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Rabia: Kurzfilm von Romina Tamburello

Uta Hecker | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

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Die Lateinamerikanischen Filmtage Leipzig/Halle sind ein Ereignis, das man sich nicht entgehen lassen darf. Jedes Jahr wird ein bunt gemischtes Programm veröffentlicht, bei dem sicher für jede/n etwas dabei ist. Nicht nur das Angebot an unterschiedlichen Genres, auch der sozialkritische Unterton und anschließende Workshops ziehen ein engagiertes Publikum an. Zum Glück dauerten die Filmtage wieder vom 05. bis 27.10., sodass es trotz voller Arbeitstage und Stundenpläne möglich war, noch Veranstaltungen zu besuchen. Obendrein gibt es ja noch die Kurzfilme, die man sich auch bei Zeitmangel gönnen kann und die oft eine bildlich-überwältigende Realität in kürzester Zeit auf den Punkt bringen. Eigentlich hatte ich vor, „Nosotras – Frauen im Kino“ anzuschauen, der sicher sehr lohnenswert gewesen sein muss: Jedenfalls hatte der Titel nicht nur meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, sondern auch die so vieler BesucherInnen, dass ich mich nach einem anderen Kinosaal umsehen musste, in dem noch ein Sitzplatz frei war. Und so stieß ich auf den siebzehnminütigen argentinischen Kurzfilm “Rabia” (2018).

Tatsächlich handelt es sich bei dem Kunstwerk mit dem bezeichnenden Titel „Wut“ um ein Erlebnis mit einem tagelangen Nachhall. Dabei wirkt die Handlung auf den ersten Blick nicht besonders außergewöhnlich. Wir alle kennen Familiendramen. Allerdings ist “Rabia” eine Ausnahme. In nur kürzester Zeit schafft es die Regisseurin Romina Tamburello die harte Tragik zerbrochener Beziehungen direkt und drastisch aufzuzeichnen. Auf einer Autofahrt zu einem Fußballspiel erzählt Sohn Facu seinem Vater David vom neuen Freund der Mutter. Außer sich vor Zorn lässt David den kleinen Jungen allein an der Autobahn neben vorbeirauschenden Autos und LKWs zurück. Als ob diese Reaktion nicht schon das Fass zum Überlaufen gebracht hätte, scheint der Vater so von seinem eigenen Wesen eingenommen zu sein, dass er nicht einmal daran denkt, den Wagen zu wenden und seinen Sohn zurückzuholen, sobald er sich etwas gefasst hat.

Es ist höchst empörend, dass sich ein erwachsener Mann und noch dazu Vater vom positiven Ergebnis eines Fußballspiels im Radio mehr mitreißen lässt, als an sein verschrecktes Kind zu denken. Selbst als er in einem erneuten cholerischen Anfall einen anderen Tankstellengast angreift, ist das wohl eher ein Zeichen seiner inneren Unausgeglichenheit als unterschwellige Nervosität durch ein schlechtes Gewissen. Erst als es schon dunkel wird, macht sich David auf die Suche nach Facu. Er versucht dabei, seiner Ex-Frau Bescheid zu geben. Diese bleibt aber auf unbegreifliche Weise ebenso unbeteiligt ihrem Sohn gegenüber wie David selbst. Stattdessen schickt sie ihren unglückseligen Freund, der ihrem ehemaligen Partner gegenüber treten muss. Bis der jedoch auf dem Schauplatz auftaucht, hält David die Suche nach seinem Sohn in Atem. Zum ersten Mal vermutet man als Zuschauer/in Angst, während der Vater ruft und auf Antwort wartet. Hoffen und Bangen werden durch Kamerawinkel, Töne und Pausen verstärkt, immer begleitet von einem Aufleuchten und Verschwinden des Bildes. Es ist unklar, was passieren wird. Aus dem Nichts stürzt plötzlich Facu auf seinen Vater zu, natürlich in Tränen aufgelöst. Und dann verwirrt David mit einer weiteren unreifen Reaktion: eine schnelle Entschuldigung. Anscheinend ist er sich nicht im Klaren, einen traumatisierten Sohn vor sich zu haben. Er macht einen oberflächlichen Vorschlag, der seine Schuld beiseite wischen soll. „Gehen wir ins Stadion und schauen wir das Feuerwerk an!“. Es ist wirklich nicht zu fassen. Nicht nur, dass er seinem Sohn keine Möglichkeit gibt, über das Geschehene zu reden. Seine Gedanken kreisen auch anscheinend immer noch um ein Fußballspiel! Es ist zu erwarten, dass Facu nicht auf einen platten Versöhnungsversuch eingehen kann, der nicht einmal an ihn direkt gerichtet ist.

