Guatemala – das bevölkerungsreichste und strategisch bedeutendste Land Zentralamerikas – scheint nur schwer aus dem medienpolitischen Schatten heraustreten zu können, den seine bekannteren Nachbarn Nicaragua und El Salvador immer noch werfen. Jüngst jedoch geriet das Land in die Schlagzeilen: Am 25. Mai 1993 putschte der erst Anfang 1991 gewählte Präsident Elias Serrano gegen die verfassungsmäßige Ordnung – in der Hoffnung, es seinem erfolgreichen peruanischen Amtsbruder Fujimori gleichtun und sich lästiger demokratischer Spielregeln entledigen zu können. Dies mißlang jedoch gründlich. Schon am 1. Juni schickte ihn die Armeeführung ins Exil und vier Tage später wählte das Parlament den parteilosen Menschrechts-Obmann de Leon als Nachfolger. Die dazwischen liegenden Ereignisse offenbarten einige wichtige, wenn auch keineswegs neuen Einsichten in das politische Leben der zentralamerikanischen Republik. Wieder einmal zeigte sich die Armee als die mächtigste politische Institution des Landes, ohne die nichts geht. Erst veranlaßten die Militärs Serrano zum Putsch, dann ließen sie ihn aufgrund des unverhofften Widerstands der Bevölkerung und des massiven Drucks von außen wie eine heiße Kartoffel fallen. Auch mit dem am Putsch beteiligten verfassungsmäßigen Nachfolger, dem Vizepräsidenten Espina, gingen sie nicht anders um. Im nachhinein ist schwer zu entscheiden, ob sie Serrano „nur“ als ziviles Feigenblatt benutzen wollten, oder ob sie von vornherein die direkte Herrschaft ansteuerten. Das von ihr selbst geschaffene zivile Machtvakuum nutzte die Armeeführung jedenfalls unverzüglich und übernahm am 2. Juni faktisch die Macht. Diesmal aber ging die Rechnung nicht auf. Offensichtlich hatte sich in den letzten Jahren die politische Kräftekonstellation soweit verändert, daß das Militär seine Machtgelüste nicht mehr ungestraft offen zur Schau stellen konnte. Der neue Präsident de Leon, der nach dem Willen des Parlaments bis zum 14. Januar 1996 amtieren soll, schickte unmittelbar nach seiner Regierungsübernahme (7.6.) zunächst Verteidigungsminister Garcia Samayoa, der als Drahtzieher der Putschwelle galt, und später auch dessen Nachfolger Perrusi-na Rivera (28.6.) gemeinsam mit anderen hohe Militärchefs in den Ruhestand. Der – mehr oder weniger erzwungene – Wechsel an der Armeespitze darf aber nicht mit einer Beschneidung der Macht der Institution Armee verwechselt werden. Seit nunmehr 40 Jahren bestimmt die Armee die Geschicke des Landes. Auch diesmal muß vermutet werden, daß es sich lediglich um ein taktisches Manöver handelt. Will man die Chancen für eine Demokratisierung in Guatemala real einschätzen, ist ein Blick in die Vergangenheit notwendig.
