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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Kulturelle Mannigfaltigkeit kontra Markt

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Ein Anthropologentreffen entwickelt neue Strategien einer Indigena-Politik

Vor mehr als 20 Jahren fand auf der Karibikinsel Barbados ein historisches Treffen lateinamerikanischer Anthropologen statt, welches nicht nur die traditionelle Ethnologie grundlegend veränderte, sondern auch großen Anklang bei den Ureinwohnern dieses Kontinents fand.

Die Konferenz BARBADOS I, an der neben namhaften Sozialwissenschaftlern, wie dem kürzlich verstorbenen Guillermo Bonfill Batalla aus Mexiko und Darcy Ribeiro aus Brasilien auch junge Wissenschaftler aus kleineren Universitäten teilnahmen, erregte gerade zu jenem Zeitpunkt Aufsehen, als die neuen Befreiungsbewegungen, die sich 1968 über den Kontinent zu verbreiten begonnen hatten, politische Bedeutung erlangten.

Mit ihren noch nie dagewesenen Forderungen nach Selbstbestimmung der Indigenavölker Lateinamerikas stellten sich die Anthropologen radikal gegen all jene politischen Strömungen, welche seit Jahrhunderten die Integration der Indigenas in die Kreolen-Gesellschaften förderten, was einem heimlichen Ethnozid vor allem an jenen Völkern gleichkam, die diese Integration nicht akzeptierten.

In Erinnerung an dieses historische Ereignis trafen sich die Anthropologen, die am Treffen von Barbados teilgenommen hatten, vom 6. bis 10. Dezember 1993 in Rio de Janeiro ein weiteres Mal. Sie zogen nicht nur ein Resümee der vergangenen zwanzig Jahre, sondern entwarfen auch in groben Umrissen eine Indigenapolitik, die von den gegenwärtigen Forderung der Ureinwohner ausgeht.

Die Diskussion konzentrierte sich dabei auf die gigantische wirtschaftliche Misere als Folge der „Globalisierung des Marktes“, die für die indianischen Gemeinschaften neue Formen der Kolonisation und Enteignung ihres kulturellen Erbes mit sich bringt.

„Die individualistische und am Wettbewerb orientierte neoliberale Ideologie bewirkt und verschleiert zugleich die tatsächlich immer stärker werdende Ungleichheit und den Konflikt zwischen Nationen, Ethnien, Klassen und anderen sozialen Gruppen, indem sie eine illusorische Gleichheit behauptet, während einander in Wirklichkeit Nation gegen Nation, Volk gegen Volk und Gemeinschaft gegen Gemeinschaft verfeindet gegenüberstehen.“ So heißt es in der Einleitung des Abschlußdokumentes der Konferenz.

Auch der Titel dieses zehnseitigen Dokuments charakterisiert treffend die neue historische Lage: „Ausdruck der Verschiedenheit“ lautet die Überschrift und zeigt an, daß die vielfachen Probleme, denen heutzutage die indigenen Völker gegenüberstehen – absolute Armut, eine Zunahme der Verbrechen, Zwangsumsiedlungen, Massaker und Epidemien – nicht durch eine neue Weltordnung oder ein Wiedererstarken der Nationalstaaten gelöst werden können, die die neoliberale Flutwelle unter sich begräbt. Die Suche nach Alternativen muß vielmehr von den Ausdrucksformen der ethnischen und kulturellen Vielfalt der zivilen Gesellschaft ausgehen.

Daher ist es notwendig, definitiv mit dem alten kolonialen Erbe des Nationalstaates zu brechen, der zentral die „Früchte“ der Arbeit menschlicher Gemeinschaften verwaltet, ohne aber in einen kulturellen Uniformismus und eine ethnische Aufsplitterung zu verfallen, wie sie die Diktatur des Finanzkapitals vorschlägt.

