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Melo, Patrícia: Trügerisches Licht

Gabriele Eschweiler | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

Melo_trügerisches_licht_CoverScanFalsche Fährten, grobe Ermittlungsfehler und ein dunkles Familiengeheimnis – untermalt von klassischen Arien

In dem Kriminalroman „Trügerisches Licht“ (Fogo-Fátuo, 2014) der Brasilianerin Patrícia Melo leitet Azucena Gobbi die Abteilung für Spurensicherung der Zentralen Mordkommission in São Paulo. Mit ihrem achtzigjährigen Vater Damaso, „dem Kommissar ihrer Kindheit, dem alten italienischen Löwen aus Guarulhos, als der er in der Stadt bekannt war“, teilt sie ihre Leidenschaft für die großen italienischen Opern des 19. Jahrhunderts. Einer Figur aus Guiseppe Verdis „Der Troubadour“ verdankt sie ihren ungewöhnlichen Vornamen. Ob in Freizeit oder Beruf – vom Training auf dem Laufband bis zum Aufarbeiten der Akten – alles findet seine Begleitmusik in den ebenso gefühlvollen wie populären Arien. Vater und Tochter frönen diesem „Operntick“ in gleichem Maße und dies, obwohl oder gerade weil sich strafbare Handlungen wie Mord, Betrug, Erpressung, sexuelle Nötigung, Verleumdung, die den tristen Arbeitsalltag der beiden Polizisten bestimmten und bestimmen, gerne auch als spannungserzeugende Motive in den geliebten Bühnenwerken wiederfinden.

Doch auch Azucenas aktuelles Leben ist voller Theatralik. Ihr Chef vom Dienst wird wegen Korruption suspendiert, so dass sie früher aus ihrem Italienurlaub abberufen wird. Da sie ihre Ankunft nicht angekündigt hat, überrascht sie ihren Ehemann mit ihrer jüngeren Schwester im Bett, was eine hässliche Trennung zur Folge hat.

In ihrem neuen Fall scheinen sich Fiktionalität und Wirklichkeit in ähnlicher Weise zu vermischen. Der Schauspieler Fábbio Cássio, bisher als Telenovela-Star bekannt, übernimmt die anspruchsvolle Hauptrolle des Stücks „Narrenfeuer“. Bei der Premiere erschießt er sich coram publico mit der Bühnenwaffe. Der kurze Moment einer Irritation, wenn der reale Tod sich als Teil einer fiktionalen Handlung tarnt und aus der Requisite die Tatwaffe wird, macht diesen Topos so interessant für Krimiautoren, dass er immer mal wieder gern benutzt wird. Als Beispiel mag Caroline Grahams „Requiem für einen Mörder“ (1989) dienen, in dem eine englische Amateurtruppe Peter Shaffers „Amadeus“ (1979) aufführt und der Darsteller des Antonio Salieri sich auf der Bühne mit einem Rasiermesser die Kehle durchtrennt.

Durch das Thema des bei Melo aufgeführten Stücks erfährt der spektakuläre Tathergang seinen Kommentar. Es handelt sich um eine Adaption des Romans „Das Irrlicht“ (Le Feu Follet, 1931), der hierzulande eher durch die allerdings sehr freie Verfilmung von Louis Malle (1963) bekannt ist. Der Verfasser, der Franzose Pierre Eugène Drieu la Rochelle, gehört wegen seiner offen faschistischen Ansichten sowie seiner Kollaboration mit den deutschen Besatzern und dem Vichy-Regime im Zweiten Weltkrieg zu den umstrittenen, wenn auch bedeutenderen Repräsentanten der französischen Literaturszene der frühen Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts. Nennenswert ist auch, dass er als einer der Ersten die Bedeutung von Jorge Luis Borges erkannt und den Argentinier in Europa publik gemacht hat. „Das Irrlicht“ ist ein Porträt von Drieu la Rochelles Freund Jacques Rigaut. Beide pflegten in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg bis weit in die 1920er Jahre das Image des anti-bourgeoisen, nihilistischen Dandys und standen den Pariser Dadaisten und später den Surrealisten nahe. Rigaut, der 1929 Selbstmord beging, hat sich Zeit seines Lebens – auch literarisch – zuvorderst mit dem Thema Freitod auseinandergesetzt.

In „Trügerisches Licht“ stellt sich für die Spurensicherung vordringlich die Frage, ob es sich bei der Tat um einen Suizid oder ein Tötungsdelikt handelt. Azucena folgt ihrer Routine in einem Land, in dem eine schlecht motivierte Strafverfolgungsbehörde auf Kriminalität nur zu oft mit Gleichgültigkeit reagiert.

80 % der Morde – so heißt es im Roman – blieben unaufgeklärt. Bei der Arbeit sind Fehleinschätzungen und Schlampereien an der Tagesordnung. Doch gelegentlich kann die Polizei Erfolge verbuchen: Ein schon länger gesuchter Serientäter, dem zahlreiche grauenhafte Morde an Mädchen in der Serra da Cantareia zugeschrieben werden, wird, wenn auch nur einem Zufall geschuldet, dingfest gemacht. Alles in allem scheinen Irrtümer, die von den Ermittlern, Zeugen, Verdächtigen und Tätern gleichermaßen begangen werden, den größten gemeinsamen Nenner der Krimihandlung zu bilden. Azucena zählt keineswegs zu den Detektivgenies à la Sherlock Holmes oder Hercule Poirot: Sie macht diverse Fehler, von denen einer ihr fast das Leben kostet.

Wegen Fábbio Cássios Popularität ist der Fall eine Steilvorlage für den Boulevardjournalismus, der mehr an dramatischen Geschichten als an der Wahrheitsfindung interessiert ist. Dabei wird ein in erster Linie an Sensationen in der reality interessiertes Publikum zur Genüge mit Futter versorgt und auf die Persönlichkeitsrechte der Opfer und Zeugen keinerlei Rücksicht genommen. „Vor nicht allzu langer Zeit waren Gerichtsprozesse noch öffentliche Spektakel gewesen. Die Guillotine auf den Hals der Verurteilten niedersausen zu sehen, stillte den Hunger der Menschen nach Katastrophen. Heute haben wir den gleichen widerwärtigen Hunger, aber das Spektakel muss noch öffentlicher, noch medienwirksamer sein […]. Klatsch und Tratsch und Verleumdungen: die virtuelle Lynchjustiz.“

Dass in einer derartigen Situation alles unternommen wird, damit Familiengeheimnisse auch solche bleiben, spielt bei der Aufklärung des Verbrechens eine entscheidende Rolle. Der öffentlichen Schande zu entgehen, ist ein wichtiges Motiv. Mindestens genauso wichtig ist es, dass die Institution der Familie in jedem Fall unangetastet bleiben muss. „Schlimm, wie Familiengeheimnisse die Ermittlungen auf Abwege führen und verzögern konnten, dachte Azucena.“ Was sie ihrerseits in ihrem Privatleben jedoch nicht davon abhält, ihre eigenen Geheimnisse für sich zu behalten.

Patrícia Melo

Fogo-Fátuo

Editora Rocco. Rio de Janeiro 2014

Deutsche Ausgaben: Trügerisches Licht

Tropen Verlag. Stuttgart 2016

Unionsverlag. Zürich 2021

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