Antidemokratisches Erbe
Das guatemaltekische Volk hat in diesem Jahrhundert nur für kurze Zeit, von 1944 – 54, einen „demokratischen Frühling“ erlebt. Davor herrschten Diktatur und Gewalt, danach kamen noch Staatsterror, Bürgerkrieg und Genozid hinzu. Aber bis heute prägen die Erfahrungen jener zehn Jahre, in denen erstmals in der guatemaltekischen Geschichte die demokratischen Rechte und Freiheiten geachtet und ernsthafte Reformen unternommen wurden, das politische und gesellschaftliche Leben des Landes. Insbesondere das politische System Guatemalas ist durch die gewaltsame Niederschlagung des Reform- und Demokratieversuchs durch eine CIA-geführte Söldnerinvasion antidemokratisch geprägt. Bereits bei seiner Geburt 1954 stand das bis heute herrschende Regime unter dem Stern des Anti-Demokratismus, der deshalb besonders gewaltsame Züge annahm, weil sich in den Jahren 1944 bis 1954 Demokratie, Reform und Revolution in einzigartiger Weise miteinander verbunden hatten – eine Erfahrung, die in Lateinamerika bisher nur wenigen Völkern vergönnt war. Daher rührt aber zugleich auch die Widerstandskraft des guatemaltekischen Volkes und die Härte des Kampfes um seine Rechte. 33 Jahre Bürgerkrieg mit 100.000 Toten und 50.000 Verschwundenen zeugen davon. In Guatemala handelt es sich um einen Krieg von Staat und Armee gegen das eigene Volk. Zwar gab es – nachdem die Volksbewegung mit Terror und Massenrepression besiegt worden war – auch Phasen relativer Ruhe, in denen selektive Repression zur Niederhaltung der Bevölkerung ausreichend war. Nach der Niederlage der Aufstände in den Städten Anfang der 60er Jahre und der militärischen Niederschlagung der Guerrilla Ende des Jahrzehnts, die dem Regime den Übergang zu zivilen Formen der Machtausübung gestatteten (1966-70), formierten sich in den 70er Jahren die Gewerkschaften und die Agrarkooperativen zu politisch bedeutsamen Bewegungen. Der Bergarbeitermarsch von Ixtahuacan nach Guatemala-City und die sich daran anschließenden Protestaktionen hunderttausender Guatemalteken sowie der siegreiche Landarbeiterstreik 1980 legten davon beredtes Zeugnis ab. Und im Untergrund reifte eine Guerrilla, die aus der Niederlage gelernt hatte. Im Unterschied zu ihrer Vorgängerin konnte sie sich auf die Zustimmung und Beteiligung der indianischen Bevölkerungsmehrheit stützen. Die Antwort des Regimes auf den Aufschwung der Aufstands- und Volksbewegung fiel diesmal besonders blutig aus. Denn erstmals in der guatemaltekischen Geschichte bahnte sich ein Zusammengehen von indianischer und nichtindianischer Bevölkerung, von Guerrilla- und Volksbewegung, von Gewerkschafts- und selbstorganisierter Bauernbewegung an. Auf diese dreifache Bedrohung des antidemokratischen und antireformerischen Status quo reagierte das Regime 1982-84 mit der „Politik der verbrannten Erde“, der über 400 Dörfer zum Opfer fielen, und einem Ausrottungsfeldzug gegen die indianische Bevölkerung des westlichen Hochlandes, der mindestens 50.000 Menschenleben kostete.
Militarisierung der gesamten Gesellschaft
Dabei handelte das Militär nicht einfach als Prätorianergarde der herrschenden Klasse, sondern vertrat zugleich auch eigene Interessen. Für die vierzigjährige Unterdrückungsmission der Armee mußte die Oligarchie an die Militärchefs nicht zu knapp bezahlen: mit politischen Sonderrechten, der Vergabe großer Landgüter, mit der Etablierung eines von der Armee kontrollierten Wirtschafts- und Finanzsektors und mit der militärischen Hypertrophie (Aufblähung) des Staatsapparates. Das hatte neben dem wirtschaftlichen auch einen politischen Preis: die Armeeführung fühlt sich inzwischen als Teil der herrschenden Klasse und benimmt sich auch so. Nachdem in den 60er und 70er Jahren eine Interessenübereinstimmung zwischen Armee und Oligarchie vorhanden war, häufte sich in den 80er Jahren Konfliktstoff zwischen den Partnern an. Hinzu kommt, daß sich auch in der Oligarchie selbst eine traditionelle „Beton-Fraktion“ und in eine moderne, notfalls auch Reformen akzeptierende Fraktion herauszubilden begann. Streitpunkte sind vor allem die Erhöhung der Steuern (zur Finanzierung des Krieges), das Negativ-Image im Ausland und die Entwicklung des westlichen Hochlandes, dem indianischen Kernland. Die Entscheidungen, die hier fallen, beeinflussen unmittelbar das weitere Schicksal der Armee. Dabei haben die Militärs alle Aussicht auf Erfolg. Denn sie werden gegen die militärisch nicht geschlagene Guerrillabewegung URNG (Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca) gebraucht – noch?! Ihr Ziel jedenfalls ist klar vorgezeichnet: die Armee selbst als zentrale Institution des Staates, welcher seinerseits die beherrschende Institution der Gesellschaft bildet. Bereits seit Jahrzehnten ist das gesellschaftliche Leben dem alles entscheidenden Ziel der „contrainsurgencia“ – der Aufstandsbekämpfung – untergeordnet. In Guatemala gilt die Umkehrung des bekannten Clausewitz -Satzes über Politik und Krieg:
Hier ist Politik die Fortsetzung des Krieges. Auch wirtschaftliche Entwicklung fungiert in den Augen der Armeeführung als Element der Kriegsführung.
