Die Wiedergeburt des Einhorns
Seit Beginn des neuen Jahrhunderts steht das Thema Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit höchster Priorität auf der öffentlichen Agenda. Medienwirksame Kampagnen wie die 2012 von der New Yorkerin Eve Ensler initiierte Aktion One Billion Rising oder der von den Vereinten Nationen 2015 ins Leben gerufene Orange Day lenken die Aufmerksamkeit auf einen weltweit verbreiteten Missstand, der viel zu lange stillschweigend akzeptiert oder gar ignoriert wurde. Die Rede ist nicht von Bagatelldelikten, sondern von massiven Übergriffen. Auch in Deutschland ist jede dritte Frau häuslicher oder sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Die Maßnahmen zur Bekämpfung des Covid-19- Virus wie der vielerorts angeordnete Lockdown haben die Situation weiter verschlechtert.
Der Roman Gestapelte Frauen (2019) von Patrícia Melo wirft ein Schlaglicht auf die zahllosen, oft tödlichen Angriffe gegen Mädchen und Frauen in Brasilien. Die meisten dieser Taten bleiben ungesühnt. Arme, Indigene und Dunkelhäutige sind besonders betroffen. Patriarchat, Kolonialismus und Machismo prägen Denken und Handeln bis in die Gegenwart und wirken sich auf die Machtverhältnisse aus.
Die Handlung wird aus Sicht einer jungen Rechtsanwältin aus São Paulo erzählt. Auf einer Party kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen ihr und ihrem eifersüchtigen Freund Amir. Als er sie „aus besitzergreifender, grundloser Wut“ anschreit und sie ihn daraufhin auslacht, verpasst er ihr eine Ohrfeige, die zur Initialzündung wird, denn der Schlag ins Gesicht „holte etwas empor, das vor langer Zeit heruntergefallen war, etwas aus dem Inneren, das tot war, ein Bruchstück, das ein weiteres Bruchstück zutage förderte und immer so fort“.
Durch die Beteiligung ihrer Kanzlei an einer landesweiten „gemeinsamen Aktion der Justiz zur Abarbeitung aufgestauter Verfahren von Femiziden“, eröffnet sich ihr eine gute Möglichkeit, sich auch räumlich von ihrem Mann zu distanzieren. Als Prozessbeobachterin lässt sie sich nach Cruzeiro do Sul in den an der Grenze zu Peru und Bolivien liegenden Bundesstaat Acre, der Rekordzahlen an Frauenmorden zu verzeichnen hat, entsenden.
Für sich selbst sucht sie hier das Extrem und experimentiert mit Ayahuasca. Diese gleichfalls unter der Bezeichnung Yagé bekannte Droge, die sich seit einiger Zeit bei wohlhabenden Europäern und Nordamerikanern – darunter viel Künstlerprominenz – immer größerer Beliebtheit erfreut, sorgt in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern für einen florierenden einschlägigen Tourismus. In literarischen Kreisen hat ihr der US-Amerikaner William S. Burroughs mit seiner Publikation Auf der Suche nach Yagé (1953) zu Bekanntheit verholfen. In Melos Roman hilft das Rauschmittel der Protagonistin, verdrängte Teile ihres Bewusstseins nach und nach zu vergegenwärtigen. Als Vierjährige musste sie miterleben, wie ihr Vater ihre Mutter ermordet und die Leiche anschließend mit Hilfe eines Fremden beseitigt hat. Der währenddessen im Autoradio laufende Beatles-Song Ob-La-Di, Ob-La-Da (1968) – der Titel bedeutet „Das Leben geht weiter“ („life goes on“) – wurde zum Soundtrack des Verbrechens, das sie aus Selbstschutz in der Folge radikal zensiert. Das im Lied gezeichnete Bild eines musterhaften Lebensentwurfs bleibt so dem traumatisierten Kind, später der Erwachsenen versagt. „Vielleicht hätte meine Großmutter mir die ganze Wahrheit […] erzählt, wenn ich sie früher darum gebeten hätte. Vielleicht wäre meine Erinnerung früher geweckt worden, sogar ohne die Hilfe des Ayahuascas. Selbst als ich erwachsen war und Jura studierte, wollte ich nicht einmal die Akte über den Tod meiner Mutter lesen.“
Während ihres Aufenthalts in Cruzeiro do Sul verfolgt die Juristin neben vielen anderen Verhandlungen auch die um einen brutalen Sexualmord an einer jungen Indigenen. Trotz eindeutiger Beweislage werden die drei Täter aus gutem Haus freigesprochen. Dass irgendwann allein durch die Anzahl der unerledigten oder verzögerten Fälle die Opfer ihre Identität zu verlieren drohen, aus Namen Nummern werden, deutet die Metapher der gestapelten Frauen an. Es fehlt nicht am redlichen Bemühen Einzelner, doch letztendlich verschwinden die meisten der eingeleiteten Strafverfolgungsverfahren als riesige Aktenberge auf ewig im Nirwana eines Behördenarchivs.
