Die Geschichte der Rückkehr… also… da muss man vielleicht mit der Flucht nach Chiapas beginnen. Die Flüchtlinge sind nach Puerto Rico in Mexiko gekommen und nach etwa einen Jahr, haben sie die Leute gezwungen, von dort wegzugehen. Warum? Weil die guatemaltekische Armee versuchte, dort reinzukommen, weil sie mexikanisches Territorium durchquert haben auf der Suche nach Flüchtlingen. Und deswegen, um Probleme zu vermeiden, so sagte es der Befehl der mexikanischen Regierung und des Kommissars von Puerto Rico, wurden die Leute weggebracht – an verschiedene Orte. Der erste Transfer ging nach Quintana Roo, dann nach Campeche. Insgesamt wurden sie auf drei Bundesstaaten verteilt. Dort gab es, das stimmt schon, kleinere internationale Hilfen von Institutionen – zum Beispiel Grundnahrungsmittel: Mais, Bohnen, Reis. Das haben sie gegeben. Aber es war offensichtlich, dass das für die Leute zum Leben nicht reichen würde, vor allem für die nicht, die fünf oder sechs Kinder haben… das war unmöglich. Also mussten die Leute in den ejidos (1) arbeiten gehen.
Ihr arbeitet mehr und die Jugendlichen leisten sich jeden Luxus…
Aber es war nicht so einfach in die ejidos rauszugehen, da gab es auch Sorgen, denn – so sagt man jedenfalls – die Guatemalteken arbeiten mehr als die Mexikaner. Das heißt, die haben da den Unterschied gesehen… Bei uns stehen die Frauen um 3 Uhr früh auf oder um 4 Uhr und um 5 sind sie schon startklar. Und in den ejidos gab es Paprikaanbau, Peperoni und… also drei verschiedene Paprikasorten. Das ist der Hauptanbau dort in der Umgebung von dem Flüchtlingslager Los Lirios. Also haben auch die Frauen nach Arbeit gefragt. Und die Mexikaner haben mitgekriegt, dass die Leute, auch Kinder ab 12 Jahren, die Sonne ertragen haben. Sobald es um 6 Uhr hell wurde sind sie los und dann haben sie ihr drei-, vier-, fünffaches Tagespensum Paprika gemacht. Ich hab’s auch versucht, aber es ging nicht. Das war erstmal das nächstliegende Thema. Aber dann hieß es an die Ausbildung der Kinder denken. Es wäre schön, wenn sie zusammen lernen könnten, aber die Not… Und dann die Gesundheitsversorgung… Es fing damals an, dass Kranke behandelt wurden, aber das allein reicht nicht…. Und, na ja, zum Beispiel die jungen Leute mussten ihre Klamotten kaufen. Sie waren nicht einverstanden, dass es da einen Haufen Kleider gab, nach dem Motto: „Da habt ihr eure Klamotten!“ Nichts davon passte ihnen. Deswegen mussten sie an etwas Eigenes denken, ihre Größe, Kleidung, die ihnen paßt. Also fingen sie an, weiter weg Arbeit zu suchen, erst mal in den Orten von Quintana Roo, dann in Cancún, der Isla de Mujeres oder Cotzumel – immer weiter weg. Da haben wir erfahren, dass die Guatemalteken jeden Tag schon zwei, drei LKWs füllten. Und die Frauen betrieben inzwischen Landwirtschaft, säten Mais, gingen aufs Feld zum jäten, also alles… Männer und Frauen haben alles gemacht. Das haben die Mexikaner mitgekriegt und da ging schon ein wenig die Diskriminierung los. Sie wurden aufmerksam: „Ihr arbeitet mehr und die Jugendlichen leisten sich jeden Luxus… Klamotten… Fahrräder.“ Weil’s dort flach ist, konnte man dort Fahrradfahren. Das war eine der seltsamen Sachen, wenn wir von Guatemala erzählten, von dem Unterschied. In Guatemala siehst du fast niemand Fahrradfahren. Erst jetzt kommt das so langsam. Aber früher gar nicht. Das gab’s nicht. Aber dort haben sie ihre Räder gekauft, ihre Uhren und, klar, die Mädchen auch ihre Kleider – wer es sich eben leisten konnte. Obwohl sie ja ihre eigenen Trachten hatten. Aber man war gezwungen, die Tracht abzulegen. Mit der Tracht sieht man genau: Das ist ein Flüchtling. Also haben sie die Tracht aufgegeben.