Die Institutionalisierung der Armee als Kernstück des politischen Systems in Guatemala läßt sich als Spiegelbild der wachsenden Furcht der Oligarchie vor dem eigenen Volk deuten. Bereits 1954 entschied der Verrat der Armee und nicht die militärische Stärke der CIA-Söldnertruppe über die Niederlage der Demokratie- und Reformbewegung mit revolutionärem Anspruch. Mit dem Militärputsch von 1963, der die Antwort auf den Beginn der Guerrillabewegung war, intervenierte die Armee als Institution erstmals politisch und übernahm die Staatsmacht. 1970 gelang es ihr – wiederum erstmals in ihrer Geschichte – die Regierungsgeschäfte durch Wahlen zu übernehmen.
Anti-Demokratie als Demokratie?
Zynischer Höhepunkt dieser Entwicklung war die Einleitung eines „Demokratisierungsprozesses“ unter Regie und Kontrolle der Armeeführung Mitte der 80er Jahre. Er führte 1986 zur Übernahme der Präsidentschaft durch den Christdemokraten Cerezo. Es weist auf den dezidiert antidemokratischen Charakter des „Demokratisierungsprozesses „hin, wenn sein Beginn nach der blutigen Zerschlagung der Volksbewegung und nach dem Genozid an der indianischen Bevölkerung liegt. Wie demokratisch kann eine Demokratisierung als Ergebnis von Massenterror und Völkermord sein?! Die Antwort der Armee ist klar: „Demokratisierung“ als Instrument der Kriegsführung kann nur antidemokratisch funktionieren. Das Ringen um Demokratie kennt jedoch mehr Akteure als es der Armeeführung genehm ist. Was als Instrument der Aufstandsbekämpfung gedacht war, bot zugleich auch Chancen für diejenigen, die besiegt und vernichtet werden sollten: für die URNG und die wiedererstarkende Volksbewegung. Denn um das beabsichtige politische Manöver halbwegs glaubwürdig ablaufen zu lassen und sein Ziel zu realisieren, mußten politische Kompromisse gemacht werden. Auch das Mißtrauen des Auslands sollte eingeschläfert werden. Da die Guerrilla militärisch nicht niedergerungen werden konnte und politisch klug agierte, waren ein nationaler Dialog mit allen politischen Kräften und Verhandlungen mit der URNG nicht mehr zu umgehen.
Demokratie schließt in Guatemala die politische und kulturelle Gleichberechtigung der indianischen Bevölkerung unbedingt ein. Erst die verfassungsrechtliche Verankerung und die politische Anerkennung des multinationalen und multikulturellen Charakters Guatemalas sichert dem Demokratisierungsprozeß die notwendige Basis. Auch an der Klärung der Landfrage zugunsten der Landarbeiter und Bauern führt keine Demokratisierung vorbei.
Die entscheidenden Kämpfe für und wider die Demokratisierung Guatemalas stehen also noch bevor. An der Armee, der Land- und der Indianerfrage wird sich die demokratische Zukunft Guatemals beweisen müssen.