Von Amor bis Zarzuela
Ein Gesellschaftstanz vom Río de la Plata erobert die Welt: der Tango. In seiner Anfangszeit galt er wegen seiner sinnlichen Erotik als anstößig, mittlerweile zählt er seit fast hundert Jahren auch in Deutschland, Frankreich, England, Finnland oder Japan zu den beliebtesten Standardtänzen und erfreut sich in den letzten Jahren einer ständig wachsenden Fangemeinde. Nachdem wir in Nr. 32 das Lexikon der lateinamerikanischen Volks- und Populärmusik („Música Latinoamericana“) vorgestellt haben, liegt nun ein weiteres ambitioniertes Projekt des Musikologen, Journalisten und Archivars Egon Ludwig vor. Auf mehr als 700 Seiten präsentiert er in seinem Tango-Lexikon die „Fakten und Figuren des berühmten lateinamerikanischen Tanzes“. Die vom Verfasser im Jahre 1979 aufgebaute Datenbank „Lateinamerikanische Musik“ (Mula) bildet auch hier die Basis für sämtliches Datenmaterial. Das illustrierte Lexikon wird ergänzt durch eine umfassende Diskographie, die sich, im Unterschied zum Lexikon der lateinamerikanischen Musik, bis ins Jahr 2000 erstreckt. Wer sich weiterführend informieren möchte, wird in einer Auswahlbibliographie fündig.
Nach Aussage des Verlages ist dieses Lexikon „unentbehrlich für jeden Tango-Tänzer“. Der wird jedoch im allgemeinen nicht allzu viel damit anzufangen wissen, handelt es sich doch vielmehr um ein Nachschlagewerk für echte Tango-Sammler und -Kenner, deren (theoretische) Leidenschaft diesem Tanz gilt. Eine anschauliche Darstellung der lediglich in kurzen, nicht-illustrierten Stichworten erläuterten choreographischen Figuren und Schritte in einem kleinen Tanzkurs hätte das Mammutwerk sympathisch und „benutzerfreundlich“ abgerundet.
Wer hingegen Namen und Begriffe rund um den Tango, auch jenseits des Mainstream, sucht, der wird hier umfassend informiert: Geschichte und Entwicklung, Texter, Komponisten, Musiker, Sänger und Tänzer sowie bemerkenswerte Tangos sind detailgenau aufgeführt. Die Auswahl an übersetzten Tango-Texten fällt jedoch sehr bescheiden aus, was verwundert, angesichts der gesellschaftlichen und sozialen Bedeutung, die der Autor diesen Texten im Vorwort beimisst. Der informierte Leser, an den sich diese als Einstiegslektüre ungeeignete Sammlung richtet, vermisst zudem die Erwähnung von Julio Cortázar, Manuel Gálvez, Ricardo Güiraldes oder Victoria Ocampo, durch die das Tango-Motiv Eingang in die Literatur fand. Lediglich Jorge Luis Borges ist ein Eintrag gewidmet.
Überhaupt scheinen ein wenig die Geschichten zu fehlen. Darin liegt jedoch wiederum die große Stärke dieses Lexikons, das sich wohltuend von emotionsschwangeren, lediglich auf die Kraft erotischer und melancholischer Stimmungen setzenden Bildbänden und von akribischen wissenschaftlichen Abhandlungen unterscheidet. Dazu gehört auch, dass der Autor bewusst vom „Tango ríoplatense“ anstatt vom „argentinischen Tango“ spricht und viele Fachbegriffe unübersetzt lässt, um sie nicht ihrem regionalen bzw. historischen Kontext zu entreißen und der Beliebigkeit eines Trends zu opfern. Auch die Tango-Szene in den USA, Deutschland, Japan, Spanien, Frankreich und Finnland finden ihre verdiente Würdigung.
Dieses Lexikon bietet kompetente und kompakte Informationen für Musikliebhaber. Es ist ein Standardwerk und Orientierungshilfe im Dickicht des Tango-Booms, um den Wert der auf dem Flohmarkt erstandenen Schallplatte oder die Qualität des nächsten Tango-Abends besser einschätzen zu können.
Egon Ludwig
Tango Lexikon
Der Tango ríoplatense – Fakten und Figuren des berühmten lateinamerikanischen Tanzes
Lexikon Imprint Verlag
Berlin 2002