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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Angst gegen Kuchen

Tobias Röhlicke | | Artikel drucken
Lesedauer: 14 Minuten

In der Gegenwart ist die Villa Baviera eine kleine Gemeinde, man könnte den Namen als Bayrisches Dorf übersetzen. Sie verfügt über ein Restaurant, ein Hotel und große Veranstaltungsräume. Besucher können Fahrräder ausleihen, eine Runde im Unimog drehen, im Schwimmbad oder einem der Whirlpools entspannen. Sie können in einer Tour Colonial die Gemeinde besichtigen und sehr viel exportierte deutsche Atmosphäre genießen. Buben und Männer, die in Lederhosen Schuhplattler tanzen, und Frauen mit hellem Haar, die volle Maßkrüge, Wurstplatten oder Kuchenteller tragen, erfüllen all die Klischees, die der Durchschnittschilene von Deutschland im Kopf hat.
Dieses Bild begleitete uns von dem Moment an, als Valeria das Auto ihrer Eltern auf dem Parkplatz vor einer alten Scheune abstellte. Abgesehen von einem nagelneuen, silbernen Silo stammten die Gebäude der Gemeinde aus der Vergangenheit. Ein Teil der Häuser war aus beigefarbenen Holzbalken gebaut. Das breite Hauptgebäude, mit seiner langgezogenen Gaube und den vielen Sprossenfenstern, sah aus wie ein deutsches Gymnasium aus den Siebzigern. Aber trotz ihrer offensichtlichen Verwandtschaft zu Deutschland, lag etwas Unechtes auf den Gebäuden. Im Land am tiefen Ende des südamerikanischen Kontinents, hatte der Ort etwas von einer besonders authentischen, klischeedeutschen Ecke in Disneyworld.
An der Rezeption des Hauptgebäudes fragten wir nach einer Führung durch die Gemeinde und buchten die nächste, eine halbe Stunde später. Bis die Tour begann, spazierten wir über das Gelände. Die Gegend um die Villa Baviera erinnerte mich an Süddeutschland. Mit meiner Familie hatte ich einmal einen Sommerurlaub in Baden-Württemberg verbracht. Auf der Schwäbischen Alb, im Schwarzwald, am Bodensee. Lebendige Wälder, frische Luft, klares Wasser und die grüne, reine Natur. An sich nichts Besonderes, aber für jeden Stadtmenschen ein sanfter Kuss auf die Lunge.
So reagierte auch Valeria.

––Vielleicht sollte ich statt nach Santiago hierherziehen–– überlegte sie.
––Hierher?
––Naja, nicht hier ins Dorf. Hier in die Gegend.
Ich ließ meinen Blick von dem langen Landhaus zum nahen Wald wandern.
––Findest du nicht, dass das trügt?
Valeria schüttelte den Kopf. Sie sah sich um und holte mehrmals tief Luft. Dabei begleitete sie ihre Atemzüge mit einer Handbewegung, so als hielte sie eine Yogastunde.
––Kann etwas nicht gleichzeitig schön und traurig sein?
Ich folgte ihrem Blick ins Grüne und dachte nach.
––Kann es––, kam ich zum Schluss. ––Während dem zweiten Weltkrieg haben sie auch in den Alpen gekämpft.
––Also …
––Aber trotzdem würde ich nicht auf einem ehemaligen Kriegsschauplatz ein…–– Ich wedelte mit der Hand in Richtung der Höfe, auf der Suche nach einem Vergleich. ––… ein Sushi-Restaurant errichten wollen.
Eine von Wein überwachsene Allee führte uns zu einem kleinen Wald hin. Auf der weiten Wiese, die uns parallel zur Straße begleitete, wuchsen Apfelbäume, im Hintergrund erhoben sich die Anden über weit entfernte Wälder. Als wir am Restaurant vorbeiliefen, schwebte mir der vertraute Duft von gebratenen Würsten und frischgebackenem Kuchen in die Nase. Für einen Moment überkam mich ein unangenehm verwirrendes Gefühl von Heimweh. Nichts von dem, was wir während dem halbstündigen Spaziergang sahen, wies auf den Ursprung der Gemeinde hin. Wir schlenderten durch ein Mittelklasse-Feriendorf in Süddeutschland, das in den Siebzigern stehengeblieben war und von unnatürlich vielen Chilenen besucht wurde. Viel mehr sahen wir nicht.

