Quetzal Vogel
News Icon
Quetzal

Politik und Kultur in Lateinamerika

Template: single_normal
Printausgaben

Die Guaraní

Antje Schmidt | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Die Guaraní gehören zum südlichen Zweig der Tupi-Guaraní-Sprachfamilie. Ihr Siedlungsraum umfasst das Kerngebiet Paraguay und die angrenzenden Gebiete Südbrasiliens und Nordargentiniens. Hauptsächlich nach Dialektunterschieden werden sie in 3 Gruppen eingeteilt: die Nandéva an der Küste und im Inneren des brasilianischen Staates São Paulo und im südlichen Mato Grosso, die Mbya im östlichen Paraguay, in Brasilien und Argentinien und die Pãi Tavyterã im südlichen Mato Grosso und nördlichen Paraguay. Zur Zeit der Conquista betrug die Gesamtbevölkerung der Guaraní ca. 1,5 Millionen. Heute umfassen die 3 Gruppen noch maximal 60.000 Personen.

Seit dem Beginn der spanischen Conquista schlössen sich viele Guaraní-Gruppen den Europäern an. Es kam so von Anfang an zu einer starken Rassenmischung zwischen den Guaraní und den Spaniern. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden große Teile ihres Volkes von den Jesuiten missioniert. In Paraguay bildeten sie unter ihnen einen eigenen Staat, eine „Jesuitenrepublik“, die bis Ende des 18. Jahrhunderts existierte. Die Kultur Paraguays wurde im Ergebnis dessen stark von den Guaraní geprägt.

Wie die anderen indigenen Völker Südamerikas litten auch sie während der Kolonialzeit unter einer massiven Dezimierung durch Ausrottung, Vertreibung und Beraubung der ethnischen Identität infolge von Christianisierung und Hispanisierung. Trotz der zahlreichen Konflikte, die durch den Kontakt mit den Siedlern entstanden, konnten sie dank ihres starken Gruppenzusammenhalts die Identität und Sprache ihres Volkes weitgehend bewahren.

Die Grundlage der materiellen Kultur und des wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Lebens der Guaraní bildet der Bodenbau. Hauptsächlich werden Mais, Maniok, Süßkartoffeln und Bohnen angebaut, in manchen Gebieten außerdem Baumwolle, Tabak, Erdnüsse und Kürbisse. Der Bodenbau allein gewährt jedoch keine ausreichende Subsistenz, sondern wird von anderen Tätigkeiten ergänzt. Traditionell spielte das Sammeln von Pflanzen und Wildfrüchten, die Jagd mit Pfeil und Bogen – heute weitgehend ersetzt durch das Schrotgewehr – , Fallen und Schlingen und der Fischfang eine große Rolle. Heute haben Fischfang und Jagd an Bedeutung verloren, einige Guaraní-Gruppen sind zur Tierhaltung (vor allem Hühner und Schweine) übergegangen. Eine weitere Einkommensquelle ist der Verkauf von handwerklichen Arbeiten, wie z.B. geflochtenen Körben und Holzschnitzereien.

In jüngerer Zeit sind die Guaraní außerdem immer öfter auf Saison- oder Hilfsarbeit angewiesen, um ihren Unterhalt zu sichern.

Die soziale Organisation der Guaraní war früher von der Großfamilie bestimmt, die heute kaum noch existiert. Statt dessen leben sie heute in kleineren Familiengruppen, siedeln verstreut oder in kleinen Dorfgemeinschaften, die allerdings nicht statisch, sondern in ständiger Bewegung und Neuformierung sind. Es gibt eine politische und eine religiöse Führung, die früher oft in einer Person vereint war, heute aber meist getrennt ist. Dabei hat der Schamane als religiöser Führer eine vorherrschende Rolle in der Gemeinschaft und eine höhere Machtposition als der politische Führer. Im allgemeinen herrscht unter den Guaraní gesellschaftliche Gleichheit, jedoch bringt ein höheres religiöses Amt auch höheres Prestige mit sich.