Exemplarisch und präzise dargestellt kann man solche Abläufe auch im vierten Kapitel (Der Teil von den Verbrechen) von Roberto Bolaños 2004 postum erschienenen Roman 2666 nachlesen, in dem es um eine grauenhafte, nicht enden wollende Serie von Femiziden geht. Die Vorfälle, in einem nüchternen Stil verfasst, sind in die fiktive mexikanische Ortschaft Santa Teresa verlegt, basieren jedoch auf Tatsachen: In den frühen 1990er Jahren häuften sich in Ciudad Juárez, einer mexikanischen Grenzstadt zu den USA, weibliche Leichenfunde auf Industriebrachen, Müllhalden oder in der Wüste, oft auch in der Nähe von den Weltmarkttextilfabriken maquiladoras, wo vorwiegend Frauen unter katastrophalen Arbeitsbedingungen ausgebeutet wurden.
Solch perfides Konglomerat aus Exploitation und Unmenschlichkeit publik zu machen, scheint das probate Mittel im Kampf dagegen zu sein. Aber der Gang an die Öffentlichkeit kann ebenso gut missbraucht werden. Um an seiner Freundin Rache zu nehmen, lädt Amir Aufnahmen, die sie beim Sex und in anderen intimen Situationen zeigen, auf einer pornografischen Internetseite hoch und fügt sogar noch ihre Handynummer hinzu. Der anfangs schwer Getroffenen wird klar, worauf die als Porn-Revenge bekannte Strategie abzielt. Sie, die Geschädigte, ist es, die im Erdboden versinken soll, so wie sie sich als Kind für ihren kriminellen Vater und dessen Tat geschämt hatte. Der „virtuelle Tod“ scheint ihr sogar „noch perverser als der reale. Du bist es, die Leiche, die mit dem Bodensatz deines ausgelöschten Lebens fertigwerden muss.“ Amirs „Absicht, den moralischen Tod“ über sie „zu verhängen“, entgegnet sie offensiv, indem sie den Spieß umdreht und nun ihrerseits das pornografische Bildmaterial viral stellt, um „die Wahrheit wieder geradezurücken“ und „virtuellen Mord an“ ihrem „Ex-Freund“ zu begehen. Gleichzeitig legt sie die Internetseite gestapelte-Frauen.com an, auf der sie die von ihr zusammengetragene lange Liste der getöteten Frauen veröffentlicht und die Gewaltopfer damit der Anonymität entreißt.
In einem Buch, in dem es von Frauennamen förmlich wimmelt, bleibt der richtige Name der Ich-Erzählerin ungenannt, was sie zu einer Art „Jedermann“-Figur macht. Ihre zwei inoffiziellen Benennungen stehen sich diametral gegenüber und haben direkten Verweischarakter auf ihre Biografie. Für Amir ist sie seine „Kriptonita“ nach dem fiktiven Element Kryptonit aus den Superman-Comics, bekanntlich der einzige Stoff, der den mit übermenschlichen Kräften ausgerüsteten Held*innen gefährlich werden kann. „Kriptonita“ ist somit ein Etikett, das auf eine Schwachstelle in der Vergangenheit der jungen Frau hindeutet, ironischerweise aber einem teilweise in der Zukunft handelnden Klassiker entnommen ist. Die Indigenen taufen sie nach ihrem körperlichen und seelischen Zusammenbruch „Rawa-kah, Heißer Atmen“. Dieser neue Name hat tief in der Vergangenheit der Urbevölkerung wurzelnde mythische Quellen und verleiht der Anwältin für ihr zukünftiges Leben eine neue und ungeahnte Stärke. Für die Indigenen ist es kein Zufall, wie jemand heißt: „Namen sind nicht dazu da, dass man sie benutzt, sondern um sie zu bewahren, schütze deinen Namen, […] sprich ihn nicht laut aus. Wer unseren Namen kennt, weiß, wie er uns Leid zufügen kann.“
Patrícia Melo
Mulheres Empilhadas
Editora LeYa Brasil. São Paulo 2019
Deutsche Ausgabe: Gestapelte Frauen
Unionsverlag. Zürich 2021
Bildquellen: [1] CoverScan; [2-3] Quetzalredaktion_CD