Einige hatten vom Krieg her die Idee, dass man was verstecken könnte
Und später fing dann die Sache mit der Migrationspolizei an. Die Jungs, die ja von ihren Vätern gelernt hatten, wie man unter der Sonne schuftet, die sind nach Cancún gegangen und haben da auf die gleiche Weise gearbeitet. Wo sie eben Arbeit gefunden haben, die Sonne war ihnen egal. Also hatten sie nach einem Monat schon ein gutes Einkommen zusammen. Sie haben keine Zeit verloren, immer Überstunden gemacht. Aber, was macht die Migrationspolizei? Sie nimmt’s ihnen weg, vielleicht die Hälfte vom Lohn. Und sie nehmen ihnen die Uhr ab, alles was sie haben. Allmählich hat sich die Situation zugespitzt. Auch für die Frauen, die Mädchen. Nicht für alle, aber für diejenigen, die dort in einer Küche oder in einem Restaurant, einem Park gearbeitet haben. Männern und Frauen haben sie weggenommen, was sie dabei hatten. Also haben sie’s in den Süßigkeiten versteckt oder zwischen den Keksen, die sie dabei hatten. So ging’s meinen Brüdern, meinen Nichten. Sie kamen heulend nach Hause, weil die Migrationspolizei ihnen alles weggenommen hatte. Aber einige hatten vom Krieg her die Idee, dass man ja was verstecken könnte. Also steckten sie ihr Geld in ein Brot oder zwischen die Kekse. So haben sie wenigstens ein bisschen was bis nach Hause gerettet.
Das ging eine Weile so… aber die Eltern…. na ja, ihre Kinder gingen malochen, arbeiten, das Geld verdienen… aber es kam kaum mehr was rum dabei. Also haben sie sich beim UN-Flüchtlingshochkommissariat beschwert und bei der mexikanischen Flüchtlingskommission, dass das nicht gerecht ist, denn: Wo sollten wir denn noch hin? „Ja, ja, das ist so, weil ihr Guatemalteken seid. Ihr habt kein Recht, hier zu bleiben. Die hier geboren werden schon, die haben teilweise Rechte. Die, die jetzt in Mexiko geboren werden, die dürfen bleiben. Aber ihr als Guatemalteken: Wann immer ihr entscheidet zurückzugehen – geht!“ Das war, als wenn man wieder die Folter zu schmecken bekommt. „Erst schätzen sie dich, dann stoßen sie dich zurück.“ So hab ich immer gesagt.
Meine Kleidung ist meine Kleidung!
Meine Mutter spricht kein Spanisch, nur ihre eigene Sprache. Sie hat jeden Tag geweint. Da ich Weben gelernt hatte, hatte ich meine drei Garnituren Tracht in Guatemala und sie hat sie mitgenommen. Und ich hatte auch noch Garn übrig, das war auch mit dabei. So habe ich ihr ihre traditionelle Kleidung gemacht. Und sie hat sie nie abgelegt. Aber die Migrationsbehörde… „Weg mit diesen Kleidern!“ Und sie: „Nein, nein und nochmals nein! Meine Kleidung ist meine Kleidung.“ Also, das war eine von den Wertvorstellungen, die die Leute dieses Alters – sie sind heute um die 70 Jahre alt – mitgebracht hatten. Und das hat sie dazu motiviert, zu überlegen: „Also, meine Kinder leiden hier und ich, ich hab Land dort…“ Die Leute im Flüchtlingslager Los Lirios zum Beispiel waren zum Großteil Kooperativisten im Ixcán gewesen, im Programm eines Priesters, der Guillermo Woods hieß. Mein Vater war einer der Vorsitzenden der Kooperative Ixcán Grande. Das war die Basis dafür, dass die Leute jetzt anfingen nach ihm zu suchen und zu fragen: „Was machen wir denn nun mit unseren Kindern? Wie geht’s denn deinen Kindern?“ – „Na ja, sie gehen arbeiten und man nimmt ihnen immer das Geld weg.“ – „Das ist doch kein Leben. Warum tun wir uns nicht zusammen und besprechen, ob wir wirklich so weitermachen wollen oder ob wir dran denken, was uns gehört?“
