und so weiter. Das brauchte natürlich Zeit. Und die Kommunikation, die lief immer auf Spanisch. Die meisten Leute hatten ja im Exil ein bisschen mehr „Schpanisch“ (sagt Nati auf Deutsch – A. L.) gelernt. Denn sie mussten ja mit den Mexikanern zusammenarbeiten, vor allem die Jüngeren. Aber, um wieder auf meine Mutter zu sprechen zu kommen, sie hat nie, nie…. Bis heute hat sie ihre eigene Sprache und fertig. Aber sie hat darin auch ihre Verdienste. Viele ihre Schwiegertöchter und -söhne sind nämlich aus anderen Sprachgruppen, aber die Enkelkinder sind alle ihre – alle ,pur Mam’. Deswegen sagen wir zu ihr: „Du bist auch eine Lehrerin. Du müßtest auch ein Diplom haben. Aber wir können dir keins ausstellen.“

Die Grundidee ist Organisation.

Was die comunidad betrifft, so ist die Grundidee die Organisation. Es gab Kardamon. Es gibt eine Gummibaumpflanzung. Das sollte in Form einer Kooperative bewirtschaftet werden. Aber mit dem Kardamon hatten wir kein Glück. Vielleicht, weil wir das nicht richtig angegangen sind, aus Mangel an Erfahrung. Wir hatten ja keine Spezialisten, zum Beispiel dafür, wie man eine Trocknungsanlage zum Funktionieren bringt. Und wer würde das auch als Vollzeit-Job tun, ohne jeden Lohn? Keiner wollte. In der Hinsicht gab es also Fehlschläge. Und dann auch der Kardamonpreis. Anfangs war er bei vier oder fünf Quetzales das Pfund, irgend sowas. Als wir dann aber beim Ernten waren, grade noch bei 25 Centavos. Wer wollte da noch ernten? Wir mussten also 10 Centavos pro Pfund drauflegen. Und wer sich einigermaßen an die Erntearbeit gewöhnt hat, der schafft so seine 25 Pfund am Tag. Was bleibt da in der Kasse für die Kooperative? Also hat sich das erledigt. Die Gummibaumplantage hält bis heute noch durch. Und der Gemeindeladen, den die Kooperative betreibt, der wirft ein bisschen Gewinn ab. Denn seit drei Jahren haben wir dort einen Verkäufer, der ordentlich arbeitet. Er ist ein ehemaliger Schüler unserer eigenen Schule und beherrscht die Mathematik, so dass das mit dem Verkauf auch gut rauskommt. Deshalb denken jetzt die Lehrer und die, die im Dorfentwicklungsrat (Consejo de Desarollo Rural – COCODE,) sitzen, darüber nach, von dem Gewinn einige Computer zu kaufen und dadurch ein bisschen zusätzliches Einkommen zu erzielen. Es gibt jetzt viele Jugendliche, die in der  Schule mit dem Thema Computer konfrontiert werden. Und da wir auch schon ausgebildetes Personal dazu haben, warum nicht eine Computerschule der Kooperative aufmachen, damit man sich fürs nächste Jahr da einschreiben kann? Das Problem ist, dass wir bis jetzt keinen Internetzugang haben. Und es gibt auch immer wieder Probleme mit der Stromversorgung. Deswegen sind uns schon viele elektrische Geräte kaputtgegangen. Es kann auch sein, dass jemand, der mit Gemeinde nicht einverstanden ist, an der Abzweigung die Stromzufuhr sabotiert. Warum passen wir ihm wohl nicht? Weil die Gemeinde sich entwickelt. Weil wir das immer gemeinschaftlich in Versammlungen beschließen. Die Frauen auch. Schwierigkeiten gibt’s natürlich immer, Diskussionen auch. Aber das war schon immer so.

Ich habe nicht mal gefühlt, dass ich am Leben bin, ich war wie tot.

