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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Und der Karneval ist vorbei…
Eine Analyse der Kriminalität in Rio de Janeiro

Michelle Caldas Meyer | | Artikel drucken
Lesedauer: 8 Minuten

Jedes Jahr im Februar hört man in Deutschland ein und dieselbe Nachricht im Fernseher: die Kriminalität in Rio de Janeiro sei erneut angestiegen. Als Brasilianerin bin ich schon an die Folgen dieser Nachricht gewöhnt, dass sich nämlich alle Freunde und Bekannte Sorgen machen und mich fragen, ob es wirklich so schlimm ist. Deshalb wollte ich durch diese kleine Analyse den Neugierigen einen Einblick geben und gleichzeitig versuchen, für mich selbst eine plausible Antwort zu finden, wieso die Sicherheitslage in meiner Heimatstadt so eskaliert ist. Und was noch wichtiger wäre: wie kann man als normaler Bürger diese Situation verändern?

Natürlich steigt die Kriminalität in Rio während des Karnevals. Die Stadt ist überfüllt von Touristen, welche die Parade der Sambaschulen sehen wollen (hier noch eine wichtige Anmerkung: Nein, während des Karnevals rennt nicht jeder nackt rum. Diese Parade ist eher als Touristenattraktion gedacht). Die Gelassenheit der Touristen während der Partytage produziert in Verbindung mit der großen lokalen Armut eine gefährliche Mischung. Viele Menschen müssen für ihr tägliches Überleben in so einer Großstadt kämpfen und es ist nicht einfach mit anzusehen, wie die „reichen“ Touristen mit ihren Digitalkameras und mp3-Playern rumlaufen. Betrachtet man den Fall ökonomisch, so gilt das Folgende: wenn das Angebot steigt, steigt auch die Nachfrage.

Für die etwas panischen zukünftigen Urlauberinnen kann ich nur sagen, dass sie vorsichtig in Rio sein sollten.Aber wenn man ein bisschen aufpasst, kann man eine schöne entspannte Stadt erleben. Man muss ja nur denken, dass man in einem fremden Land ist, weit weg von dem Wohlstand Europas. Und hier muss ich ganz kurz etwas über die Aufgabe der Medien für die Meinungsbildung sagen. Wenn die Europäer diese schrecklichen Bilder von der Gewalt in Rio sehen, sind sie zu Recht schockiert. Entweder verbinden sie dieses Bild mit den Reportagen, die sie schon über Brasilien in Fernseher gesehen haben und denken, dass die Situation in Brasilien fast so schlimm wie diejenige im Irak ist. Was ich völlig verstehen kann. Ich würde auch so denken, wenn ich nur Nachrichten über Prostitution, Kinderarbeit und Fußball sehen würde. Leider ist es auch teilweise Brasiliens Schuld, dass das Land nur dieser Art Bilder „exportiert“ hat. Oder die Leute glauben gar nicht an diese Bilder, weil sie eine ganz fremde Realität zeigen und sie weigern sich, diese zu akzeptieren. Für die Brasilianer haben die Bilder eine andere Folge: Wir sehen sie jeden Tag. Langsam ist man darüber nicht mehr empört und wir wissen, dass sie Realität sind, weil wir mit dieser ständig konfrontiert werden. Das Ergebnis ist die Banalisierung und Verdrängung dieser Situation.

Aber in jeder Schlagzeile steckt auch eine Portion Wahrheit. Im Fall von Rio stimmt leider die Behauptung, dass die Kriminalität ständig zunimmt. Das brasilianische Justizministerium hat im Jahr 2002 60 Tötungsdelikte je 1000 Einwohner als Statistik für die Metropole Rio de Janeiro angegeben, während der Bundesdurchschnitt bei 30/1000 lag. Am stärksten sind Männer (94%) zwischen 15 und 24 (44%) Jahren von der Gewalt betroffen.

Von diesen Morden waren 80% durch Feuerwaffen verursacht. Das klingt nicht überraschend, wenn man weißt, dass 90% der brasilianischen Feuerwaffen in Privatbesitz sind (das entspricht ca. 15 Millionen, 50% davon sind illegal) und nur die restlichen 10% gehören dem Staat (Statistik vom Projekt Viva Rio, 2005).