Die Religion durchdringt das gesamte soziale Leben der Guaraní. Es gibt keine einheitliche religiöse Lehre; sie glauben an verschiedene Schöpfungsmythen, Gottheiten und Schutzgeister; aber es gibt gemeinsame Elemente. Ein wesentliches ist der Glaube an periodisch auftretende Krisenzustande, die Rituale oder besondere Vorkehrungen erfordern. Dafür gibt es eine Vielzahl von religiösen Übungen zu bestimmten Anlässen, meist verbunden mit gesellschaftlicher Absonderung und Enthaltsamkeit. So werden z.B. bei den Initiationsriten der Mädchen die Haare der Initiatinnen geschnitten, zudem müssen sie eine bestimmte Zeit versteckt vor der Gemeinschaft bleiben und Diät halten. Die Jungen durchlaufen verschiedene Rituale mit Gesängen und Tänzen, deren Höhepunkt das Durchstechen der Unterlippe und das Einsetzen eines Lippenpflocks ist. Mit diesen Zeremonien wird der soziale Tod des Kindes und die soziale Wiedergeburt als Frau bzw. als Mann symbolisiert. Ein weiteres Element ist die Vorstellung von zwei Seelen des Menschen, einer geistigen, vom Jenseits gesandten, und einer tierischen, irdischen. Die geistige, oder auch Hauchseele, ist die Quelle von Ruhe, guten und edlen Gefühlen. Die Tierseele sitzt im Genick des Menschen, sie steht für Schlechtes und Unvollkommenes und bestimmt, nach den Eigenschaften des jeweiligen Tieres, das Temperament und den Charakter des Menschen. Danach ist z.B. eine Person mit einer Schmetterlingsseele freundlich und sanft, ein Mensch mit einer Jaguarseele dagegen ist gewalttätig und böse. Nach dem Tod trennen sich beide Seelen wieder. Die Hauchseele geht zurück ins Jenseits, die Tierseele verwandelt sich in einen gefürchteten Geist.

Im mythischen Denken und religiösen Leben der Guaraní spielen Pflanzen, vor allem Bäume, eine große Rolle. Ihre Beziehung zu den „beseelten“ Lebewesen der Natur ist eine sehr lebendige. Die Guaraní haben einen reichen Fundus an Gesängen, Tänzen, Mythen und ethischen Grundsätzen. Durch den Einfluss der Jesuiten haben sich indianische und christliche Überlieferungen miteinander vermischt. Diese Synthese ist mitverantwortlich für die religiösen Übersteigerungen bis hin zu Besessenheit und messianischen Bewegungen, die unter den Guaraní häufig anzutreffen sind. Dabei spielen Weltuntergangsprophezeiungen, Verfluchung der Fremdherrschaft und die Suche nach dem „Land ohne Übel“, einem Paradies, das hinter dem Atlantischen Ozean vermutet wird, eine Rolle.

Das Leben der Guaraní ist auch heute noch von Diskriminierung, Landdezimierung und Vertreibung geprägt. Die fortschreitende Abholzung des Waldes führte unter anderem zum Rückgang des Jagdwildes, zur Zerstörung des Lebensraumes für Pflanzen und Heilkräuter und damit zur Zerstörung des Beziehungsgeflechtes zwischen der Natur und den Guaraní. Der Kontakt zu den weißen Siedlern störte das Gleichgewicht der Gemeinschaft und schuf neue Abhängigkeiten. Die messianischen Bewegungen auf der Suche nach einem Ausweg sind vor allem auch als Reaktion auf die zunehmende Existenzbedrohung der Guaraní zu verstehen.

Literatur:
Disselhoff, Hans-Dieter/Zerries, Otto: Völkerkunde der Gegenwart, Berlin 1974.
Rivière, P.: Bild der Völker, Bd.5, Wiesbaden 1974.
Grünberg, Friedl: Auf der Suche nach dem Land ohne Übel – Die Welt der Guaraní-Indianer Südamerikas, Wuppertal 1995.
Brachetti, Angela: Die Guaraní-Indianer von Misiones, Köln 1992.

Die Flecken im Mond

Am Anfang gab es eine Anzahl junger Männer und Mädchen. Sie lebten getrennt und kannten sich nicht. Als sie dann zum ersten Mal zusammen schlafen sollten, fürchteten sie sich. Nachdem es Nacht geworden war und ganz dunkel, legten sich die Mädchen der Reihe nach in der Hütte nieder. Die Männer aber blieben draußen am Feuer und sangen und tanzten und stampften dabei mit dem Fuße, um sich Mut zu machen. Dann gingen sie in die Hütte, und jeder nahm im Dunkeln ein Mädchen, ohne es recht zu sehen.

Einer der Männer war jedoch neugierig, und er wollte wissen, wer wohl seine Gefährtin sein möge. Er rief sie ein paarmal leise an und fragte nach ihrem Namen. Sie antwortete aber nicht. Da leckte er an seinen Fingern, rieb sie am Boden und fuhr damit dem Mädchen über das Gesicht.

Lang ehe es hell wurde, standen die Männer auf, gingen wieder zum Feuer hinaus und sprachen von den Mädchen. Keiner aber wusste, mit wem er geschlafen hatte. Nur jener eine behauptete, er werde seine Frau wiedererkennen; er habe sie mit feuchter Erde im Gesicht gekennzeichnet.

Als es hell geworden war, sahen alle, dass er seine eigene Schwester gekennzeichnet hatte.

Bruder und Schwester, Njanderu und Jacy, ziehen heute beide am Himmel. Njanderu aber versinkt, wenn das fleckige Gesicht seiner Schwester auf der anderen Seite des Himmels auftaucht.

Dieses Guaraní-Märchen entnahmen wir dem Band „Nimuendajú“. Bruder der Indianer“ von Georg Menchén. VEB F. A. Brockhaus Verlag Leipzig 1979.

1 Kommentar

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert