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Bayer, Osvaldo: Aufstand in Patagonien

Sven Schaller | | Artikel drucken
Lesedauer: 8 Minuten

Die blutige Geschichte eines Arbeitskampfes

Osvaldo Bayer - Aufstand in PatagonienEs gibt in der argentinischen Literatur wenige Bücher, die sich so kontrovers mit der Geschichte des Landes auseinandersetzen wie „La Patagonia rebelde“ von Osvaldo Bayer. Patagonien? Der Zipfel im Süden? Arbeiteraufstände? Massenerschießungen? Ja, um das Jahr 1920 herum gab es sehr bewegte Zeiten in der Pampa. Und sehr unrühmliche. So unrühmlich, dass in Zeiten der Militärdiktatur nach 1976 manche Generäle am liebsten diese Epoche hätten ausradieren wollen. Kurzerhand verboten sie Bayers Bücher ebenso wie den gleichnamigen Film des Regisseurs Héctor Olivera. Und wie immer, wenn an der Macht sich befindende Barbaren ihre Unkultur unter Beweis stellen müssen, wurde sogar die Verbrennung der in Lettern gegossenen Ideen und Zeugnisse angeordnet.

Trotzdem ließen sich weder die damaligen Ereignisse noch die vier Bände von Bayer auslöschen. Sie bestanden fort und fanden durch Übersetzungen den Weg in Bibliotheken und Buchläden weltweit. Im Jahr 2004 schrieb Bayer eine gekürzte Version, die in Deutschland 2010 unter dem Titel „Aufstand in Patagonien“ veröffentlicht wurde.

Den Anfang des Buches bildet ein Attentat: Am 27. Januar 1923 starb in den Straßen von Buenos Aires der Oberstleutnant der argentinischen Armee, Héctor Benigno Varela, durch einen Sprengstoffanschlag, den ein deutscher Anarchist auf ihn verübte. Doch was brachte Kurt Wilckens dazu, dem Leben dieses Menschen ein Ende zu setzen?

Auf den folgenden 420 Seiten versucht Osvaldo Bayer, eine Antwort zu finden, warum in extremen Fällen die Gewalt von oben nur mit Gewalt von unten beantwortet werden kann (S. 14).

Der Autor führt den Leser in das ländliche Argentinien zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Patagonien, bekannt für seine unendlichen Weiten, wurde dominiert von Großgrundbesitz. 619 Betrieben gehörten allein in der Provinz Santa Cruz 20 Millionen Hektar Land. Und diese „Pioniere“ in der unwirtlichen Landschaft schufen den Reichtum, der Argentinien aufsteigen ließ in die Riege der reichsten Nationen in dieser Zeit. Aber waren es wirklich diese „mutigen Unternehmer“, die den Wohlstand generierten? Waren es nicht die gebeugten, kleinen, dunkelhäutigen Chiloten, die armen Landarbeiter aus aller Herren Länder, durch deren Ausbeutung sich der Reichtum einiger weniger Familien mehr und mehr vergrößerte? Denn von ihnen ist in der Geschichtsschreibung kaum die Rede. Sie werden bei der Betrachtung Patagoniens allzu oft vergessen.

Osvaldo Bayer holt sie aus dem Vergessen heraus. Er gibt ihnen ein Gesicht, einen Namen, eine Persönlichkeit. Er erzählt ihre Geschichte, ihren Kampf um höhere Löhne und menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Und er schildert ihr Scheitern, als der „Aufstand in Patagonien“ in Blut ertränkt wurde.

