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Chronologie und historischer Kontext des „Xamán“-Prozesses

Andrea Lammers | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Chronologie und historischer Kontext „La Aurora 8 de Octubre“ (Die Morgenröte des 8. Oktober) ist ein Dorf im Norden Guatemalas. Und ein Symbol der Hoffnung: Nach 36 Jahren „antisubversivem“ Krieg, nach Genozid und Massenflucht, sollte 1994 hier das Leben neu erblühen. Zurückgekehrte Flüchtlinge aus verschiedenen Landesteilen, allesamt Bauern und Nachfahren der Maya, wollten hier – auf der ehemaligen Finca „Xamán“ – ihren Traum verwirklichen: Selbstorganisiert und sicher leben. Der Staat gab Garantien: Bewaffnete dürfen das Gemeindegebiet nicht betreten. Doch zum ersten Jahrestag der Gemeinde im Oktober 1995 tauchte eine schwerbewaffnete Militärpatrouille auf. Ihre Mission: „Zivile Angelegenheiten und psychologische Operationen.“ Ein paar Stunden später waren elf Dorfbewohner tot, über dreissig schwerverletzt. Diesmal flohen die Dörfler nicht über die Grenze nach Mexiko. Sie boten all ihre Kräfte auf und schafften es, einen Prozess anzustrengen. Auch der internationale Druck war groß: Die Militärgerichtsbarkeit wurde für ganz Guatemala abgeschafft. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes mußten sich Soldaten und ein Offizier vor einem zivilen Gericht verantworten. Doch wurde das Dorf auf eine harte Probe gestellt: Zehn Jahre dauerte der mühsame und bedrohliche Weg durch das Labyrinth der Strafjustiz – für eine angemessene ökonomische „Entschädigung“ und moralische „Wiedergutmachung“ streitet die Gemeinde bis heute. Hier einige Stichpunkte zur Chronologie und zum Kontext des historischen „Prozesses von Xamán“.


Legende:

  • normal = Ereignisse im Zusammenhang mit dem Xaman-Prozess
  • kursiv = historische Ereignisse Guatemalas

1986 – 1991: Regierung des zivilen, christdemokratischen Präsidenten Vinicio Cerezo; Militärisch-politisches Projekt der „Transition“: vom Aufstandsbekämpfungsstaat der „Nationalen Sicherheit“ zur „Nationalen Stabilität“

1987: Jahresendoffensive gegen die in der URNG zusammengeschlossenen Aufständischen und zivile Widerstandsdörfer (CPR)

1990: Massaker von Santiago Atitlán; Ermordung der Anthropologin Myrna Mack, die über die vertriebene Bevölkerung und indirekt auch über die Widerstandsdörfer forscht

1991 – 1993: Regierung Jorge Serrano Elias (endet mit dem erfolglosen Versuch eines Staatsstreichs – „autogolpe“ im Stil Fujimoris)

1992: Beginn von Friedensverhandlungen zwischen URNG und Regierung

1992, 8. Oktober: Abkommen über die Rückkehr und Reintegration der Flüchtlinge aus Mexiko zwischen der Ständigen Vertretung der Flüchtlinge (CCPP) und der guatemaltekischen Regierung; die Rückkehr soll kollektiv, unter internationaler Überwachung und mit Sicherheitsgarantien sein; die RückkehrerInnen sollen ihre Rückkehrorte frei wählen und sich organisieren können; sie werden von der Regierung als friedliche Zivilbevölkerung anerkannt.