Im Oktober 2005 gab es ein Referendum, ob der Waffenhandel in Brasilien verboten werden sollte. Die Medien haben eine große Kampagne für den Boykott dieses Referendums entfacht und das Ergebnis bestätigt ihren Erfolg: 63,94% der Bevölkerung sagten „Nein“ zum Verbot (TSE, 2005). Das Ergebnis war zumindest beschämend. Der Hauptgrund dafür war, dass die Mafia ihre Waffen sowieso über andere Wege bekommt und das Verbot nur den „normalen“ Verbraucher einschränken würde. Ob der Besitz einer Waffe mehr Sicherheit bringt oder ob dadurch noch mehr Gewalt verursacht wird, wurde nicht diskutiert.

Eine Stadt mit 610 Favelas (die 2010 fast 20% der Bevölkerung repräsentieren werden [SSPRJ, 2005]), die aber gleichzeitig eine starke Elite mit großer Kaufkraft hat, bietet eine optimale Lage für die Entstehung von Drogenmafias. Wenn ein Europäer einen brasilianischen Film gesehen hat, dann war es meistens „City of God“, der genau dieses Thema behandelt. Mit der Globalisierung ist es fast unmöglich zu definieren, ob dieses ein lokales oder eher ein internationales Sicherheitsproblem ist. Was kann dann die schlecht ausgerüstete lokale Polizei dagegen machen? Besonders wenn viele Polizisten selbst für ihre Existenz sorgen müssen, da die Löhne kaum zum Überleben reichen. Das schnelle Drogengeld verführt selbst die Polizei, und der normale Bürger weiß jetzt nicht mehr, an wen er sich wenden soll. Die Verbrecher sind gefährlich, aber die Polizei ist manchmal noch schlimmer.

Die Situation verschlechtert sich ab und zu, z.B. wenn ein Drogenboss zu einem Hochsicherheitsgefängnis gebracht werden soll, und die Mafia ihre Unzufriedenheit in Form von Gewalt gegenüber Polizisten und der Zivilbevölkerung ausdrückt, wie man es letzten Januar in den Medien gesehen hat. In dieser Situation wurde klar, wer die tatsächliche Macht über die Stadt hat. Was die internationalen Medien nicht zeigen, ist, dass diese Situation häufiger passiert. Wenn sich die Mafias über ein großes Geschäft freuen oder wenn sie über einen Boss trauern, geben sie den Geschäftsleuten den Befehl, ihre Türen während der Woche geschlossen zu halten. Wer dieses „Gesetz“ nicht befolgt, wird erschossen. Sogar die Polizei hält sich zurück. Wenn der Fall doch internationale Aufmerksamkeit erweckt, dann greift die Armee in der Stadt ein. Einer ihrer Besonderheiten ist, dass sie jede Person ohne Haftbefehl einsperren kann, was der Bevölkerung nicht gerade ein Sicherheitsgefühl vermittelt.

Das ist das aktuelle Bild von Rio. Das Gefühl der ständigen Unsicherheit wird von denjenigen, die genug Geld haben, durch Überwachungssysteme, Zäune und Sicherheitspersonal vermindert. Wer kein Geld dafür hat, muss sich den Regeln der Mafia anpassen. Dadurch verstärkt sich nur noch mehr die Kluft zwischen den Klassen. Man sollte die ökonomischen Folgen der Kriminalität nicht außer Acht lassen. Durch die Gewalt wird ein großer Teil des Kapitals für Sicherheitsmassnahmen verschwendet und sie schreckt so manche Investoren von diesem Gebiet ab. Das beste Beispiel für diesen Fall kommt jetzt im Sommer, wenn die Panamerikanischen Spiele in Rio stattfinden sollen. Für das Ereignis hat der neue Bürgermeister von Rio, Sergio Cabral, die Zahl der Polizisten bei den wichtigeren Schnellstraßen und an touristischen Attraktionen verdoppelt. Leider ist es keine Lösung, aber die internationalen Medien sollen der Schattenseite der Stadt nicht so nah kommen. Eine weitere ökonomische Folge ist der Verlust von Arbeitskräften, da meistens Männer im Arbeitsalter von der Kriminalität betroffen sind. Hinzu kommen noch die höheren Immobilienpreise in den Gebieten, die als „sicherer“ gelten, was die Spirale des sozialen Unterschieds vorantreibt.

