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Awka Liwen – „Rebellisch erwachen“

Kristina Hille | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Dokumentarfilm führt in Argentinien zu Debatte über Einhaltung der ILO Konvention 169

argentinien awka liwen snapshot Argentinien und die Staaten der Amerikas haben im Dezember 2011 mit dem Gründungsgipfel in Caracas die CELAC endgültig besiegelt. In dieser ersten Gesamtunion amerikanischer Staaten, ohne USA und Kanada, wollen die Mitglieder auch ihren kulturellen Wurzeln mehr Beachtung schenken. Bis dato definiert sich jedoch insbesondere Argentinien als ein europäisches Land. Diese Tatsache ist verwunderlich, haben doch über 60 % der Bevölkerung indigene Vorfahren. Auch die argentinische Vergangenheitsaufarbeitung beschränkt sich bisher auf die Verbrechen, die während der letzten Militärdiktatur begangen wurden. Unter dem Diktator Videla und seinem Wirtschaftsminister Martínez de Hoz kamen circa 30.000 Menschen ums Leben. Der erste Genozid in der argentinischen Geschichte fand allerdings kurz nach der Unabhängigkeit statt, während der sogenannten „Wüstenkampagnen“. Dabei wurde die indigene Bevölkerung gewaltsam von ihrem Territorium vertrieben und umgebracht. Involviert in diese Massaker war auch der argentinische Verein der Großgrundbesitzer, die sogenannte Sociedad Rural. Deren Gründungsmitglied ist der Urgroßvater des Wirtschaftsministers der letzten argentinischen Diktatur, Martínez de Hoz.

Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes definiert diesen als eine Handlung, „die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Dies erfolgt unter anderem durch die Tötung von Mitgliedern der Gruppe oder die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere. Über den Genozid an der indigenen Bevölkerung wurde in Argentinien bisher nur vereinzelt diskutiert. Einen Anstoß zu einer breiteren Debatte lieferte der Film „Awka Liwen“. Osvaldo Bayer zeichnet eben jene Geschichte nach, die so lange vertuscht und unbekannt war. So wie „La Patagonia Rebelde“ zu einer großen Aufregung führte, so sorgte auch „Awka Liwen“ in Argentinien für Empörung. Wie groß der Ärger über den Dokumentarfilm bei einigen Argentiniern ist, zeigt sich an der Klage, die die Enkel des Ex-Ministers Martínez de Hoz nun betreiben. Sie fühlen sich durch die Erklärungen im Film in ihrer und der Ehre der Familie gekränkt. Das Verfahren wurde in der ersten Instanz wegen Gefährdung der Meinungsfreiheit abgewiesen und sieht sich nun vor der Kammer, der auch Richter angehören, die während der letzten Diktatur aktiv waren und mit dem System sympathisierten. Besonders erstaunlich ist die brüskierte Reaktion auf den Film in Anbetracht der Tatsache, dass dieser sowohl von der Regierung als auch von der Abgeordnetenkammer zum „nationalen Interesse“ erklärt wurde.

Hier wird einmal mehr deutlich, wie wenig die ILO Konvention 169, die einzige internationale Konvention zum Schutz der indigenen Völker, bisher bewirkt hat. Indigen sind Völker, die „von Bevölkerungsgruppen abstammen, die in dem Land […] zur Zeit der Eroberung oder Kolonisierung oder der Festlegung der gegenwärtigen Staatsgrenzen ansässig waren und die […] einige oder all ihre traditionellen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Einrichtungen beibehalten“. Die Konvention besagt, dass indigene Völker nicht zwangsumgesiedelt werden dürfen und dass sie befragt werden müssen, bevor Lizenzen in ihren Gebieten erteilt werden. Sie spricht der indigenen Bevölkerung ein Recht auf ihr Stammesland zu und garantiert den Erhalt ihrer Kultur und Spiritualität. Argentinien hat im Jahr 2000 als einer von bisher 22 Staaten die Konvention ratifiziert. In Artikel 75 der neuen argentinischen Verfassung (1994) sind die Rechte der indigenen Bevölkerung eingefügt und das Gesetz 26.160 spricht sich noch einmal explizit gegen Zwangsumsiedlungen aus. Nichtsdestotrotz wird die indigene Bevölkerung weiterhin von ihrem angestammten Land vertrieben, was seine Ursache nicht zuletzt in den hohen Weltmarktpreisen für Soja und Getreide hat. Diese Umsiedlungen finden meist ohne die vorgeschriebene vorherige Konsultation statt. Besonders gravierend ist dies, weil die Mehrzahl der indigenen Bevölkerung Subsistenzwirtschaft betreibt. Sie bewirtschaftet in der Regel eine Allmende im Sinne von Elionor Ostrom, wobei die angestammten Böden als Ernährungs- und Existenzgrundlage dienen.

Mit der versäumten Aufarbeitung der Verbrechen an der indigenen Bevölkerung steht Argentinien auf dem amerikanischen Kontinent jedoch keinesfalls alleine da. Ähnlich wie das argentinische Ley de Enfiteusis, das das Land der indigenen Bevölkerung als Erbpacht anbot, so teilte auch das US-amerikanische Landgesetz von 1785 das Territorium der indigenen Bevölkerung in Parzellen auf, um es zum Verkauf zur Verfügung zu stellen. Und so wenig, wie die „Campañas del Desierto“ bisher zum offiziellen Schulunterricht in Argentinien gehören, so wird auch der „Trail of Tears“ in den USA nicht debattiert. Bei den gewaltsamen Umsiedlungen der indigenen Bevölkerung in den Südwesten des Landes wurden Familien zerrissen, viele starben. „Nunna daul Tsuny“ bedeutet auf Cherokee so viel wie „der Weg, auf dem wir weinten“. Der Genozid an der indigenen Bevölkerung Amerikas dauerte mehrere Jahrhunderte und endete in den USA mit dem Massaker von Wounded Knee. Die neuen, unabhängigen Staaten hatten die während der Kolonialherrschaft begangenen Gräueltaten lediglich weiter betrieben. Wie wenig die ILO Konvention 169 nach wie vor weltweit Beachtung findet, wird insbesondere bei einem Blick auf Guatemala klar. Auch nach den Massakern im Zuge der Politik der „verbrannten Erde“ regiert dieses Land, in der die Bevölkerungsmehrheit indígenas sind, noch immer eine Minderheit, die ladinos. Bischof Gerardi wurde im Anschluss an das Erscheinen des REMHI-Abschlussberichts „Nunca Más” brutal ermordet. Auf den Territorien der indigenen Bevölkerung wird nach Edelmetallen gegraben und bis heute ist das Land voll mit geheimen Massengräbern in militärischen Sperrzonen.

Hoffen wir, dass Argentinien eine andere, wegweisende Richtung einschlägt und entscheidende Schritte geht, die im kollektiven Gedächtnis Platz für eine Erinnerung an die Verbrechen bereiten, die an der indigenen Bevölkerung begangen wurden. Hoffen wir auch, dass unser Film „Awka Liwen“ (in Mapuche „rebellisch erwachen“) nicht nur zu einer Debatte über den ersten Genozid in der argentinischen Geschichte geführt hat, sondern ebenso dazu beiträgt, dass die internationale Konvention zum Schutz der indigenen Bevölkerung tatsächlich nachhaltiger beachtet wird und endlich zu Anerkennung und  Wiedergutmachung führt. Ein erster Schritt in diese Richtung wäre es, wenn die argentinische Präsidentin offiziell für das begangene Unrecht an der indigenen Bevölkerung um Vergebung bitten würde.

Dr. phil. Kristina Hille ist Co-Autorin und-Regisseurin von „Awka Liwen“.

Awka Liwen
(Argentinien 2010)
Drehbuchautoren: Osvaldo Bayer, Mariano Aiello und Kristina Hille

Regie: Mariano Aiello und Kristina Hille

http://www.awka-liwen.org/

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Bildquelle: Snapshot

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