Wenn ihr danach fragt, wie das nach dem Massaker vom 5.Oktober 1995 war… also, im Moment des Massakers, also da… Vielleicht sollte ich erklären, wie ich das erlebt habe, vielleicht wird es da klarer: Als das Massaker passierte, da habe ich gar nichts mehr gedacht und gefühlt. Ich habe nicht mal gefühlt, dass ich am Leben bin, ich war wie tot. Das eine war, dass da die Verletzen lagen, die ja lebten in dem Moment, ich aber plötzlich überhaupt nicht mehr wußte, was für sie zu tun ist. Ich habe nur geweint und mich gefragt, wer sich um mich kümmern würde. Damals war mein Mann… also, weil er doch Chauffeur ist… also, war er unterwegs um die Musikgruppe aus Chaculá herzubringen. Die haben dort eine Musikgruppe und vor dem 5. hatten wir in unserer Versammlung diskutiert: „Was für eine Musik werden wir holen? Es ist unser erstes Gründungsjubiläum. Also werden wir ordentlich feiern! Vielleicht ein bisschen ärmlich, aber wir werden feiern!“ Also: Was für eine Musikgruppe? Man fing an zu suchen. Welche aus Chiapas – nein. Welche aus den Dörfern rund um Playa Grande – nein. Besser, wir nehmen eine Musikgruppe unserer eigenen Leute, aus einer Rückkehrergemeinde. Also fuhr mein Mann dorthin. Deshalb war ich in dem Moment ganz allein mit meinen Kindern. Aber, als das Massaker passierte, habe ich nichts mehr gemerkt. Das einzige, was wir machten, war davonrennen. Und ich hatte einen Topf voll tamales gekocht, also aus Maismasse, einfache tamales. Und ich habe meinen Topf genommen, um wieder in den Urwald zu fliehen… denn das war das Einzige…. das war damals die einzige Möglichkeit gewesen, wie wir unser Leben gerettet hatten. Deshalb kam mir das in den Sinn. Zusammen mit meiner Namensvetterin, Doña Nati und noch ein paar Mam-Leuten dort, haben wir gesprochen: „Hauen wir ab in den Urwald?“ – „Aber wohin?“ – „Einfach los! Ich hab tamales für morgen dabei und danach werden wir schon sehen, was wir essen.“ Aber dieses Mal war es so, dass mein Sohn, der mir dann später gestorben ist, dass der sich unter dem Bett versteckt hatte. Er suchte ein Versteck und fand’s dort. Es klingt unglaubwürdig, aber heute glaube ich das hundertprozentig, was die Leute schon immer gesagt hatten: „Wenn du etwas mit dem Blut hast oder mit den Nerven, dann haben deine Kinder das auch.“ Aber das ist die Folge davon, dass man die ganze Zeit in Angst und Alpträumen lebt. Wegen ihm bin ich nicht weggelaufen. Ich habe ich nicht gefunden. Ich schrie nach ihm und er war dort unter dem Bett.

Aber ich drehe die Scheibe noch mal zurück… Als sie die Musik holen fuhren, sind wir zurückgeblieben: „Was meint ihr, was machen wir für das Fest?“ – „Vielleicht machen wir einige tamales. Wir haben kein Fleisch, aber wir machen trotzdem tamales. Vielleicht kaufen wir  Chipilín-Kraut oder andere Kräuter und damit machen wir sie.“ Aber, als sich die Soldaten schon näherten, ungefähr um die Mittagsstunde – damals hatte niemand eine Uhr – da hat mein älterer Sohn am Straßenrand gespielt und plötzlich kam er zu mir: „Mama, Mama,“ sagte er, „da kommen ein paar Clowns!“ Er hatte immer Angst, wenn z.B. die Lehrer in der Schule Spiele machten, zum Beispiel solche, wo man sich das Gesicht zubindet und dann die anderen finden muss. Also habe ich gesagt: „Wo sind sie denn?“ Ich war gerade beim Weben. „Dort kommen sie, Mama,“ sagte er, „beeil’ dich! Wir gehen gucken.“ Und ich bin aufgestanden, habe meine Webarbeit liegen gelassen und bin gucken gegangen. Meinen kleinsten Sohn habe ich getragen. Und da kamen sie gerade hoch. Es waren schon Leute da. Und weil ich… also, manchmal passe ich nicht auf, was… Es hatte schon eine Durchsage gegeben: „Kommt ins Zentrum!“ Und dann habe ich plötzlich gesehen: Es sind Soldaten!