In der Vergangenheit hieß die Villa Baviera Colonia Dignidad, was sich als Gemeinde Würde übersetzen lässt. In der Vergangenheit war jene Colonia Dignidad eine, von einer neuevangelischen Sekte gegründete Siedlung. Die Leiter der Sekte, davon einige mit Nazivergangenheit, hatten die Mitglieder eingezäunt und aus Deutschland zu einer vermeintlichen Sommerfreizeit eingeflogene Kinder festgehalten. Die 250 bis 350 Sektenmitglieder der Siedlung wurden zusammen mit anderen Gefangenen zu Fronarbeit auf den Feldern gezwungen, viele der Kinder sexuell missbraucht. Nebenbei überließ die Sekte dem Geheimdienst der Pinochetdiktatur die Keller der Siedlung zur Folter von Gefangenen. Kurz: In der Vergangenheit, der erschreckend nahen Vergangenheit, von 1961 bis 2005, befand sich in einem kleinen, deutschen Dorf im Zentrum Chiles die Hölle auf Erden.
Schon vor Beginn unserer Reise durch Patagonien hatten Valeria und ich uns darüber unterhalten, ob man die Villa Baviera der Colonia Dignidad wegen oder die Colonia Dignidad der Villa Baviera wegen besuchen dürfe. Valeria war während einer ihrer vielen Recherchen über die Pinochet-Diktatur auf die Sekte aufmerksam geworden, ich selbst hatte den Spielfilm über die Gemeinde vor Jahren in Berlin im Kino gesehen. Im Gegensatz zu vielen anderen Themen, gingen unsere Meinungen beim Umgang mit der Gemeinde auseinander. Während ich fand, dass man sowohl den alten Namen als auch den Ort als Erinnerungsstätte hätte beibehalten sollen, war Valeria überzeugt, dass man sowohl ein Tourismusdorf des ehemaligen Sektenhorrors als auch die vergangenen Folterküchen der Würstchen und des Biers wegen besuchen dürfe. Die Entscheidung liege bei den Bewohnern, die unter der Sekte gelitten hatten und mit ihrem Verschwinden heimatlos wurden, fand sie. Schließlich kannten viele von ihnen kein anderes Leben als jenes, das sie seit den Sechzigern in dieser deutschlandgleichen Region verbrachten.
Die Tour Colonial war eine der wenigen Überbleibsel der Siedlung, die das Heute mit dem Grauen von Gestern verbanden. Die Führung begann in einer Scheune abseits des Hauptgebäudes. Von dem Gebäude aus verblichenem Holz führte uns eine etwa fünfzigjährige Frau umher und füllte die Räume trocken mit Fakten. Hier waren die Gefangenen untergebracht, dort wurden sie gefoltert, dort fand man einige der Leichen. Das hier waren die Wohnräume Schäfers, des Sektenführers, das die Schule, das die Kapelle. An den Wänden hingen Bilder, teilweise von Texten ergänzt. Die Räume und Gänge schienen seit der Sektenzeit kaum berührt. Überall lag Staub, öfter erweckten sorglos umherliegendes Werkzeug und umgefallene Möbelstücke den Schein, dass die Zimmer hektisch verlassen worden waren. Der modrig-feuchte Geruch vom vergangenen Terror hing noch in den Gewölben.
Die Tourführerin beantwortete unsere Fragen überraschend offen. Ja, es gab Personen, die der Colonia Dignidad entkommen waren, erklärte sie. Ja, auch sie habe auf den Feldern arbeiten müssen. Sie sei gläubig, habe der Sekte aber den Rücken gekehrt. Eine Weile habe sie in Talca gelebt, etwa zwei Stunden von der Villa Baviera entfernt. In Santiago sei sie auch mal gewesen. Aber sie hatte es nicht aushalten können. Der Sektenführer, Paul Schäfer, sei 2005 in Argentinien festgenommen worden und ein paar Jahre später in Santiago in Gefangenschaft gestorben. Erleichtert…ja, erleichtert hatte sie auf die Nachricht seines Todes reagiert.
Die Tour war kaum besucht. Eine ältere Amerikanerin, ein junges brasilianisches Pärchen, und wir. Valeria war die einzige Chilenin. Bei ihren restlichen Landsleuten waren die Fahrräder, Unimogs und Wurstteller deutlich beliebter. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass sie sich als Chilenin am besten in das vergangene Grauen des Ortes hineinversetzen konnte, aber Valeria traf die Besichtigung besonders stark. Während der gesamten Besichtigung ließ sie meinen Arm nicht los. Abwechselnd griff sie mit ihren Händen um meinen Unter- oder meinen Oberarm. Als die Führerin uns ein verrostetes Bettgestell zeigte, auf dem Gefangene gefoltert worden waren, stöhnte sie laut auf. Erst in dem Moment wurde mir bewusst, dass wir noch nie gemeinsam einen Gedenkort für die Verbrechen der Diktatur besucht hatten. Das Museum der Erinnerung und der Menschenrechte in Santiago hatte ich allein, das Nationalstadion mit Freunden besucht. Abgesehen von kurzen Erwähnungen der Militärvergangenheit ihres Vaters oder einigen Gesprächen über die Diktatur hatten wir uns noch nicht gemeinsam mit dem Schrecken der nahen chilenischen Vergangenheit auseinandergesetzt.
Wie sehr die Führung mich selbst traf, merkte ich erst, als wir die Gebäude der ehemaligen Sekte durch den Eingang einer kleinen Kapelle wieder verließen. Das helle Sonnenlicht stach mir in die Augen. Das Zwitschern der Vögel verwandelte sich in lautes Gekreische, die Blau- und Grüntöne der Natur waren so künstlich wie die Farbpalette eines billigen Fernsehers. Als sich die Tourführerin von uns verabschiedete, vermischte sich ihre Stimme mit der Blasmusik, dem Kinderlachen und den Touristengesprächen aus der Richtung des Restaurants. Die unpassenden Klänge fühlten sich an, wie ein Schlag ins Gesicht. Ein Schlag der naiven, ignoranten Gegenwart ins von Peitschenhieben vernarbte und von Elektrostößen entstellte Gesicht der Vergangenheit. Die Villa Baviera verwandelte sich in ein Shoppingzentrum in Deutschland, vor dem ein Stolperstein in den Boden eingelassen worden war. Ein kleines Erinnerungsmal, das nur einen Trend davon entfernt war, von den Scharen, an zu H&M stürmenden Teenagern, für immer vergessen zu werden. Valeria und ich stolperten ein paar Schritte von der Kapelle weg, auf eine Bank zu. Dort ließen wir uns nieder und kämpften schweigend mit dem gerade Erlebten. Ich starrte über den Hof der Gemeinde und versuchte, meine Gedanken durch den dichten Strudel der Beklemmung wieder in die Gegenwart zu holen. Ich fühlte mich, als hätte ich dabei zusehen müssen, wie eine mir nahestehende Person gequält wurde.
Erst ein laut gackerndes Huhn, das den Hof mit unkontrollierten Schritten durchquerte, eignete sich als Wegweiser zurück ins Jetzt. Ich folgte dem Vogel mit den Augen, dann wandte ich mich Valeria zu. Sie erwiderte meinen Blick ernst. Ich legte meinen Arm um sie und sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter.