1993 – 1996: Regierung Ramiro de Leon Carpio (ehemaliger Menschenrechtsbeauftragter, eingesetzt nach dem durch die Zivilgesellschaft abgewehrten „autogolpe“ von Serrano Elias)

1993 – 1994: Beginn der Rückkehr (Retorno) aus Mexiko, Gründung neuer Siedlungen; eine davon ist im Oktober 1994: La Aurora 8 de Octubre (auf dem Gebiet der vormaligen Finca Xamán, Gemeinde Chisec, Alta Verapaz). Die Gemeinde besteht aus etwas über 200 Maya-Familien, die aus verschiedenen Rückkehrergruppen und verschiedenen Flüchtlingslagern in Mexiko kommen. Die Hauptsprachgruppen sind: Q’eqchie, Mam und Q’anjobal. Einige Familien sprechen K’iche, Ixil und Kakchiquel. Etwa 30 Familien von Landbesetzern, die auf der Finca Repression und bewaffneten Konflikt zu überstehen suchten, werden in die neue Gemeinde integriert.

1994: Unterzeichung der ersten Teilabkommen im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen URNG und Regierung:

1994, März: Allgemeines Abkommen über Menschenrechte (darin Enthalten die Einrichtung einer UN-Überwachungsmission, MINUGUA)

1994, Juni Abkommen über die Wiederansiedulung der durch den bewaffneten Konflikt entwaffneten Bevölkerung

1994, Juni Abkommen über die Identität und Recht der indigenen Völker

1995, 5.Oktober: Massaker von Xamán, eine Militärpatrouille des Stützpunktes Rubelsanto erschießt im Zentrum von „La Aurora 8 de Octubre“ elf Dorfbewohner; darunter zwei Kinder und einen Minderjährigen; über 30 DorfbewohnerInnen sind verletzt

1995, 6.Oktober und Folgetage: Strafanzeige durch die Gemeinde „Aurora 8 de Octubre“, Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú übernimmt die Nebenklage im „Fall Xamán“; Verteidigungsminister General Enriquez tritt zurück

1995, 24.Oktober: Staatsanwalt Sagastume, der wegen seiner Verbindungen zur Armee und seiner Untätigkeit der Befangenheit bezichtigt wird, dankt ab; Ramiro Contreras übernimmt den Fall als Sonderstaatsanwalt, Beginn der Ermittlungen

1995, November: Die gegen Kaution freigelassenen Mitglieder der Patrouille werden erneut gefangengenommen. Die Nebenklage erreicht die Überweisung des Falles vom Militärgericht in Jalapa an ein ziviles Strafgericht in Cobán; die Militärgerichtsbarkeit für Verbrechen an Zivilisten in Guatemala wird abgeschafft, damit wird ein für Lateinamerika und darüber hinaus bedeutender Präzedenzfall geschaffen.

1996, Juni: Die Anklageschrift wird präsentiert. In ihr beschuldigt der Sonderstaatsanwalt eine 26köpfige Patrouille für „Zivile Angelegenheiten und psychologischen Operationen“ (OPSIC) unter dem Kommando des damaligen Unteroffiziers Camilo Antonio Lacán Chaclán der „außergerichtlichen Hinrichtung“ ; ein minderjähriger Soldat (zum Tatzeitpunkt sechzehnjährig) wird aus dem Verfahren ausgenommen; wegen verschiedener Rechtsmittel kann der Prozess noch nicht beginnen.

1996 – 2000: Regierung Alvaro Arzú

1996, 18. Dezember: Gesetz zur Nationalen Versöhnung = Amnestiegesetz für Armee und Guerilla, gilt nicht für Genozid, Folter und Verschwindenlassen während des 36jährigen bewaffneten Konfliktes

1996, 29. Dezember: Unterzeichung des Friedensschlusses zwischen Regierung und Aufständischen

1998, April: Bischof Gerardi stellt den Bericht der „Wahrheitskommission“ der katholischen Kirche vor und wird zwei Tage später mit einem Zementblock erschlagen. (Der Prozess wegen außergerichtlicher Hinrichtung beginnt 2001 und ist bis heute nicht endgültig abgeschlossen, mehrere der Verwicklung in den Fall verdächtigte Ex-Militärs wurden inzwischen ermordet.)