Einige Leute hatten Landtitel und konnten so beweisen, dass es ihr Privateigentum war, was sie zurückgelassen hatten. Und es gab ja immer Händler oder Leute irgendwelcher Kommissionen, die zu uns kamen, die in Chiapas nahe der Grenze geblieben waren. Einige konnten sich zum Beispiel bei Mexikanern verstecken, die Kaffee anpflanzten: „Du bist hier mein Knecht. Du zählst als Arbeiter hier.“ Das heißt, diese Leute hatten Verbindung nach Guatemala. Und dadurch erfuhr mein Vater, dass die Kooperative von Xalbál im Ixcán von der Armee besetzt worden war. Sie hatten Leute von der Südküste dorthin gebracht und sie dort angesiedelt. Und die Armee hat das Land auf sie überschreiben lassen und ihnen ihre Landtitel gegeben. Dafür mussten die Leute sogenannte „Entwicklungspole“ bilden. Das heißt, sie mussten für die Armee da sein. Obwohl ja die Armee sagt, sie sei für die Verteidigung der Souveränität da. Stimmt nicht! Die Leute waren für die Verteidigung der Armee da. Und es war sogar so, dass auch sie, also diese Leute, ihren Besitz dort zurücklassen mussten, wo sie vorher gelebt hatten. Aber das habe ich erst jetzt erfahren. Sie wurden auch gezwungen und sind dorthin gegangen, um ebenfalls ihr Leben zu retten… Und sie haben bis heute Angst. Aber es gab auch welche, die waren richtig aggressiv und sie haben die Einstellung: „Die Leute aus dem Ixcán sind schlechte Leute. Es sind Guerilleros. Es sind die, die töten.“ Ach!
Sobald ich dort mein Gesicht zeige, bringen sie mich um.
Damals haben sich also die Kooperativisten zusammengetan und haben ihren Vorsitzenden geholt – das war mein Vater – und geguckt, wo ist der Sekretär… Und schließlich haben sie beratschlagt: „Was machen wir? Bleiben wir oder gehen wir nach Guatemala?“ – „Warum schicken wir keine Delegation hin?“ Also war’s so, dass sie meinen Vater dafür vorgeschlagen haben. „Du hast deine Unterschrift auf dem Landtitel der Kooperative von Xalbál, du bist der Vorsitzende, dein Fingerabdruck ist da drauf. Also gehörst du in die Delegation!“ Aber mein Vater sagte: „Nein. Das ist unmöglich. Sobald ich dort mein Gesicht zeige, bringen sie mich um!“
Ich habe einen Onkel, der wurde in den siebziger Jahren verschleppt und wir haben nie erfahren wohin. Nie. Und das blieb als Erfahrung haften, ein Schreckensbild, das wir immer vor Augen hatten – wie die Armee meinen Onkel verschleppt. Es gab da eine Hängebrücke. Auf der einen Seite hat sich eine Gruppe Soldaten postiert und auf der anderen auch. Sie waren aus dem Dorf gekommen, zusammen mit zwei Personen, die solche Mützen aufhatten, wo man nur die Augen sieht. Und die sagten dann: „Der nicht. Der ja. Der nicht und der ja.“ Also, diese Lektion hatten wir gelernt und mein Vater sagte: „Nein. Ich gehe nicht. Wenn die Dinge so stehen, und das jetzt hier schon eine Art kleiner Vollversammlung ist, dann müssen wir es so machen, dass wir die Mexikanische Flüchtlingskommission und das Hochkommissariat der Vereinten Nationen holen. Also, rufen wir diese Personen als Vertreter von Institutionen, damit sie uns in der Frage weiterhelfen und damit sie uns bei Verhandlungen begleiten. Und auch die anderen Sektoren, die Volksorganisationen.“ Denn so konnten wir nicht mehr weiterleben, so ging’s nicht mehr!