Es ist Bayers großes Verdienst, sich durch die Archive gewühlt und Zeugen aus dieser Zeit befragt zu haben. Das Buch lebt denn auch von der detaillierten Darstellung der Ereignisse in den Jahren 1920-1922. Sprachlich und stilistisch kommt es ausgesprochen trocken daher. Aber dieser sachliche Stil sollte Bayer keineswegs negativ ausgelegt werden. Denn dem Autor gelingt es gerade dadurch, ein umfassendes Bild der damaligen Situation in Patagonien zu zeichnen. Dass diese Schilderungen in ihrer Objektivität auch ein subjektives Element haben, liegt an der Sympathie, die Bayer den Streikenden entgegenbringt. Ja, er befürwortet ausdrücklich die Forderungen der oftmals analphabetischen, armen (Land)Arbeiter. Zu Recht. Deren Arbeitsbedingungen waren so schlecht, dass schon allein aus humanistischen Gründen die reiche Oligarchie hätte einlenken müssen. Aber die Hacendados setzten den Wert ihres Besitzes meist über den eines Menschenlebens. Deshalb antworteten sie auf Pamphlete mit Blei – manchmal extralegal, in der Regel jedoch durch die Kollaboration von Polizei und Militär. Denn diese beiden Institutionen waren beim Transport und bei der Versorgung mit Lebensmitteln abhängig von den Großgrundbesitzern (S. 91). Demokratie wurde verstanden als die (Sicherung der) Herrschaft der Mächtigen. Und Macht besaß die reiche Oligarchie, nicht die arme Landarbeiterschaft.

Die Sociedad Obrera in Patagonien - Foto: Public DomainTrotzdem gingen die Arbeiter aus ihrem ersten Streik als Sieger hervor. Praktisch alle ihre Forderungen wurden anerkannt. Vorerst. Die Umsetzung stand auf einem anderen Papier. Kaum einer der Großgrundbesitzer rührte an den Löhnen oder Arbeitsbedingungen. Sie setzten ihre Hoffnungen auf eine Karte: das Militär.

An dieser Stelle wird auch die Argumentation des Pazifisten Bayer schwer nachvollziehbar. Er bezeichnet ausdrücklich die pazifistische Haltung und Strategie des Streikführers Antonio Soto als Fehler. Dieser „sprach immer davon, den Waffen und der Brutalität der Arbeitgeber und Polizisten müsse man mit Vernunft und Ideen begegnen. Das war sein einziger Fehler“ (S. 109). Gandhi hat die Möglichkeit dieser Strategie bewiesen. Zugleich thematisiert dieses Zitat eine der Grundfragen des sozialen Umsturzes und der Revolution: Können die Unterdrückten und Ausgebeuteten ihre Interessen auf friedlichem Wege erreichen, oder bedarf es des Blutzolls? Gerade auch der erfolgreich verlaufene erste Streik in Patagonien liefert Argumente, die gegen die Notwendigkeit von Gewalt sprechen. Entscheidend für den Erfolg scheint vielmehr die Einheit (und Einigkeit) der agierenden Massen zu sein (siehe z.B. auch S. 145-146).

Für das Scheitern des zweiten Streiks kommt diesem Element – neben der unsäglichen Brutalität beim Vorgehen des Militärs – deshalb eine wichtige Bedeutung zu. Die Streikbewegung war mehrfach gespalten. Zum einen zogen die Arbeiter in den Städten Patagoniens nicht mehr mit. Zum anderen vollzogen sich zahlreiche gewerkschaftliche Spaltungen. Die Landarbeiter mussten somit den Arbeitskampf bereits geschwächt beginnen. Darüber hinaus lieferten anarcho-kriminelle Gruppen, die den Streik mit Banditentum als strategisches Element verbanden (u.a. S. 138), der Oligarchie alle Vorwände, um die Streikenden in ihrer Gesamtheit als „Gesetzesbrecher“ zu bezeichnen und gewaltsam gegen sie vorzugehen.