Valeria widersetzte sich meinem Vorschlag, die Colonia Dignidad direkt wieder zu verlassen. ––Wenn wir schon mal hier sind …––, entgegnete sie und stapfte mit unglaubwürdig entschiedenen Schritten auf das Hauptgebäude des Tourismuszentrums zu. Wir betraten das Haus und sahen uns die Karte des Restaurants an. Es roch nach frischgebackenem Brot, aus den Lautsprechern klangen alte Schlager. Der riesige Innenraum des Gebäudes war mit langen Holztischen vollgestellt, die entfernt an ein süddeutsches Wirtshaus erinnerten. An den Wänden hingen bemalte Teller, Instrumente, bayrische Westen und Dirndl. Die gesamte Szenerie fühlte sich falsch an, alles fühlte sich falsch an. Hier waren das Lachen und der Spaß, der Kuchen, die Gegenwart, dort die Angst, der Staub und Terror, die Vergangenheit.
Mit dem Betreten des Wirtshauses war die traurige Befangenheit von Valeria abgefallen. Sie lotste uns zu einem Tisch in der Mitte des Saales und setzte sich.
––Ich brauche ein Bier––, sagte sie und sah zu mir auf.
Langsam schüttelte ich den Kopf. ––Val, ich will hier nicht bleiben.
––Komm schon!–– Sie klopfte mit der Hand auf die Sitzfläche des Stuhls neben sich. ––Will der Journalist in dir nicht auch diese Seite der Geschichte kennenlernen?
Ich ließ mich zögernd auf dem Stuhl nieder. Als wenig später eine Bedienung in ihrem Dirndl an unserm Tisch auftauchte, zuckte ich zusammen. Die dunkelblonden Haare und die bleiche Haut der etwa vierzigjährigen Frau standen im starken Widerspruch zu ihrem singenden, südchilenischen Akzent. Bevor ich reagieren konnte, hatte Valeria bereits das Bier bestellt. Sich selbst bestellte sie ein helles Weizen, mir ein dunkles. Als das Bier wenig später vor uns stand, nahm sie einen tiefen Schluck und reagierte mit einem gehauchten Ahhhh. Dabei machte sie große Augen und nickte begeistert. So wie sie es in Santiago auf einem unserer allwöchentlichen Kaffeedates nach dem ersten Biss von einem Stück Torte machte.
Ich zog eine Grimasse.
––Was?–– fragte sie.
––Machst du dich über mich lustig?
Sie schüttelte entschieden den Kopf. ––Natürlich nicht!
Ich starrte auf das Glas Bier, das vor mir auf dem Tisch stand.