Natürlich sind auch soziale Folgen spürbar. Psychische Krankheiten, wie Stress oder Depressionen werden durch die Unsicherheit gefördert. Durch diesen psychologischen Druck wird die Gewalt auch von Generation zu Generation übermittelt, d.h. die Kinder spüren selber die Kriminalität oder sie wachsen mit einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit bzw. Indifferenz auf. Die Leute werden aus Angst individualistischer und das Gruppengefühl geht verloren. Dadurch verlieren die Cariocas (Einwohner Rios) ein bisschen ihr Markenzeichen: die Freundlichkeit. In einer Stadt, wo es fast unmöglich war, miteinander zu reden, ohne den anderen zu berühren, sind die Leute so ängstlich geworden, dass man sich schon angegriffen fühlt, wenn man auf der Straße zufällig angetippt wird.

Als politische Folge kann man eine deutliche Politikverdrossenheit erkennen. Die Bevölkerung wartet auf eine Lösung seitens der Politiker, aber diese versuchen nur Wählerstimmen zu gewinnen. Sie kündigen populistische Maßnahmen an, damit das Volk sich beruhigt, wie z.B. härtere Sanktionen bei Raubüberfällen oder schon vorher angekündigte polizeiliche Invasionen in den Favelas. Solche Maßnahmen helfen der Bevölkerung im alltäglichen Leben nicht weiter und rufen nur Empörung hervor. Eine typische Frage in Rio ist: wieso wird jemand, der nur aus Hunger und Not eine Packung Milch gestohlen hat, so hart bestrafft, wenn aber die großen Mafiabosse immer noch straffrei rumlaufen können? Man kann sich nicht an die Polizei wenden, auch nicht an die Politiker. Was bleibt dann übrig? Nicht nur das Vertrauen in die Institutionen, sondern am gesamten demokratischen Prozess
leidet.

Eine Konsenslösung gibt es nicht, da das Problem vielfältig ist. Als Gründe für die Kriminalität kann man die verschiedensten Fakten angeben: die Arbeitslosigkeit, eine fehlende Sozialpolitik, die Leichtigkeit, eine Waffe zu kaufen, die Passivität der Cariocas, die rasante und unkontrollierte Verstädterung, die Korruption der Polizei, die Straflosigkeit und so weiter. Für die Politik ist es eine schwierige Lage. Die erste Maßnahme wäre vielleicht die Verbesserung des sozialen Standards, indem man der Bevölkerung Schulen, Krankenhäuser und würdige Wohngebiete anbietet, damit die soziale Inklusion langsam stattfindet. Die Schaffung von Arbeitsplätzen sollte dann folgen, sowie die Ausweitung von Ausbildungsstätten. Und die staatliche Aufgabe hört an dieser Stelle nicht auf, sondern die Politiker sollten vielmehr eine Reform des Polizei-, des Gefängnis- und des Justizsystems durchführen, damit das ganze Überwachungssystem und die Sanktionierung von Rechtsverletzungen funktionieren können.

Aber auch der normale Bürger hat eine Mitschuld. Man sollte nicht denken, dass das Tragen einer Waffe uns stärker macht und man sollte auf Selbstjustiz verzichten. Das Fehlen einer starken Zivilgesellschaft, die für ihre Rechte kämpft, wird immer deutlicher. Das ist ohne Zweifel eine Mentalitätsfrage, die aber geändert werden kann. Die Gesellschaft könnte den entscheidenden Druck auf die Regierung ausüben, damit der Staat auch endlich was unternimmt. Aber leider haben wir, die Cariocas, bis jetzt nicht gelernt, dass unsere beste Waffe gegen die Kriminalität unsere eigene Stimme ist.

Quellen:
Brasilianisches Justizministerium: http://www.mj.gov.br
Projekt Viva Rio: http://www.vivario.org.br
Secretaria de Segurança Publica do Rio de Janeiro – SSPRJ: _http://www.ssp.rj.gov.br (Der Link konnte am 15.02.2012 nicht mehr aufgerufen werden.)
Tribunal Superior Eleitoral – TSE: http://www.tse.gov.br

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