Dr. Vera Hartwig, geb. 1933, studierte Ethnologie in Leipzig. Seit 1978 wissenschaftliche Oberassistentin der Ethnologie Lateinamerikas in Leipzig. Forschungsaufenthalte Chile, Peru und Mexiko.
Die Reihe der Fragezeichen könnte noch weitergeführt werden, vielleicht mit „Ethnos?“ „ethnisch?“ „Ethnizität?“ „Ethnozid?“ etc. Damit würde allerdings der Berg von Geklärtem, Ungeklärtem, erneut in Frage Gestelltem nur noch umfangreicher werden. Aber Presse, Reden, Wissenschaft, Zeugnisse und Selbstzeugnisse sind voll dieser Begriffe, so dass der Interessierte nicht umhin kommt, sich nach dem Inhalt zumindest einiger von ihnen zu fragen.
Bleiben wir bei den Fragezeichen in der Überschrift und beginnen mit dem relativ Einfachsten – Wer oder was ist ein Indianer? Zunächst natürlich ein Irrtum, denn der mit dem Jahr 1492 für alle Bewohner der Neuen Welt (mit Ausnahme der Eskimos im Hohen Norden) angewandte Begriff sollte eigentlich die Inder/Indier bezeichnen; schließlich glaubte Kolumbus, wahrscheinlich bis zu seinem Tode, tatsächlich den westlichen Weg nach Indien gefunden zu haben – ohne zu bemerken, dass ihn von diesem Ziel ein Hindernis von den Ausmaßen des amerikanischen Doppelkontinents trennte. Glücklicherweise gibt es inzwischen – zumindest in unserem Sprachraum – eine Unterscheidungsmöglichkeit: Indianer einerseits, Inder andererseits. Im anglophonen Bereich muss die genauere Zuordnung noch immer aus dem Kontext abgeleitet werden, denn beide sind „indians“. Dass sich hinter dem Wort „Indianer“ zu jener Zeit etwa 25 Millionen oder mehr Individuen, Personen, Menschen verbargen, die kein homogenes Bild boten, weder hinsichtlich ihrer persönlichen Erscheinung – obwohl alle zur mongoliden Großrasse zählen – noch hinsichtlich der verschiedensten, oft untereinander nicht kommunikationsfähigen Sprachen, wird daraus natürlich nicht deutlich. Zu den Unterschieden gehörte auch die Spannbreite der den natürlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten angepassten Produktions- und Lebensweisen, die Betrachtung und Interpretation der Welt in allen ihren Ebenen, Phasen und Erscheinungsformen sowie die Nutzung ihrer Kenntnisse im Bereich der Medizin, Architektur, der Geschichte und bei der Entwicklung von Technologien. Auf diese Weise führt uns der Begriff des Indianers zu einem anderen Terminus hin: „indigen“. Abgeleitet aus dem lateinischen „indigenus“ = eingeboren, einheimisch, bringen auch die einschlägigen Lexika zu „indigen“ keine zusätzlichen Erklärungen, d.h. sie belassen es bei „eingeboren, einheimisch, inländisch“. Nur im Begriff „Indígenat“, das als „Bürger-, Heimatrecht bzw. Staatsangehörigkeit“ gedeutet wird, erhält das Ausgangswort „indigen“ eine zusätzliche rechtliche Seite, die aber a priori nicht enthalten ist. Wesentlich am Begriff „indigen“ ist, dass damit eindeutig der regionale Raum Amerika überschritten wird, also eine Kategorie ist, die nun weltweit jene Ethnien bezeichnet, die sich als aus einem bestimmten Territorium hervorgegangen betrachten, als Alteingesessene, als Erstbesiedler, als ursprüngliche Bevölkerung. Ähnliche inhaltliche Bedeutung – aber weniger genutzt – besitzt das aus dem Griechischen stammende Wort „autochthon“, das allerdings stärker historische Tiefe andeutet: bodenständig, ureingesessen, einheimisch, am Ort entstanden, am Entstehungsort befindlich. Zumindest für Amerika ist zu bedenken, dass die Besiedlungsgeschichte – da Amerika ja nicht als Region der Menschwerdung gilt – von Einwanderungswellen geprägt wurde, in deren Folge es bereits zu Verdrängungen, Vertreibungen bis hin zu Überlagerungen und Unterwerfungen in der präkolonialen Zeit gekommen war. Diese Tatsachen spielten im Zusammenhang mit der Conquista oft eine nicht zu unterschätzende Rolle, fanden doch die Spanier unter den Unterworfenen und Abhängigen nicht wenige Informanten und Mitstreiter, deren Haltung letztendlich auch zu ihrer eigenen Niederlage führte.
