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Venturini, Aurora: Wir, die Familie Caserta

Gonzalo Compañy | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

Zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Novelettes Die Cousinen im dtv Verlag (span: Las Primas), Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse 2022, legt der Münchner Verlag mit Wir, die Familie Caserta einen weiteren Band aus dem Werk der verstorbenen argentinischen Schriftstellerin Aurora Venturini (1921-2015) vor.

Ihre ersten Schritte als Autorin unternahm sie im Bereich der Poesie, und bald darauf erhielt sie den «Initiationspreis» von Jorge Luis Borges persönlich für den 1951 erschienenen Gedichtband El solitario. Im Laufe der Zeit folgten weitere Preise und Anerkennungen sowohl in Argentinien als auch im Ausland, darunter die Auszeichnung als «Ehrenbürgerin» ihrer Heimatstadt La Plata. Selbst wenn Venturini seit Anfang der 1940er Jahre bis den 2000er Jahren fast 40 Bücher in ihrem Heimatland veröffentlicht hatte, waren die meisten von ihnen in kleinen Verlagen mit geringer Vertriebskapazität und Medienpräsenz erschienen – und blieben daher unbekannt für den größten Teil der Öffentlichkeit. Doch die Aufmerksamkeit des Verlagsmarktes, der offensichtlich auf andere Aspekte konzentriert ist, ließ auf sich warten.

Die Weihe als bahnbrechende Schriftstellerin erhielt sie erst im Alter von 85 Jahren im Jahr 2007, als sie mit dem bereits erwähnten Roman Las Primas einen von der argentinischen Zeitung Página/12 ausgeschriebenen Literaturwettbewerb gewann. Einerseits mag es paradox erscheinen, dass die Autorin den Preis für den «Neuen Roman», d. h. für neue Stimmen, erhalten hat. Andererseits ist es doch gar nicht so widersinnig, vor allem wenn man bedenkt, dass Venturinis Werk gegen den Strich eines literarischen Umfeldes geht, das von eintönigen Stimmen gesättigt ist. Der Preis rettete also nicht nur eine echte Kulturprotagonistin des 20. Jahrhunderts vor dem Vergessen, sondern machte auch ein immenses Werk sichtbar, das zahlreiche Romane, Kurzgeschichten, Essays und Poesie umfasst. Seitdem hat der spanische Verlag Tusquets damit begonnen, ihr belletristisches Werk schrittweise neu aufzulegen – bisher sind sieben Bände erschienen. Unter dem Titel Esta no soy yo (2023) hat derselbe Verlag kürzlich zudem eine Biografie Venturinis publiziert, erstellt von Liliana Viola, ihrer Erbin und literarischen Nachlassverwalterin – die hoffentlich bald auch ins Deutsche übersetzt werden kann.

Obwohl Wir, die Familie Caserta erst 1992 erschien, es war bereits in den 1960er Jahren entstanden und hatte anschließend zwei Literaturpreise gewonnen – den Premio Domani in Verona und den Premio Pirandello de Oro des Sizilianischen Kollegiums. Der Roman schildert in der ersten Person das Leben seiner Protagonistin Maria Micaela „Chela“ Stradolini, eines Mädchens, das schon sehr früh unter dem Mangel an familiärer Zuneigung leidet und infolgedessen einen ebenso talentierten wie abschreckenden Charakter entwickelt. Die Handlung beginnt im Argentinien der 1920er Jahre und endet in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Die Autorin verwendet dazu Ereignisse aus dem politischen Leben Argentiniens aus der Sicht einer Familie der oberen Mittelschicht in der Stadt La Plata und einige reale Personen, denen die Protagonistin begegnet.