––Was machen wir noch hier?–– Valeria starrte mich an.

––Ach komm schon––, sagte sie und lächelte. Das Lächeln hatte etwas Herausforderndes.
––Was?–– meine Stimme war hart.
Valeria wurde ernst.

––Entschuldige.
Sie blickte sich im Saal um.

––Ich habe mir einen gewissen Umgang mit so Orten angewöhnt. In Chile gibt es zu viele solcher Orte. In den Fußballstadien in Santiago haben sie Tausende gefangen genommen und foltern lassen. Erinnerst du dich noch an Víctor Jara?
––War das nicht die Schallplatte, die du mir neulich vorgespielt hast?
––Ja.–– Sie ließ das Bier in ihrem Glas kreisen. ––Ihn haben sie in einer Sporthalle zu Tode gefoltert. So wie das Nationalstadion haben sie die Halle irgendwann nach der Diktatur renoviert. Heute heißt sie zwar Estadio Victor Jara, aber sie wird wieder ganz normal für Volleyball- und Basketballspiele genutzt.
Die blonde Bedienung unterbrach uns. Sie fragte, ob wir etwas essen wollten. Aber wir blieben bei dem Bier.
––Aber du musst …–– versuchte ich es. ––Du musst verstehen, dass ich mich anders mit dem Ort hier identifiziere, als ich es mit den Orten in Santiago tue.
––Weil du Deutsch bist?
––Ja.
––Aber das hier ist Chile–– Sie deutete mit der Hand in den Raum.
––Aber es fühlt sich an wie ein Teil von Deutschland. Ein Teil vom Land, in dem ich aufgewachsen bin, den ich bisher nicht gekannt habe.
––Also hast du hier eher das recht, ein Urteil über den Umgang mit der Vergangenheit zu fällen?––
Ich dachte darüber nach, dann nickte ich.

––Waren nicht einige der Gründer der Sekte ehemalige Nazis?
––Mm-hmm.
––Auch wenn ich nichts etwas damit zu tun hatte, ist die Geschichte der Welt, die ich kenne, für mich schon seit meiner Kindheit mit dem Terror der Nazis verbunden. Aus der Entfernung ist diese Geschichte ein Teil von mir geworden. So wie die Geschichte Chiles, die Verbrechen der Diktatur, ein Teil von dir sind.––
Valeria nahm einen Schluck vom Bier. Sie überlegte und machte dabei eine Schnute. Es sah niedlich aus.
––Das hier …

Erst hielt ich das Bier hoch, dann nickte ich in Richtung der Küche des Restaurants.

