Wenn Fotos mehr sagen als Worte
Die Welt durchläuft soeben die nächste industrielle und kulturelle Revolution: die Digitalisierung. Computer, Internet, Industrie 4.0 verändern das Leben wohl ebenso radikal wie der Übergang von der Agrar- zur Industriewirtschaft.
Ein Sektor, der diesen Wandel besonders schnell durchläuft, ist die Fotografie. Mit unglaublicher Geschwindigkeit entwickelt sich die Technologie. Das ist allerdings nur die eine Seite. Denn noch viel schneller erhöht sich die Anzahl der Bilder, die mit einer der neuen Kameras aufgenommen werden. Eine wahre Explosion. Entsprechendes gilt für die Zahl der Fotografen – oder derjenigen, die sich dafür halten. Der Generalfotograf hat schon lange ausgedient. Inzwischen gibt es (oft selbst ernannte) Experten in den verschiedenen Genres wie Porträt-, Hochzeits-, Mode-, Werbe-, Architektur-, Kriegs-, Sozial-, Umwelt-, Sport-, Reportage- und was nicht noch für andere Fotografie. Und die Differenzierung ließe sich beliebig weiterführen, wenn man die Nacht-, Studio-, Schwarzweiß- und Unterwasserfotografie etc. hinzunimmt. Schlimmer noch. Neben diesen Fotos der „Experten“ gibt es noch Millionen von Urlaubs- und Alltagsfotos von Freunden, Schnappschüsse von hier und da, ein Meer an Bildern in Illustrierten und Zeitschriften. Kurzum: Man verliert den Überblick, und es schwirrt einem vor Fotos nur so der Kopf.
Daher ist es an der Zeit innezuhalten, wieder einen Schritt zurückzugehen. Zugegeben: Selbst am Ende des 20. Jahrhundert gab es bereits eine Liste bedeutender Fotografen, auf der wohl an die Tausend Namen standen. Doch die Wahlmöglichkeiten hielten sich noch in Grenzen. Dieser Rückblick wird dann zum Ausblick: Wer keine Kriegsfotos von Robert Capa oder Horst Faas sehen möchte, nicht die exzentrischen Porträts von Diane Arbus und nicht die Fashionfotos von Richard Avedon, der kann sich ja an einen der anderen Fotokünstler halten – wie Sebastião Salgado.
Salgado, geboren 1944, gehört zweifelsfrei zu den bedeutendsten Fotografen des 20. und angehenden 21. Jahrhunderts. In Deutschland dürfte er nicht zuletzt dadurch bekannt geworden sein, dass Wim Wenders im Jahr 2014 mit „Das Salz der Erde“ eine Hommage an ihn schuf.
Salgados Werk ist sehr umfangreich. Im Zentrum seines Schaffens stehen sozialkritische Themen wie Hunger, Leid, Migration und unmenschliche Arbeitsbedingungen. Darüber hinaus engagiert er sich – vor allem ab 2004 mit dem Projekt „Genesis“ – sehr stark für den Erhalt der Umwelt.
In diesem Jahr nun ist im Knesebeck Verlag zum ersten Mal auf Deutsch sein Erstlingswerk erschienen: Anderes Amerika. Das Buch bezieht sich auf ein Projekt, das Salgado 1977 startete und 1984 beendete. Zu Beginn des Projektes arbeitete Salgado bereits vier Jahre als freischaffender Fotograf, nachdem er in São Paulo Wirtschaftswissenschaften studiert und in Paris promoviert hatte. Allerdings kannte er zu dieser Zeit Paris und London wahrscheinlich besser als seine lateinamerikanische Heimat. Als er beschloss, das andere Amerika zu bereisen und zu dokumentieren, war dies für ihn Neuland. Heraus kam der Bildband Autres Amériques, der 1986 in Paris und danach in englischer Übersetzung in New York und in spanischer Fassung in Madrid veröffentlicht wurde.