Da dachte ich: Jetzt ist es soweit. Denn es gab solche Gerüchte als wir dort neu angekommen waren: „Jetzt sind die Bösen da – jetzt werden wir’s ihnen zeigen. Jetzt werden wir sie erwischen und umbringen wie die Ameisen mit heißem Wasser. Jetzt haben wir sie alle auf einem Haufen“. So wurde in den umliegenden Dörfern geredet. Das waren die ehemaligen Mitglieder der Zivilpatrouillen, die auf der Seite der Armee waren. Also fiel mir in dem Moment ein: Jetzt ist es also soweit. Aber das wird nicht so leicht sein. Dass die uns einfach… Nein. Was wird passieren? Ich weiß es nicht.

Wenn ihr etwas hört, was wie ein Feuerwerk klingt, dann rennt sofort weg.

Kreuz auf dem Massakerplatz von Xamán. Bild: Lars Barthel. Copyright: ZDF / pop tutu film, 2008.Und was habe ich gemacht? Ich habe zu meinen zwei Kindern, der Tochter und dem später gestorbenen Sohn gesagt: „Kommt, hört zu Kinder! Ich gehe jetzt gucken, was da im Zentrum los ist. Warum die gekommen sind. Und ihr – wenn ihr etwas hört, was wie ein Feuerwerk klingt, dann rennt sofort weg. Und dann werft euch auf den Boden. Egal wo, in den Graben, auf den Weg… Rennt quer über die Straßen. Lauft weg! Denn wir werden nicht alle sterben, es wird immer welche geben, die übrig bleiben um zu sagen, was passieren wird. Rennt. Den Leuten hinterher!“ Und ich sagte: “Ihr bleibt jetzt hier stehen.” Ich ließ sie also dort am Straßenrand zurück und ging los. Den Kleinsten, den ich auf dem Arm getragen hatte, band ich mir auf den Rücken. Da war also die Armee schon angekommen und die Leute forderten, dass sie auf MINUGUA (die Menschenrechtsmission der Vereinten Nationen für Guatemala) warten sollten und dass sie denen sagen sollten, warum sie hergekommen sind. Denn das ist Privatgrund und sie haben hier nichts zu suchen. Sie verletzen unser Hausrecht. Natürlich gab es eine Diskussion, aber das war keine große Sache. Ich denke, jedes menschliche Wesen hat doch das Recht zu fragen: Warum seid ihr hergekommen? Was wollt ihr hier? Also, als ich dort hinkam, da war das für mich keine Sache, wo wir sie hätten umbringen wollen, sondern man fragte, was sie hier wollten und hatte ihnen gesagt, dass sie warten sollten, bis MINUGUA kommt und das Hochkommissariat – Personen, denen wir immer vertraut haben – und denen sie berichten können, warum sie da sind. Aber da stand vor mir die Frau… eine Frau, die dann starb. Und sie kamen so mit ihren Waffen auf sie zu und ich brüllte: „Runter mit euren Gewehrläufen!“ Das ging doch nicht, dass die da auf die Leute gezielt haben. Nicht aufgepaßt und zehn sind tot. Und dann geht es mit den nächsten zehn weiter oder mit mehr!