Diese Ironie, im Mittelpunkt der Tragödie zu stehen, aber doch komplett außen vor zu bleiben, setzt sich in den folgenden Szenarien fort. Zunächst treffen der neue Freund und David aufeinander. Als schließlich auch Davids Ex-Frau auf der Bildfläche erscheint, ist die Spannung nicht mehr auszuhalten. Erschreckenderweise wird Facu völlig ignoriert. Er meldet sich nicht zu Wort und niemand gibt ihm die Möglichkeit dazu. Seine Mutter geigt stattdessen ihrem Ex-Mann die Meinung; und ihre Vorwürfe mögen gerechtfertigt sein – aber es ist schockierend, dass es sich wiederum nicht um ihren Sohn handelt. Der gesamte Auftritt ist eine Gelegenheit, den/die jeweilige Expartner/in anzugreifen und zu demütigen. Genauso findet sich der neue Freund der Mutter in einer höchst unangenehmen Lage wieder. Sie benutzt ihn demonstrativ, um ihren früheren Ehemann zu provozieren. Selbst als sie sich später bei Facu im Auto für das ganze Chaos entschuldigt, ist das auch nur ein Versuch, sich mit dem Fehlverhalten des Vaters zu rechtfertigen. Ihr Sohn kommt nicht vor. Facus Wutanfall bricht plötzlich aus ihm heraus. Unfähig etwas in Worte zu fassen, schlägt er um sich und schreit aus Leibeskräften … eine Wut, die in der einsetzenden aggressiven Filmmusik im Abspann fortgeführt wird und einen schockierender Abschluss bietet, der das gesamte Dilemma widerspiegelt.

Die Empörung über den Egoismus im Verhalten der wenigen Charaktere war sicher eine Reaktion, die durch den Film hervorgerufen werden sollte. Und das ist durchaus gelungen. “Rabia” zeigt schonungslos Ohnmacht und Wut auf, die durch Ignoranz, Vernachlässigung und Egoismus entstehen. Umgekehrt wird dem Publikum die Verantwortung vor Augen geführt, die uns innerhalb der Familie, aber ebenso in jeder anderen zwischenmenschlichen Kommunikation zukommt. Der Kurzfilm ist eine Kritik daran, wie Menschen sich gegenseitig das Wort und die Würde entziehen, indem sie unentwegt um die eigenen Probleme kreisen. Dabei geht es gar nicht um die Trennung der Eltern, sondern vielmehr um die Art, wie sie sich ausschließlich auf sich selbst konzentrieren.

Die Brutalität des Verlassenwerdens ist nicht nur sichtbar, als Facu an der Autobahn zurückgelassen wird. Sie ist immer noch da, als die Familie zusammenkommt und Facu unsichtbar für seine Eltern zu sein scheint.

In diesem Sinne ist “Rabia” ein sozialkritischer Kurzfilm, dessen beispielhafte Handlung auf andere Kontexte ausgeweitet werden kann. Als kompaktes inhaltsreiches Werk weist er im Nachhinein ein immenses Diskussionspotential auf.

Rabia

Regie: Romina Tamburello

Argentinien 2018, ’17.

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