„Die unaufschiebbare Demokratisierung Lateinamerikas wird jedoch leeres Gerede bleiben und nur den herrschenden Machtgruppen nützen, wenn die nötige Neubestimmung der willkürlich definierten politischen, sozialen und kulturellen Räume der heutigen Staaten unterbleibt. Eine zukünftige Demokratisierung Lateinamerikas setzt daher eine stärkere Teilnahme und Vertretung der kulturell verschiedenen Gemeinschaften und die Achtung ihrer politischen Eigenheiten voraus. Das wird zur Bildung pluraler und solidarischer Gesellschaften, die sich gegenseitig ergänzen, führen.“ So endet die Präambel des Dokuments.

Es folgt eine Reihe von strategischen Empfehlungen an die verschiedenen Institutionen und Organisationen, welche die politischen Gesellschaften Lateinamerikas bilden:

  1. „Wir weisen jene militärischen Ideologien zurück, die oft in eine geopolitische Paranoia abgleiten, indem sie die indigenen Gemeinschaften nicht als Völker anerkennen, sondern sie als potentiell subversive Gruppen betrachten.
  2. Wir erachten den Beschluß einer Charta der Rechte indigener Völker, wie sie von den Vereinten Nationen formuliert und im Artikel 169 des von der Internationalen Arbeitsorganisation vorgeschlagene Abkommens enthalten sind, für notwendig.
  3. Die internationalen Entwicklungs- und Finanzorganisationen (Weltbank, IWF, Interamerikanische Entwicklungsbank) müssen auf Wirtschaftsprojekte verzichten, die sich auf das Land oder die wichtigsten Kultur- und Bodenschätze der indigenen Gesellschaften negativ auswirken.
  4. Wir registrieren mit Bestürzung die Bestrebung einiger NGOs (Non Governmental Organization), die ohne jede kritische Reflexion und ohne Kenntnis der verschiedenen kulturellen Wirklichkeiten versuchen, die indianischen Völker in den Weltkontext zu integrieren.
  5. Wir glauben, daß einige Indianerorganisationen das individualistische Verhalten der Vorsitzenden überdenken sollten, die sich vom solidarischen Geist, auf dem ihre Verfassung beruht, entfernt haben.
  6. Es ist notwendig, radikal jene Richtung in der Anthropologie in Frage zu stellen, die sich stärker mit der ästhetischen und daher sterilen Kritik ihrer eigenen Disziplin befaßt als mit solidarischen Überlegungen und Aktionen
  7. Wir begrüßen die Bemühungen einiger Wirtschaftswissenschaftler, die zur neoliberalen Politik alternative wirtschaftliche Strategien entwerfen, welche eine autonome wirtschaftliche Entwicklung der Produktivkräfte zur Grundlage haben und davon ausgehen, daß der Staat sowohl das Recht als auch die Pflicht hat, die wirtschaftlichen Interessen der Armen zu vertreten.
  8. Wir erkennen die in der fortschrittlichen Strömung der katholischen Kirche durchgeführte Umwandlung an. Trotzdem wurden zwiespältige Entwicklungen und Brüche im Dialog zwischen Missionaren, Indios und Sozialwissenschaftlern wahrgenommen. Wir verdammen die Praktiken einiger protestantischer Kirchen, die oft für das Auseinanderbrechen und die Entpolitisierung indianischer Völker verantwortlich sind.
  9. Die Notwendigkeit geopolitischer Rückforderungen, die die Besonderheiten der Indianerterritorien anerkennen, muß eingesehen werden. Das schließt die Fälle ein, in denen Indianerdörfer durch staatliche Grenzen geteilt wurden. Die Indios haben das Recht, sich frei in den Grenzgebieten der Länder zu bewegen.
  10. Die territoriale Autonomie beinhaltet nicht nur das Treffen von Entscheidungen im Hinblick auf die Nutzung der natürlichen Ressourcen, sondern auch politische und kulturelle Selbstverwaltung, im Rahmen einer Selbstbestimmung, die vereinbar ist mit der Souveränität der bestehenden Nationalstaaten und die diese ergänzt.“

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