Indigen und autochthon sind Begriffe, die behaupten, die feststellen und ausgrenzen. Damit werden sie virulent bis explosiv. Sie bergen nämlich die Gefahr in sich natürlich nur bei extremer Anwendung -‚ die für sich selbst eingeforderten Lebens- und Menschenrechte den nichtindigenen Bewohnern einer gegebenen Region abzusprechen. Das Griechische bietet in diesem Kontext für nichtindigene Bevölkerung einen gesonderten Begriff „allochthon“ mit der Bedeutung „bodenfremd, an einem anderen Ort entstanden und später umgelagert“. Eine Ausgrenzung nichtindigener Bevölkerungsteile bedeutet z.B. für Länder wie Belize, dass bei Einforderung der Rechte der indigenen Völker gegenüber der Regierung die Rechte ethnischer Gruppen, wie z.B. der Inder, Libanesen, Chinesen, Garífuna usw. nicht in gleicher Weise behandelt werden. Ein Gesichtspunkt, der – da er durchaus die Möglichkeit der Ungleichheit enthält – für einen solchen wie auch jeden anderen multiethnischen Staat Gefahren für das Zusammenleben in sich birgt.
In der amerikanischen Gegenwart werden also mit indigenen Völkern – „indigenous peoples im UNO-Sprachgebrauch – jene Völker bezeichnet, „die in ihrem altangestammten Lebensraum, mit dem sie existenziell verbunden sind, heute eine – oft diskriminierte – Minderheit bilden“.
Der Terminus „Indígenas“ als Bezeichnung für die Angehörigen indigener Völker hat seinen Ursprung natürlich bei den spanischen Conquistadoren und ihren Geschichtsschreibern, ist also als Begriff von außen hereingetragen und wurde später von der Wissenschaft ebenso übernommen wie er auch Eingang in die politischen, juristischen, künstlerischen, Bildungs- und andere Bereiche fand.
Die Comunidad Indígena = „Eingeborenen-Gemeinde“ war regionale Einheit innerhalb des spanischen kolonialfeudalen Systems, überlebte die Zeit nach der Erlangung der Unabhängigkeit – sicher mit Modifikationen – ebenso, wie sie auch heute noch im lateinamerikanischen Raum eine der Lebens- und Siedlungsformen der indigenen Bevölkerung darstellt. Spezifika dieser Comunidades sind sowohl gemeinschaftlicher Bodenbesitz bei individueller Nutzung, besondere verwandtschaftliche und Heiratsbeziehungen, eigene politische, soziale, volksmedizinische, (synkretistisch) religiöse Autoritäten wie auch Kleidung mit ortstypischen Mustern, die ihre Träger eindeutig als einer bestimmten Comunidad zugehörig ausweisen. Versucht man dem Ethnonym (Selbstbezeichnung) der Indianer nachzukommen, so antworten sie mit Sicherheit auf eine Frage nach ihrer Zugehörigkeit als erstes mit der ethnischen Selbstbezeichnung, die in vielen Fällen von der statistischen bzw. in der Literatur eingebürgerten Bezeichnung abweicht. So werden z.B. die in Mexiko lebenden Purhépecha als Tarasken, die Rarámuri als Tarahumara, die Oo’tam als Pápago, die Hñähñu als Otomí bezeichnet. Eine weitere Nachfrage nach der Zugehörigkeit führt zur Nennung des Ortes, der Comunidad indígena, gefolgt von der Bezeichnung ihrer Staatsbürgerschaft bzw. – abhängig von der Fragestellung – auch der eigenen Bezeichnung als Indígena (Eingeborener), mit dem Akzent einer deutlichen Abgrenzung von den Nicht-Indígenas. Fast nie benutzt ein Indianer den Begriff „Indio“, da er nach ihrem Sprachgefühl herabsetzenden, diskriminierenden Charakter besitzt. Seit der Conquista bis in die Gegenwart ist das Problem des Umgangs, der Einbindung der Indianer in die jeweiligen Gesellschaftssysteme – ob spanisch/portugiesischer kolonialfeudaler oder nationaler bürgerlich-kapitalistischer Prägung – ein Thema gewesen. Eindeutig dabei war die Zielstellung, von und aus den Indígenas so viel herauszuholen wie nur möglich. Auch der so oft als „Vater der Indianer“ gerühmte Dominikaner Bartolomé de las Casas setzte sich nach eigenen Darstellungen deshalb für einen humaneren Umgang mit den Eingeborenen, für eine Einschränkung des Genozids, ein, weil sonst das kolonial-feudale Prinzip „Boden + Menschen“ nicht mehr funktioniert hätte und die reichlichen Erträge für König, Klerus und Kronbürokratie allmählich versiegt wären. Das auf Farmbildung zielende, in Nordamerika praktizierte britisch/französische Kolonisationsprinzip dagegen setzte voll auf Liquidierung, d.h. Genozid an den Indianern, da es im wesentlichen