Die Unvoreingenommenheit Salgados gegenüber Lateinamerika hatte den Vorteil, dass er mit offenen Augen und griffbereiter Kamera den Alltag in Mexikos Sierra Madre, das harte Leben in den staubtrockenen Gegenden des brasilianischen Nordeste und die bittere Lebenswirklichkeit der Andenbewohner sehr anschaulich ins Bild setzen konnte. In welchem Kontext die Fotos entstanden, kann man allenthalben nur erahnen. Viel zu lesen gibt es nicht. Im Nachwort findet sich ein dreiseitiger Text über Fotografie als eigenständige Kunstgattung. Von Salgado selbst stammen lediglich dreieinhalb Seiten über „Andere Bilder“. Vielleicht stehen diese Zeilen im Zusammenhang mit den Fotos. Klar wird das nicht. Außer diesem kryptischen Text gibt es noch die Bildtitel aus Salgados Feder, also z.B. „Ecuador 1982“ oder „Brasil 1980“. Das ist nicht viel. Um nicht zu sagen: Das ist reichlich spartanisch. Nun gut, es ist schließlich ein Fotobuch. Und ein Fotograf sollte andere Ausdrucksformen haben als ein Dichter oder Schriftsteller. Dennoch enttäuscht das die Erwartungen.
Auch der Umfang des Buches mit 130 Seiten ist recht knapp bemessen. Aber die 49 Fotos über die Religion, die Landwirtschaft, den Tod und die Menschen Lateinamerikas wurden erstklassig ausgewählt. Sie zeigen Momentaufnahmen eines reisenden, eines beobachtenden Fotografen, der wie zufällig dabei ist und Szenen des Alltagslebens einfängt. Er porträtiert Menschen in ihrem Beruf, bei der traditionellen Arbeit auf dem Lande, zeigt Szenen der Liebe, des Leids, Hochzeit und immer wieder den Tod. Über allem thront eine himmelschreiende Armut, die auf jedem Detail der Fotos sofort ins Auge sticht. Das beginnt bei der Kleidung, der Wohnung und zieht sich wie eine Perlenschnur durch die Lebensgeschichten, die auf den Bildern festgehalten sind. Von daher wundert es wenig, dass die porträtierten Personen, seien sie jung oder alt, selten lächeln. Vielmehr ist der Blick oft starr ins Leere gerichtet – wie teilnahmslos. Traurige Gesichter blicken auf den Leser und erzählen von ihrer Misere.
Dies ist das „Andere Amerika“, das Amerika aus Armut, Entbehrung, hartem Leben und Tod. Es ist das Amerika, das die meisten Menschen in den industrialisierten Ländern nie zu sehen bekommen und sich nicht vorstellen können. Sie verbinden Lateinamerika meist nur mit Sonne, Strand, Samba, Tequila und Caipirinha, Karneval, Silber und El Dorado. Dass das wahre Leben hinter dieser mysthischen Fassade vielfach ganz anders aussieht, dies festzuhalten, ist Salgado ausgezeichnet gelungen.
Dennoch: Wer all dies harte Leben, die Armut, die Spiritualität und die starke Familienbindung selbst erlebt hat, wird das „Andere Amerika“ eher als das „Alltagsamerika“ verstehen. Die Fotos wirken wie ein Spiegel. Darauf verweist auch Gonzalo Torrente Ballester in seinem Nachwort: „Bestimmte Ereignisse und Situationen, die für die Beteiligten völlig alltäglich sind [sic!], wirken auf uns [sic!] durch das Objektiv des Fotografen gesehen ungewöhnlich, überraschend oder ungeahnt“ (S. 114).
Damit rückt der künstlerische Aspekt für diesen Personenkreis in den Vordergrund. Zunächst fällt auf, dass es sich ausschließlich um Schwarzweiß-Aufnahmen handelt. Obwohl es trivial klingen mag: Aber dies ist eine entscheidende Bildinformation: Farbe macht nicht das Bild aus. Es sind vielmehr die Formen, Strukturen und vor allem Kontraste, die die Fotos bestimmen. Auf diese Weise lenken auch keine Farben vom Hauptmotiv ab, was vor allem bei den Porträts sehr zustatten kam. Bei einigen Bildern wählte Salgado zudem extreme Kontraste (z.B. S. 41 und S. 76), was die Gesichter noch mehr hervorhebt.