Also, der Befehlshaber, ich wusste damals nicht, wie er heisst, der hatte ein Tuch, das nahm er und machte so eine Geste damit und dann befestigte er es wieder. Und daraufhin kamen die Soldaten, luden ihre Waffen durch und… na, ja … die Leute beharrten einfach weiter darauf, dass es doch ihren Familienangehörigen in den achtziger Jahren so ergangen ist. “Zuerst kommen sie und provozieren uns und dann töten sie!“ Das sagten die Leute. Und eine Frau schrie: ”Genau deshalb ist mein Mann 1980 gestorben und bis heute leide ich mit meinen Kindern!“ Und da fingen sie an, alle dort, mit diesem “Plang! Plang!” Das heisst, sie luden ihre Gewehre durch. Das fing an und dann ging es vor mir los, da schossen sie auf die Frau. Und der Qualm… das vergesse ich nie, eine Rosette, rosafarbene Funken. In dem Moment habe ich nicht an meine Kinder gedacht. Ich habe an überhaupt nichts mehr gedacht. Und dann war vor mir…. Was sollte ich so plötzlich tun? Vor mir war das Maschinengewehr und sie zerrten und traten dagegen, damit es funktionieren sollte. Aber es funktionierte nicht. Wenn es funktioniert hätte, dann hätte es die ganzen Leute weggeputzt. Dann wäre Nati nicht nach Deutschland gekommen. Wirklich nicht.

In dem Moment habe ich mich hingeschmissen, ich weiss es nicht mehr, ich habe mich auf den Boden geworfen. Die Leute sagen, dass ich gerufen habe: “Los! Rennt!” Und ich bin dann auch losgerannt und dann haben sie die Hinterbacke von meinem Sohn erwischt. Mit einem Splitter. Und mich hat etwas gestreift, dort am Tragetuch, aber ich… Als ich dann auf der Strasse ankam und nachhause, war da niemand. Und ich habe nicht an meine Kinder gedacht. Auf einmal kommt eine Frau an: “Nati, Nati bist du am Leben?” – “Ja”, sage ich. – “Und deine Kinder?” – Also bin ich zurückgelaufen und habe geschrieen und geschrieen und sie gerufen. Und ich hab sie gefunden. Weiter hinten. Was machten meine Kinder? Sie knieten und beteten zu Gott, dass mir nichts passiert. Die Leute weiter hinten im Dorf hatten gar nichts gesehen, manche hatten auch gar nicht achtgegeben, was los war. Es war ja auch Arbeitszeit. Es gab welche, zum Beispiel Pedro Medina (der damalige Vizepräsident der Kooperative – A. L.) und noch einen, die nagelten gerade die Wellbleche fest, dort, wo der Tanz sein würde, auf der Mehrzweckhalle, wie man so sagt. Wir nennen sie “galera”. Sie hatten schon die Hälfte von dem Wellblechdach befestigt. Dann sind sie runtergestiegen und gestorben.

Die stellen uns auf die Probe, die wollen uns wieder einschüchtern.

Wie soll ich sagen, ob ich daran gedacht habe, nach Mexiko zu flüchten… Es gab welche, die auch den Krieg erlebt hatten, die haben ihre Sachen gepackt und sind weg. Sie sind weg. Sie haben gesagt: “Wir hauen ab! Wir wollen keinen Krieg mehr! Kein Blutvergießen.” Andere haben es bloß gesagt. Aber das haben wir erst später erfahren. Also ich… dass ich durchgehalten habe, das war nur möglich, weil ich meine Kinder wiederfand, auch wenn mein Söhnchen ziemliche Stösse abbekommen hatte. Weil er unter den Leuten liegengeblieben war. Ich bin damals wieder ins Zentrum zurück, um nach den Toten zu sehen. Einer starb gerade. Und da war ein Mädchen, mit dem ich immer gesprochen hatte. Und nun sprach sie, oder sie schrie mehr, aber hier (deutet auf ihren Hals – A. L.), hier kamen die Worte raus. Aber sie lebte. Maurilia… Und ich hab ihr gesagt: “Mach dir keine Sorgen, du wirst leben.” – “Ja”, sagte sie, aber hier durch den Hals: “Ja, ich werde in die Schule gehen. Ich werde singen.” (1) Und dann bin ich zur nächsten gegangen. Und die Toten lagen da. “Ayyy”, sagte ich. Da habe ich nicht an Mexiko und an gar nichts gedacht. An nichts.