––ist für mich, als würden sie am Ausgang der Gedenkstätte eines Konzentrationslagers Postkarten und Souvenirs verkaufen.
Valeria holte tief Luft und atmete laut aus. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und rieb sich das Auge. Sie sah mich an, lächelte und nickte. Aber sie sagte nichts. Ich spürte, wie sie über meine Worte nachdachte. In wenigen Momenten würde sie mir antworten. Vielleicht würde sie mir zustimmen, vielleicht würde sie widersprechen. Egal was, am Ende würde sie mich wahrscheinlich von ihrer Sichtweise überzeugen. Sie war klug, so klug, dass es mich manchmal einschüchterte. Mit ihren fünfundzwanzig Jahren war die junge Feministin so entschieden und selbstsicher, wie ich es in den nächsten zwei Jahrzehnten nicht sein würde. Gleichzeitig war ihr Leben so voller Widersprüche. Widersprüche, Spannungen, Herausforderungen. Widersprüche, die ihr gesamtes Leben definierten. Der größte von allen: ihr Vater. Der Marineoffizier, der unter Pinochet seinen Karrierehöhepunkt erlebte und nach der Militärdiktatur mit seiner jungen Familie nach Peru floh. Ich konnte mir nur ausmalen, wie, jedes Mal, wenn sich Valeria an einem Ort wie der Colonia Dignidad befand, die Fragen in ihr aufkamen. Fragen und Zweifel. Vielleicht auch Wut. Stimmt, was er erzählt? Dass er, auf dem Meer und in den Hafenstädten so weit von der Diktatur entfernt war? Dass er niemanden festgenommen oder getötet hat? Sagt er die Wahrheit oder will er sie nur beschützen? Jedes Mal musste sich Valeria aufs Neue damit auseinandersetzen, dass der Mann, der während den größten Herausforderungen ihres Lebens immer für sie da war, dass ihr Fels in der Brandung, mögliche Abgründe besaß, die ihrem guten, friedliebenden Wesen vollkommen zuwider waren.
Wieder unterbrach uns die blonde Bedienung. Ihre Frage stieß wie ein scharfes Messer in unsere Stille.

––Habt ihr vielleicht Lust auf einen Kuchen?––, fragte sie. Dabei benutzte sie das, ins chilenische Spanisch übernommene, deutsche Wort Kuchen.
Ich starrte sie nur an.
––Was haben sie denn?–– antwortete Valeria.
––Käsekuchen, Pflaume, Apfel und Schokoladentorte.
Valeria bestellte ein Stück Apfelkuchen mit Sahne, dazu einen Kaffee. Ich bestellte nichts. Wieder einmal wunderte ich mich darüber, dass das Wort Kuchen von den deutschen Auswanderern im Süden Chiles ins nationale Vokabular gefunden hatte. An keinem Ort, den ich über das letzte Jahr in dem langen, schmalen Land am Fuße Südamerikas besucht hatte, war das Wort gleichzeitig so passend und so schmerzlich unpassend wie in der Colonia Dignidad. Das warme, wohlbekannte Wort riss mein Zuhause an diesen kalten, fremden Ort. Ich sah mich in dem weiten Raum um. Ließ meinen Blick über die dunklen Tische gleiten, über die Bedienung im Dirndl, den Schmuck an der Wand. Mit seinem Duft, seinem Lärm, der grünen Natur und seiner Lebendigkeit drückte sich hier die Gegenwart mit vollem Gewicht auf die Vergangenheit. Wie lange es wohl dauern würde, bis die Vergangenheit in der Gegenwart nicht mehr existierte? Wie lange es wohl dauern würde, bis der Kuchen und die Wurstplatten die Angst und den Terror für immer verdrängt hatten?

 


 

Bildquellen: [1] JonasZeschke, cc; [2-3] JonasZeschke, cc/ Quetzal-Redaktion, gt

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