Salgado wählte vorwiegend das Querformat. Da die Fotos oft komplementäre Szenen aufweisen, finden sich zueinander stehende Motive jeweils auf der linken und rechten Buchseite (z.B. S. 20, S. S. 33, S. 49). Der Verleger Claude Nori erkannte darin die perfekte Eignung für die Buchdoppelseiten, da sie so durch Falz und Heftung getrennt werden (siehe Einleitung auf S. 8). Dieser Einschätzung muss man nicht unbedingt zustimmen. Denn durch die Falz geht oft der Bildcharakter, vor allem aber Details – und somit Information – verloren. Es hätte sich somit angeboten, das Buchformat dem Bildformat anzupassen. Aber das ist nicht Salgados Fehler.
Die Komposition der Fotos macht den Meister aus. Ein sehr schönes Beispiel ist das formatsprengende Bild auf S. 20/21, auf dem zwei Hände auf irgendetwas außerhalb des Fotos weisen. Auch der Mann blickt in diese Richtung, der Kopf des zweiten ist verdeckt. Das weckt das Interesse und die Imagination beim Leser. Was ist da? Was wollen die beiden erzählen?
Salgado weiß auch die Perspektive für sich zu nutzen. Sehr oft wählte er eine tiefe Kameraposition, was die Objekte größer erscheinen lässt. Besonders eindrucksvoll ist diese Perspektive in Kombination mit einer Weitwinkelaufnahme. Das Porträt eines Mannes neben einer Eisenbahn (S. 28) wird dadurch nachgerade dominant und einprägsam. Stets sucht er zudem nach Tiefe. Geradezu exemplarisch ist hierfür das Porträt des Jungen mit – man kann es nur erahnen – seiner Großmutter (S. 23). Während die alte Frau gütig auf ihn herunter schaut (auch die Kamera betont diese Beziehung), verlaufen als ein zweites zentrales Bildelement Eisenbahnschienen gen Horizont. Sie assoziieren die Ferne und die zukünftige Entwicklung des Jungen, so ungewiss sie auch sein mag. Auf diese Weise ließe sich zu jedem Foto eine Geschichte erzählen.
Alles in allem ein sehr empfehlenswertes Buch für Lateinamerikaaffine und Fotoenthusiasten. Klare Abstriche gibt es bei den Begleittexten. Eklatant wird es im Epilog, der das Vorwort der Amerikanischen Ausgabe in deutscher Übersetzung wiedergibt. Der Leser erfährt darin von Alan Riding (übersetzt von Bernd Weiß), dass die „Indios“ über Jahrhunderte die „»Zivilisation«“ [warum in Anführungszeichen?] des Kontinents bestimmt haben und sich in die Berge zurückzogen, wo sie in einer Armut und einem Mystizismus lebten, die sie mit den „Peonen und Kolonisten“ im Nordosten Brasiliens verband (S. 117). Und wenn sie sich gegen diese Armut auflehnten, wurden sie, „wie in Kolumbien, Guatemala, El Salvador, Nicaragua und Peru, von den revolutionären Guerillabewegungen vereinnahmt (S. 119).“ Manchmal ist weniger Text eindeutig mehr. Im vorliegenden Buch hätte man ganz darauf verzichten sollen. Zum Glück sprechen Sebastião Salgados Fotos eine deutlichere Sprache, wohl auch, weil er „sich nicht an die exotische Folklore des Indianerlebens klammert, für die man im »Westen« so schwärmt“ (ebd.).
Salgado, Sebastião:
Anderes Amerika
Knesebeck-Verlag, 2015
Bildquelle: [1]-[3] Sebastião Salgado / Knesebeck-Verlag.
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