Der mit dem Akkordeon reiste
Von kolumbianischen Filmen hört und liest man in der deutschen Kulturlandschaft ja eigentlich fast nie – völlig zu unrecht. Denn anders, als einem die vielen, oft ähnlich gelagerten Nachrichten aus diesem Andenstaat suggerieren, ist sein Kino außerordentlich vielseitig und von großer Kraft. Mit dem Los viajes del viento betitelten Film, der von der Reise zweier Menschen und eines Akkordeons erzählt, schuf der Kolumbianer Ciro Guerra ein kinematografisches Abbild seiner Heimat, dessen Geschichte und Bildkraft auf den Festivals der Welt begeisterten. Nach großen Problemen bei der staatlichen Kinoförderung Focine (Compañía de Fomento Cinematográfico) und lediglich zwei Filmen pro Jahr, kommt das kolumbianische Kino seit 2003, dem Jahr der Implementierung einer neuen staatlichen Förderung, in Schwung. Seitdem entstanden im Jahresmittel etwa acht nationale Produktionen. Ganz ähnlich wie in Brasilien vereint das Ley 814 del Cine die Förderung privater nationaler Filmproduktionsfirmen und schafft zugleich Finanzierungsanreize für ausländische Investoren.
Doch zurück zu Regisseur und Film. Los viajes del viento (Die Reisen des Windes) erschien 2009 und ist Guerras zweiter Spielfilm, nach einigen Cortos und La sombra del caminante aus dem Jahr 2004. Man muss sich den Film im Grunde vorstellen wie ein Roadmovie, mit dem Unterschied, dass ein Großteil der Handlung abseits der Straße, abseits der großen Städte stattfindet. So wird im Stile eines Roadmovies erzählt, wie Ignacio Carrillo (gespielt von Marciano Martínez), zeitlebens reisender Akkordeonspieler, nach dem Tod seiner Frau beschlossen hat, das Instrument einem alten Meister zurückzubringen und nie wieder zu spielen. Dieser Reise schließt sich Fermín Morales (dargestellt von Yull Núñez) an, ein Jugendlicher, dessen großer Traum es ist, Musiker zu werden. Nur widerwillig gestattet der Alte es dem Jungen, ihn zu begleiten und zwei sehr ungleiche, gegensätzliche Figuren ziehen mit einem Akkordeon durch Kolumbien. Immer wieder gelangen sie zu Menschen und an Orte, bei denen das Spiel des Akkordeons sich als schicksalhaft erweisen wird.
Die Form des Roadmovies ist die vielleicht einzige Hülle, die einen Film aus einem derart multiethnischen und geographisch vielfältigem Land zusammen zu halten vermag. Denn in einem Land, in dem die Verfassung neben Spanisch noch 75 weitere Sprachen/ Dialekte nennt und die Hautfarben, Körpergrößen und Gesichter das ganze Spektrum zwischen Atlantik (Karibik) und Pazifik abdecken, kann nationales Kino nur bedeuten: Drehe an möglichst vielen Orten jeweils ein bisschen Film, damit sich möglichst viele wiedererkennen.
So hat jede Gegend ihre eigenen Landschaften und Klänge: In den Ebenen dominieren grün-gelbe Felder, im Gebirge die Hänge und das Rauschen des Windes, das Auflaufen der Wellen und das Rieseln des Sandes. Jeder kleine Naturraum hat auch seine eigenen Gesichter, Dialekte und Sprachen: Das Wayuu im äußersten Nordwesten, die Chibcha-Sprecher im Norden und das Palenque der Kreolen um Cartagena de Indias und das geschliffene Spanisch weiter im Süden.
Angesichts dieser reichhaltigen Auswahl an Drehorten gerät dem Regisseur die Geschichte hin und wieder unter die Räder, Pardon, zwischen die Beine des Burro. In knapp zwei Stunden Film hat es über 30 verschiedene Orte, Felder, Seen, kurz: Szenerien, durch die die Protagonisten wandern. Bis zum Schluss ist nicht klar, wie weit, und vor allen Dingen, wohin das Instrument gebracht wurde.
Faszinierend ist der Film aber dennoch. Man darf ihn nur nicht am klassischen Roadmovie messen. Denn Guerra liefert hier gewissermaßen ein Stück ethnologisches Kino ab. Der Zuschauer wird zum teilnehmenden Beobachter. Beinahe vollständig ist die Immersion in die Bild- und Klanglandschaften dank der technisch elaborierten Kinematografie, die aus Feinheiten ein überwältigendes Ganzes formt. Trotz spärlicher Dialoge, ist fast jede Szene eine kleine Dokumentation der Lebensumstände der Menschen mit ihrer ganz eigenen Arbeit, ihren ganz besonderen Handwerks- und Anbautechniken der jeweiligen Region.
Und obgleich im Zentrum des Films die Musik des Akkordeons steht, formt sich aus dem Zusammengehen mit regionalen Musiktraditionen auch immer ein ganz eigener Stil, der von volkstümlichen Liedern (Akkordeon hier als Begleitung) bis hin zur äußerst anziehenden Kombination aus Akkordeon und Trommelsoli, die sich auf einer ebenfalls sehr abwechslungsreichen Soundtrackauskopplung wiederfinden.
Bleibt diesem Film nur zu wünschen, dass er von möglichst vielen Menschen gesehen wird – am besten wäre eigentlich eine zweite Spielzeit im Kino, denn egal wie groß und hochgerüstet die heimische Technik ist, die Bilder und Töne wirken nur überwältigend auf großer Leinwand.
Los viajes del viento (The Wind Journeys)
Regie: Cirro Guerra, Kolumbien/ Deutschland
2010 bei Ciudad Lunar auf DVD erschienen.