1998, Oktober: Sonderstaatsanwalt Ramiro Contreras verlässt Guatemala, nachdem ihm der Generalstaatsanwalt jegliche Unterstützung entzogen hat und er konstanten Drohungen ausgesetzt war

1998, November – 1999, August: Mündliche Verhandlung des „Falles Xamán“ mit einem neuen Staatsanwalt; die Vorgesetzten des Offiziers, die im Prozess als Zeugen geladen sind, erscheinen nicht, nach Aussage der Anwälte der Angeklagten sind sie inzwischen beide „eines absolut natürlichen“ Todes verstorben

1999, Januar: Rigoberta Menchú verlässt wegen zahlreicher Anomalien (u.a. Verschwinden und irreversible Manipulationen von Beweismitteln, mutmaßlich versuchter Kauf von ZeugInnen) die Nebenklage in dem Prozess, der zur Farce eines rechtsstaatlichen Verfahrens zu verkommen droht.

1999, Mai: Das sogenannte „Diario Militar“ wird veröffentlicht: in diesem „Logbuch der Repression“ ist das Schicksal von 183 Menschen aufgezeichnet, die zwischen 1983 und 1985 durch staatliche Sicherheitskräfte verschleppt und getötet wurden, die Systematik des Verschwindenlassens wird „anschaulich“.

1999, August: Verurteilung der materiellen Täter wegen „(Zusammenrottung zu) fahrlässiger Tötung“: 3 bzw. 4 Jahre Haft, umwandelbar in geringe Geldstrafen;

1999, Dezember: Ein Berufungsgericht spricht den Offizier und einen Teil der Truppe frei. Elf Soldaten, werden wegen Totschlags zu einer nichtumwandelbaren Haftstrafe von zwölf Jahren verurteilt.

1999: Zur gleichen Zeit erheben 15 Einzelpersonen und Institutionen, darunter Rigoberta Menchú, Klage in Madrid: Die spanische Justiz soll sich die Prinzipien der universellen Rechtsprechung zueigen machen und die Staatschefs der achtziger Jahre wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen anklagen.

2000 – 2004: Regierung Alfonso Portillo (FRG = Partei des ehemaligen Diktators General a.D. Efrain Rios Montt)

2000, April: Annulierung des Verfahrens im Fall „Xamán“ und Aufhebung der Urteile durch den Obersten Gerichtshof Guatemalas

2000, Mai und 2001, Juni: Dreiundzwanzig indigene Gemeinden reichen in Guatemala Klage gegen Ex-Staatschef Rios Montt und seinen Vorgänger Lucas Garcia wegen Genozids ein

2001, April: Die Rechtsanwältin der Stiftung Menchú, Estela Lopez Funes bereitet Schriftsätze für den Zivilprozess im Fall Xamán vor. Einreichfrist ist der 30.April. Ausserdem steht im Mai die entscheidende Anhörung wegen der Genozidfälle in Spanien bevor. Am 29. April wird Guillermo Ovalle de León, 30 Jahre alt, Buchhalter der Stiftung Rigoberta Menchú Tum, erschossen. Die Täter feuern mindestens 25 Projektile auf ihn ab. Wenige Minuten später gehen zwei Anrufe bei der Stiftung Menchú ein, bei denen nichts weiter als Trauermärsche zu hören sind.

2001, Juni: Gegen die Mitglieder der Patrouille, die auf freiem Fuß sind, wird Haftbefehl erlassen. Der Offizier und ein Soldat passieren freiwillig im Gefängnis ein, ein weiterer wird von seinem Maisfeld weg verhaftet. Der Rest bleibt „unauffindbar“.

2002: Der Zivilprozess im Fall Xamán wird bis zum Ende des Strafprozesses ausgesetzt; die Stiftung Menchu betreibt den Fall vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, um eine Verurteilung des guatemaltekischen Staates wegen der Verweigerung eines rechtsstaatlichen Verfahren zu erreichen.

2002, Juli: Überfall auf die Anwältin Estela Lopez Funes als sie von einem Termin zum Fall Xamán in die Hauptstadt zurückkehrt. Die Attentäter versuchen vergeblich sie zu erdrosseln, rauben ihr aber nichts. In der Folge Überfälle auf und Drohungen gegen Mitglieder ihrer Familie.