Und es war keiner da, ich konnte mit niemandem… mein compañero war nicht da, um mit ihm zu sprechen: „Lass uns überlegen, was wir tun.“ Als er kam, da… da waren schon die Toten da… da war das Massaker schon passiert. Und ich sagte zu ihm: “Gehen wir!” – “Wo gehen wir hin? Wohin denn?” – “Ja”, sage ich “Sterben. Wir gehen sterben.” – “Nein”, sagt er, “Nein, hier werden wir leben. Wir werden durchhalten. Im Krieg sind wir nicht gestorben. Bei der verbrannten Erde, als die Soldaten mit ihren Kötern kamen, solchen Hunden und iiiiihhh …. und die haben gebellt und vom Hubschrauber aus haben sie mit dem Maschinengewehr geschossen. Und die Kriegsflugzeuge haben Bomben geworfen. Da sind wir nicht gestorben. Und jetzt wieder nach Mexiko?  Die stellen uns auf die Probe, die wollen uns wieder einschüchtern.” –  Und zu einem gewissen Teil achte ich seine Meinung hoch. Auch andere sagten: “Wo sollen wir denn hin? Dazu (damit wir einen Ort haben, wo wir hinkönnen – A. L.) sind wir doch zurückgekehrt. Unser Haus haben wir mit uns getragen: Ein Stück Plastikplane. In Veracruz haben wir unsere Plastikplanen aufgespannt. Unter Tränen sind wir zurückgekommen und hierher nach Xamán. Und jetzt  wieder? Wo sollen wir denn jetzt hin?” – “Uns bleibt nur noch Platz unter der Erde. Da endet alles. Es gibt keinen Ort, wo wir hinkönnten.” – “Mach dir keine Sorgen. Um wen weinst du denn?” – “Ich weine um meine Kinder, meine Kinder…“ Ich habe ja schon ein paar Jahre auf der Welt genossen und etwas kennengelernt. Aber meine Kinder und all die anderen Kinder…

Aber das Entscheidende ist immer die Kommunikation. Wir haben uns zusammengesetzt: “Aber Nati, wohin gehen wir? Was machen wir?” – “Es gibt keine Möglichkeit. Nichts werden wir machen.” Und mein verstorbener Sohn, der hat sich dauernd versteckt. Bei jedem Lärm. Und als der Hubschrauber kam, um die Toten zu holen, da ist er durchgedreht, weggerannt, hat sich dort unter einer Brücke versteckt. Er hatte immer gefragt: “Wie ist es denn im Krieg, Mama? Als du im Krieg warst, wie habt ihr euch da gerettet?” – “Na ja, man muss ich verstecken, unter einem Felsen oder hinter einem Felsen oder einem Baum. Irgendwas muss man finden.” Und das hatte er sich gemerkt.

Ist es etwa nicht so, dass Guatemala ein Rechtsstaat ist?

Alfonso. Bild: Lars Barthel. Copyright: ZDF / pop tutu film, 2008.Also, wir haben beratschlagt und den Entschluß gefasst, in Xamán zu bleiben. Klar, gab’s auch Leute, die weg wollten. Aber es gab Versammlungen und es war wie immer: Der eine hat eine Idee, der andere eine andere, ein dritter wieder eine andere und so weiter. Was also tun? Derjenige, der sich vorne hingestellt hat, war der inzwischen verstorbene Alfonso. Es kamen nämlich viele, viele Leute um Interviews zu machen und uns auszufragen, was genau passiert ist: “Was hast du gesehen?” Manchmal fragten sie Leute, die gar nichts gesehen hatten. Sie hatten davon gehört, waren aber nicht vor Ort. Also, da hatte es doch keinen Wert zu sagen: “Ja, ja wir haben davon gehört. Und wir haben die Toten gesehen.” – “Aber, haben die Soldaten sie getötet?” – “Tja, keine Ahnung. Hab ich nicht gesehen.” –  So ging es nicht. Das waren doch auch keine gerichtsverwertbaren Befragungen. Also, derjenige, der sich am meisten ins Zeug gelegt hat, ist der verstorbene Alfonso Hernández. Schade, dass er… Er ist eine Person, die Mut hatte, die Initiative hatte. Und er war damals der einzige, der sich hingestellt und durchgehalten hat.