Bayer lässt sich jedoch nicht auf Spekulationen zu den Gründen des Scheiterns ein. Er hält sich an die Fakten. Und so widmet er den größten Teil des Buches der Rekonstruktion der Ereignisse während des folgenreichen zweiten Streiks. Dieser zielte darauf ab, dass die anerkannten Forderungen der ersten Protestbewegung von den Großgrundbesitzern auch umgesetzt werden. Doch die Rahmenbedingungen hatten sich nicht nur auf Seiten der Streikenden verändert. Offenbar mit Rückendeckung durch die Regierung (siehe v.a. S. 343) war das Militär angehalten, den Arbeitskampf unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu beenden. Der Befehlshaber der Truppen, jener Oberstleutnant Varela, der zwei Jahre später bei dem Bombenattentat sterben sollte, vollzog seinen Auftrag gnadenlos: Er eilte von Hazienda zu Hazienda und ließ viele, vor allem die aus seiner Sicht für den Streik verantwortlichen Arbeiter, misshandeln und standrechtlich erschießen – obwohl sie sich ergeben hatten. Dieses ungemein brutale Vorgehen ist unfassbar, zumal „die Arbeiter zu keinem Zeitpunkt an einen revolutionären Streik dachten, noch es darauf anlegten, gegen die Soldaten zu kämpfen“ (S. 194). Auch muss erwähnt werden, dass die Streikenden zwar Geiseln – Estancieros, Verwalter, Vorarbeiter, Beamte – nahmen, aber nicht einen der vorübergehend Gefangenen töteten. Umso bedrückender ist es zu lesen, wie den Streikenden auf der Hazienda „La Anita“ schließlich die entscheidende Niederlage beigebracht und im wahrsten Sinne des Wortes das Genick gebrochen wurde. Vermutlich mehr als 100 unbewaffnete Landarbeiter fielen im Kugelhagel der Erschießungskommandos.

Gefangene Arbeiter beim Streik in Patagonien von 1921/22 - Public DomainDetailliert zeigt Bayer die Ergebnisse seiner Recherchen auf – manchmal zu detailliert, so dass sogar er zu der Einsicht gelangt: „Wir wollen die Leser nicht mit mehr Details ermüden“ (S. 285). Trotzdem erlangen gerade die sehr genauen Schilderungen der Strafaktionen des Militärs ein ungemein hohes Gewicht vor dem moralischen Gericht der Menschlichkeit. Ja, mitunter liest sich sein Buch wie eine Gerichtsakte. Nüchtern werden immer mehr Fakten präsentiert, die dem Leser eine Urteilsfindung ermöglichen sollen. Denn in der Realität blieb eine juristische Aufarbeitung der Gräueltaten aus: „Der Kriegsminister leitete die Rechtssache an den Innenminister weiter, und dieser gab sie weiter an die Polizei. Der Polizeichef Elpidio González wiederum übergab den Fall der ‚zuständigen‘ Einheit, und dort vergammelte – selbstverständlich – der Fall (S. 310).

Nach der Niederschlagung des Streiks wurden die Täter von den Großgrundbesitzern Patagoniens mit Ehrbekundungen überschüttet, ermöglichte doch das Ende der Arbeiterbewegung die ohnehin niedrigen Löhne um weitere 30 bis 50 Prozent zu senken. In Buenos Aires mussten die Verantwortlichen für die Massaker an schätzungsweise 1500 exekutierten Arbeitern zunächst zahlreiche Proteste über sich ergehen lassen. Aber ihre Taten schadeten der weiteren Karriere nicht. Im Gegenteil: Capitán Elbio Carlos Anaya, Varelas Adjutant, wurde später General und sogar Justizminister des Landes (S. 222) – welche Ironie der Geschichte.

Da die Tragödie von Patagonien keine juristische oder politische Lösung erwarten ließ, fiel die Entscheidung „zwischen den beiden Parteien, die sich stritten. Mit einem sauberen Schuss. Selbstjustiz ohne auf die Entscheidungen der Mächtigen zu warten, die es ohnehin nie geben würde“ (S. 355). So starb also Oberstleutnant Varela durch das Attentat von Kurt Wilckens. Was mit diesem geschah und wie sich der Streikführer des patagonischen Aufstandes, Antonio Soto, rettete, erfährt der Leser im letzten Teil des sehr gut recherchierten Buches.

Ein großes Manko dieser gekürzten deutschen Version von „La Patagonia rebelde“ ist das sehr schlechte Lektorat. Der Text strotzt vor Fehlern. Für eventuelle weitere Auflagen sollte hier dringend nachgebessert werden.

Osvaldo Bayer
Aufstand in Patagonien
Trotzdem Verlag, 2010

Bildquellen: [2], [3]: Public Domain.

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