2003, Januar: Ausreise der Anwältin ins Exil.

2003, Februar / März: Der Oberste Gerichtshof Spaniens entscheidet gegen das Universalitätsprinzip: Die spanische Justiz sei für über 200.000 ermordete Guatemalteken nicht zuständig. Nur die Klagen, die spanische Staatsbürger betreffen, werden zugelassen. Die Kläger legen Revision ein. Im März akzeptiert die spanische Justiz dann doch einen umfassenden Prozess.

2003, Juni: Wiedereröffnung des Strafprozesses im Fall Xamán; Offizier Lacán und 13 Soldaten stehen in San Pedro Carchá erneut in erster Instanz vor Gericht; die meisten der überhaupt vorhandenen materiellen Beweismittel sind mittlerweile verschwunden oder in einem rechtsstaatlichen Verfahren nicht mehr verwendbar, es bleiben die Zeugenaussagen; über deren Verwertbarkeit sind verschiedene, nationale und ausländische, JuristInnen unterschiedlicher Meinung.

2004, Februar: Die ehemalige Anwältin des Falles Xamán und Mitarbeiterin im Spanienprozess verlässt wegen erneuter Drohungen ihren Exilort und begibt sich vorübergehend auf Reisen.

2004, Juli: Verurteilung des Offiziers Lacán und der 13 inhaftierten Soldaten zu 40 Jahren Gefängnis wegen außergerichtlicher Hinrichtung. (Ein Gefängnisjahr hat 9 Monate, die Verurteilten können bei guter Führung nach dem Verbüßen der Hälfte der Strafe entlassen werden.)

2004 – 2008: Regierung Oscar Berger

2005: Der Zivilprozess wegen Entschädigung wird wiedereröffnet, ZeugInnen müssen erneut aussagen, es gelingt aber die folgenden Jahre hindurch nicht, ein Urteil zu erreichen

2008, Februar / März: Zeugen in Madrid sagen aus

2008, September: Der Hauptzeuge im Strafprozess, Alfonso Hernández Maldonado, der nach der Bestätigung des Urteils einige Jahre als illegaler Arbeiter in den USA verbrachte, um Abstand von den in Krieg und Prozess akkumulierten traumatisiereden Belastungen zu gewinnen und seine Familie zu unterstützen, die ihn ebenso wie das materiell zum Leben Nötige oft vermisste, kehrt nach „Aurora“ zurück. Eine Woche vor der Wiederkehr des Gedenktages zum Massaker vom 5.Oktober nimmt er sich selbst das Leben.

2008, seit Januar: Regierung Alvaro Colom
(Ein indirekter, „kalter“ Putsch gegen Colom scheitert im Mai 2009; Presseberichten zufolge nicht zuletzt wegen der Intervention des US-Gesandten McFarland.)

2009, Juli: Das Komitee der Betroffenen aus „Aurora“ stellt dem guatemaltekischen Staat (vertreten durch die Menschenrechtskommission des Präsidenten COPREDEH) ein Ultimatum: Entweder es gibt eine angemessene Antwort des Staates zur Entschädigung der Opfer des Massakers von Xamán oder der Fall wird vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterbetrieben; dem Vernehmen nach macht COPREDEH einen Vorschlag an die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte, die Betroffenen in „Aurora 8 de Octubre“ erhalten aber keine Kenntnis von dessen Inhalt.

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Quellen:

  • Cabrera Perez-Armiñan, Maria Luisa (2006): Violencia e Impunidad en Comunidades Mayas de Guatemala. La masacre de Xamán desde una perspectiva psicosocial. Guatemala. ECAP y F&G Editores.
  • Lammers, Andrea (1995 bis 2009): Eigene Recherchen in Guatemala
  • Yoldi, Pilar (1996): Don Juan Coc. Principe Q*eqchi. Guatemala. FRMT.

Bildquelle: Lars Barthel, Copyright: ZDF / pop tutu film 2008.

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