Als Erwachsene wühlt Chela in einer Truhe voller Papiere und Fotos, Erinnerungen, die ihre frühen Jahre Revue passieren lassen. Die skrupellose Verachtung durch die eigene Familie, die Verbannung auf den Dachboden des Familienanwesens nach einer ansteckenden Kinderkrankheit, der flüchtige Aufenthalt in einem Internat, das Philosophiestudium – und die Entdeckung der Literatur von Rimbaud, Lautréamont und Proust, mit deren Hilfe sie ihr Leben in einer äußerst feindseligen Welt beschreibt, bilden den Ausgangspunkt für die Protagonistin, eine brillante Intelligenz und Subjektivität zu entwickeln und zu versuchen, das besondere Schicksal zu verstehen, zu dem ihre Abstammung seit Jahrhunderten verdammt zu sein scheint.

Von den anderen u. a. als „die Pest“ (S. 18), „ein Tier“ (S.23), „Bestie“ (S.56) bezeichnet, spricht Chela über die Familienmitglieder als „die Menschen“. Sie kämpft nicht um einen Platz unter ihnen, sondern nur eben darum, sie selbst zu sein. Dies führt sie auf eine lange Reise auf der Suche nach dem Ursprung ihrer Ängste. Demzufolge verlässt Chela für eine Weile ihren Dachboden, um nach Europa zu reisen – dem Topos der argentinischen Literatur schlechthin, von Domingo Faustino Sarmiento (1811-1888) bis Julio Cortázar (1914-1984), um ihre sizilianische Herkunft wiederzuentdecken.

Wenn, wie bereits erwähnt, die Aufmerksamkeit der argentinischen und internationalen Verlagsbranche für Venturinis Werk auf den Literaturpreis zurückzuführen ist, den sie 2007 für Las Primas erhielt, so lässt sich die deutsche Übersetzung dieses neuen Bandes, Wir, die Familie Caserta, innerhalb des umfangreichen Werks der Autorin auf eine gewisse Ähnlichkeit beider Romane zurückzuführen. Tatsächlich handelt es sich um den zweiten Teil der sogenannten „Trilogie der drei Zeitalter“, deren letzter Band der Roman Los Rieles (2013) ist.

Wie schon in Die Cousinen, entfaltet sich der Roman Wir, die Familie Caserta in der gequälten Stimme seiner hochbegabten Protagonistin, einem Mädchen (bzw. einer Frau), das aus einem seelenlosen familiären Umfeld stammt und seine Weltsicht ohne Reue beschreibt. Dabei ist Venturinis Sprachgebrauch ebenso originell wie frei von jeglichen Formalitäten und moralischen Kompromissen. Dazu werden auch in dem Roman auch „lysergische“ Szenen in die Beschreibung integriert – ohne den Lesenden darauf zu warnen. Trotz der Darstellung eines grausamen und extravaganten Kontextes setzt Venturini jedoch keinen Krimi ein, sondern es gelingt ihr, eine „andere“ Alltagswelt an ihre Grenzen zu treiben.

Der Band wird von einem kurzen Essay in Form eines Nachworts begleitet, in dem die Übersetzerin Johanna Schwering einerseits Venturinis Leben und Werk in einem Zusammenhang stellt (u. a. mit Literatur und Dokumentationen über die Autorin) und andererseits die durchgeführte Übersetzungsarbeit beschreibt, die eine Quellenarbeit erforderte – nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen direkten Zitate der Protagonistin Chela im Buch.

Wir, die Familie Caserta ist zweifellos ein unkonventioneller Roman, geschrieben von einer vielseitigen und glücklicherweise sehr ergiebigen sowie originellen Autorin. Die Veröffentlichung der Übersetzung dieses zweiten Bandes von Aurora Venturinis Werk ist sowohl ein Grund zum Jubeln als auch ein Akt der Gerechtigkeit – eine Flaschenpost im Meer, die die zeitgenössische Literatur beflügeln und ihrer Leser:innen wachrütteln wird.

 

Aurora Venturini

Wir, die Familie Caserta

dtv Verlag. München 2024

 


 

Bildquelle: [1] CoverScan

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