Teils war das so, weil sein Schwager umgebracht worden war. Der kam gerade an. Sie wollten eine (regionale, A. L.) Lehrerversammlung in Xamán abhalten. Sie kamen einer nach dem andern an – und bloß zum Sterben. Das war Abél Ramírez und eine Lehrerin aus dem Ixcán, Manuela, aus der Gemeinde Los Angeles. Sie waren gerade am Ankommen. Die junge Frau hat nur ihren Rucksack bei der Nachbarin abgestellt,  kam ins Zentrum hoch und lief direkt in den Tod. Das hat einen großen Eindruck bei dem verstorbenen Alfonso hinterlassen. Sein Schwager kam auch gerade an, mit der ganzen Familie. Und danach, da wollten sie ihn einfach wegschleifen, so nach dem Motto: “Los, beerdigt ihn! Was passiert ist, ist passiert.” Aber Alfonso hat sich gewehrt: “Sie müssen zu einer Untersuchung gebracht werden, zu einer Autopsie. Wir lassen nicht zu, dass nichts gemacht wird.” Das war eine große Widerstandskraft. Was da, glaube ich, geholfen hat, war, dass es Workshops über Menschenrechte gegeben hatte. Da konnte man die Gesetze entdecken: Ist es etwa nicht so, dass Guatemala ein Rechtsstaat ist? Ist es etwa nicht so, dass die Armee zu den staatlichen Autoritäten gehört?

Bringt uns doch um! Ich bin bereit! Es reicht jetzt!

Es gab also Workshops in Mexiko und einige von uns hatten daran teilgenommen. Auch Alfonso hatte seine Menschenrechts-Kurse abgeschlossen. Das heißt, er wußte, dass man diese Untersuchungen machen muss. Dass die Toten weggebracht werden mußten. Dass sie zu Beweismitteln werden mussten. Denn die Armee sagte „Nein. Wir haben keine Granaten geworfen. Wir hatten nichts dergleichen dabei.“ – Was war es denn dann, was da explodierte? Dieser Krach, der klang wie eine Explosion. Was ist das? Sie sagten, sie waren das nicht. Aber man hat dann doch was gefunden. Und es kamen sogenannte Ballistiker – ich weiß nicht so recht, was das ist – jedenfalls haben die vor Ort Untersuchungen gemacht und einige Splitter gefunden. Soweit kann ich was dazu sagen. Ich war damals als Mutter mit meinen heulenden Kindern zuhause. Die, die sich da mehr engagiert haben, waren Alfonso und später dann auch Martín und was die ärztliche Versorgung angeht, José Luis. Auch später vor Gericht. Aber da lagen diese ganzen Prozeduren dann schon in anderen Händen. Dazu weiß ich nicht mehr. Der Punkt ist, dass diese ganze Prozessgeschichte sehr, sehr lange gedauert hat. Wir sind dort hingefahren und sie haben gesagt: „Nein, noch nicht. Wir haben kein Personal. Die Übersetzer sind nicht da. Geht wieder nach Hause.“ Für die war das, als hätten wir einen touristischen Ausflug gemacht. Obwohl sie doch genau wußten, dass wir erst neu angekommen waren mit unserer Gemeinde. Wir hatten kein Geld, kein Einkommen, keinen Mais oder Bohnen zum Verkaufen! Gelegentlich kam ein bisschen was von außen, aber das reichte nicht. Na ja, wenn alle zusammenstehen, schafft man es trotzdem. Die andere Zeugin sagte: „Wir fahren hin. Egal wie.“ – „Aber sie haben gesagt: Den Typ da bringen wir um – und Nati auch!“ – „Bringt uns doch um! Ich bin bereit! Es reicht jetzt! Mehr nicht mehr. Mehr nicht mehr. Hier nicht mehr!“ Jetzt reicht’s! (auf Deutsch).