Es wurde dann eine Delegation zusammengestellt mit einigen Frauen aus der Schweiz – eine hieß Angela. Also eine Kommission mit einer Menge Leute, auch die Diözese von San Cristóbal in Mexiko war dabei. Und mein Vater reiste mit der ersten Delegation nach Guatemala. Um einen Dialog zu führen, unter welchen Bedingungen eine Rückkehr möglich sein könnte. Aber, klar, die dort wollten nichts davon wissen. Für die waren wir Leute, die das Land verlassen hatten und ob’s uns jetzt gut ging oder schlecht – egal. Aber, sie machten eine Menge Delegationsreisen, ich weiß nicht wieviele… Jedenfalls wurde mein Vater Mitglied der ständigen Vertretung der Flüchtlinge für Guatemala (Comisiones Permanentes – CCPP) Für die Verhandlungen. Eine Reise folgte auf die nächste, auch mit Vertretern aus anderen ejidos. Es war wie eine Kette, zum Beispiel zwischen Los Lirios, Cuchumatan, Maya Balam, zwischen den Bundesstaaten, Campeche, Chiapas, Quintana Roo. Einer nahm den nächsten bei der Hand: „Besser, wir gehen nach Guatemala!“
Da hast du kein Recht, in einem anderen Land zu leben.
Damals hat es auch mit dem sexuellen Mißbrauch, mit den Vergewaltigungen der Mädchen, die nach Cancún arbeiten gingen, angefangen… das fing da an. Also, besser, wir gehen zurück nach Guatemala. Dort haben wir Land und hier gibt’s nichts, wo man was anbauen könnte. Denn die traditionelle Mentalität der Leute ist, dass sie ein etwas größeres Landstück bebauen, damit etwas übrig bleibt für Salz, Zucker und Seife. Früher hat man nur diese drei Sachen benutzt. Kein Brot, keine Süßigkeiten – bloß nicht! Nur das und die Kleidung. Aber nun hatte man gesehen, dass im Flüchtlingslager selbst das unmöglich war und es kam der Kommissar und man versammelte sich und die Autoritäten verstanden, dass es besser wäre, jeweils zwei Hektar Land provisorisch zur Verfügung zu stellen. Zum Bearbeiten und für die Kinder, die geboren werden würden. Damit es ihnen gehört. Aber nicht für die Väter. Und nicht, dass man mehr Land dazukaufen könnte. Das war verboten. Warum? Wegen der guatemaltekischen Nationalität. Da hast du kein Recht, in einem anderen Land zu leben. Nur die Kinder. Aber wann? Auch darüber musste geredet werden (als es um die Rückkehr ging – A. L.). Denn vielleicht würde man die Kinder, weil sie ja noch klein waren, einfach nach Guatemala mitnehmen und dann, wenn sie volljährig sind – in Guatemala ist das dem Gesetz nach mit 18 Jahren, von da an können sie selbst bestimmen, ihr Leben selber in die Hand nehmen -, also mit 18 Jahren würden die Kinder dann sagen: „Ich gehe nach Mexiko!“ Sie haben ja das Recht, in Mexiko zu leben. Also, das blieb oft so in der Schwebe.
Letztendlich war es dann so, dass die Mexikaner – als schon eine Rückkehrwelle nach der anderen rollte – merkten, dass die Guatemalteken einen großen Prozentsatz Grundnahrungsmittel produziert hatten: Mais, Bohnen, Kürbisse, Kürbissamen und was es sonst noch an landwirtschaftlichen Produkten gab. Dass sie einen beträchtlichen Teil davon auf den Markt gebracht hatten. Als sie also merkten, dass sie Rückkehr schon voll im Gange war, sagte einige: „Geht doch nicht weg. Wir verkaufen euch ein Grundstück, zwei, drei manzanas…“. Ach nein, das sind ja dort keine manzanas (0,7 ha), das sind ja Hektar. Und auch sie hatten gelernt, wie man sich zusammentut. Ich weiß nicht, wie das woanders war. Jedenfalls in Quintana Roo haben sie gesagt: „Geht doch nicht weg. Eure armen Kinder! Sie werden euch sterben.“ Zu mir haben sie das gesagt: „Dein Sohn wird sterben.“ Deshalb sagte ich, als er dann wirklich starb: Das war ein Hexer. Wie konnte der denn wissen, dass mein Sohn mir sterben würde?
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(1) Das ejido ist eine mexikanische Gemeindeform mit eigenem Landbesitz. Mit dem Agrargesetz und der Verfassungsreform von 1992 wurde dieser zur Privatisierung freigegeben.
Bildquellen:
(1) Lars Barthel. Copyright: ZDF / pop tutu film, 2008.
(2) University of Texas at Austin.