Obwohl die Armee Hunderte Massaker begangen hat, haben sie nie zugegeben: „Ja, wir haben das gemacht.“ Oder: „Ja, mein Soldat war das.“ Oder: „Ich habe den Befehl gegeben.“ – Kein einziger! Also hatten wir Zweifel, ob wir überhaupt etwas erreichen würden. Aber es war immer wieder Alfonso, der gesagt hat: „Doch. Wir werden es schaffen!“  Warum? Weil wir die ganzen Beweismittel hatten, auch wenn sie die natürlich nicht akzeptieren wollten. Sie haben sie erstmal zurückgewiesen, genauso wie sie die Staatsanwälte nicht haben wollten, den, wie heißt er, Contreras. Das wird mir jetzt erst, Stück für Stück, klarer. Früher hatte keiner von uns sich überhaupt vorstellen können, was es da im Rechtswesen alles gibt. Und obwohl es offensichtlich war, haben sie’s nichts zugegeben. Zum Beispiel das Gemetzel, das sie in Xalbál angerichtet haben. Was sie mit den Kindern gemacht haben, die sie den Müttern aus dem Bauch gerissen haben und sie aufgespießt als wären sie ein Stück Grillfleisch. Und die vergewaltigten Frauen, die Mädchen mit 14 oder 15 Jahren, die sie verstümmelt haben und dann den Kopf abgeschnitten…. und was nicht noch alles. Wer setzt für sie heute ein Denkmal? Keiner. Keiner.

Für diejenigen, die weit weg von uns leben, zum Beispiel in der Hauptstadt, für die ist der Ixcán Dschungel und Guerillagebiet: „Da sind die Bösen.“ Auch deswegen kann man nicht vorhersagen, ob man etwas erreichen wird oder nicht. Deswegen hatten wir Angst, das ist ganz menschlich. Aber deswegen habe ich auch immer gesagt und sage es weiterhin: „Wenn sie mir den Kopf abschneiden, wenn sie mich umbringen, dann ist es, weil ich gesagt habe, was ich erlebt habe. Was ich in den siebziger und achtziger Jahren erlebt habe und dann noch mal als neuen Schlag.“ Damals gab es keinerlei Sicherheit, es gab auch nicht die Vision, dass man etwas erreichen könnte. Aber jetzt mit den Beweismitteln, mit dem in den Kursen Gelernten, mit neuen Ideen, da fehlte dann nur die Person, die vortrat, sich wehrte und sagte: „Wir müssen’s machen!“ Das war zum Beispiel Alfonso: „Doch. Wir müssen da durch.“ Das heißt, für mich ist Alfonso heute nicht tot: Er lebt. – „Wir müssen’s machen.“ –  „Aber wie? Wir haben keine Mittel.“ – „Doch, mit den Beweisen und den Fotos von den Soldaten…“ Das war eines der Elemente, warum wir’s schaffen konnten. Sie haben uns zwar eingeschüchtert, nach dem Motto „Wartet nur, wir schnappen uns einen nach dem anderen von denen, die aussagen. Ah, da ist der… Ah, und da kommt Nati. Da ist sie schon. Die sind’s.“ Aber, was sollte ich mich dort schuldig bekennen? Ich habe keinerlei Massaker begangen. Sondern auf unsere Rechte gepocht. Das schon. Warum konnte ich das tun? Zum einen weil die Rückkehr sehr viel Begleitung hatte, von internationalen Leuten. Und zum andern, weil wir das guatemaltekische Gesetz entdeckt hatten und wie man einen ordentlichen Prozess führt, den ganzen Ablauf. Also, das war der Hintergrund. Aber wir denken nicht, dass wir alles auf einmal erreichen können. Einen ersten Schritt. Es ist ein erster Schritt.

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(1) Maurilia Coc Max, die damals 8 Jahre alt war, starb kurz darauf in der Gesundheitsstation der Gemeinde.

Bildquelle:

Lars Barthel. Copyright: ZDF / pop tutu film, 2008.

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