um die Inbesitznahme großer fruchtbarer Landstriche ging. Die spanische Krone jedenfalls jonglierte hin und her zwischen Las Casas – der von Thomas Morus beeinflusst war – und den Interessen der überseeischen Kolonialbürokratie, die auf skrupellose, entrechtende Behandlung der indianischen Bevölkerung setzte und Auffassungen folgte, wie sie von Sepúlveda vertreten wurden, der der Aristotelischen Idee von „Herren- und Sklavenvölkern“ anhing. Seit der Etablierung des spanisch/portugiesischen Kolonialsystems in Amerika zeigen sich deutlich zwei Entwicklungslinien, Standpunkte und Sichten, die man einerseits als Fremdbestimmung und andererseits als Selbstbestimmung des Indianers bezeichnen kann. Ersteres – die Fremdbestimmung – fand seinen deutlichsten Ausdruck in Theorie und Praxis des Indigenismo in allen seinen Varianten. Letzteres – die Selbstbestimmung – die inzwischen mit dem Begriff der Indianidad erfasst wird, bildet die zweite Linie. Beiden Richtungen muss Aufmerksamkeit gewidmet werden, will man die Situation speziell des lateinamerikanischen Indianers in der Gegenwart erfassen. Mit Las Casas jedenfalls ist der Beginn des Indigenismus – zunächst in seiner kolonial-feudalen Prägung – verbunden. In Anbetracht der Tatsache, dass der Indigenismus – der bis heute in der Politik der lateinamerikanischen Länder eine Rolle spielt – im Lauf der Jahrhunderte in Zielrichtung, Ausformung und Praktizierung bedeutsame Veränderungen erfahren hat, ist es schwer, eine allgemeine Definition zu geben. Neben der bereits genannten, von Las Casas praktizierten Form sprechen wir noch vom humanistischen, radikalen, literarischen, künstlerischen, bürgerlich- demokratischen, institutionalisierten und schließlich neuen Indigenismus, um nur die wesentlichen Varianten zu nennen.
So unterschiedlich die indigenistischen Vorstellungen und Ziele auch sein mögen, eines ist ihnen immer eigen, ist das Charakteristikum des Indigenismus: der Paternalismus. Immer wird den Indianern von Nicht-Indianern gesagt, was und wer sie sind, wie sie sich zu entwickeln, welchen Gesetzen, Bestimmungen usw. sie sich zu unterwerfen haben, was sie lernen müssen, welche Sprache sie sprechen sollen und dürfen, welches Recht sie zu akzeptieren und welcher Kultur sie sich anzunähern haben. In diesem Kontext hat Mexiko eine Vorreiterrolle für Lateinamerika übernommen. Hier sind Theorie und Praxis des Indigenismus nach der Revolution von 1910/17 in besonderem Maße entwickelt und durchgesetzt sowie – seit Gründung des Interamerikanischen Indigenistischen Instituts im Jahre 1940 an die darin fast alle integrierten lateinamerikanischen Staaten – empfehlend weitergegeben worden. Die auf dem 3. Kongress 1949 in La Paz verabschiedete „Deklaration der Rechte der Indianer“ – selbstverständlich aus paternalistisch indigenistischer Sicht – steht einerseits unter dem Einfluss der Gründung der UNO und der Charta der Vereinten Nationen, wie sie andererseits auch die aus der mexikanischen Revolution abgeleiteten Forderungen wiedergibt. In Kurzform umfasst diese Deklaration folgende Rechte:
* Das Recht auf Boden und Freiheit (Tierra y Libertad)
* Das allgemeine Stimmrecht
* Das Recht auf gleiche Behandlung, gegen Theorie und Praxis der Rassendiskriminierung
* Das Recht auf gewerkschaftliche und gesellschaftliche Organisation
* Das Recht auf Arbeit
* Das Recht auf Beteiligung an den Öffentlichen Diensten
* Das Recht auf Ausübung ihrer traditionellen Kultur
* Das Recht auf Bildung.
Es hat sicher nicht an Versuchen gefehlt, das eine oder andere Recht durchzusetzen, aber insgesamt ist diese Deklaration nur auf dem Papier geblieben. Denn mit zunehmender Institutionalisierung änderte sich die Zielstellung der indigenistischen Politik, die der mexikanische Präsident Echeverria während der zweiten großen indigenistischen Welle 1970-76 folgendermaßen umschrieb: „Wenn die Indianer Mexikos nicht aktiv am intellektuellen und produktiven Leben als Staatsbürger teilnehmen, werden sie Fremde in ihrem eigenen Lande und Gegenstand des Missbrauchs von jenen sein, die mehr besitzen und werden weiterhin entfernt von den Vorteilen der Zivilisation dahinleben. Wir sprechen davon, unsere Rohstoffquellen zu mexikanisieren, ohne daran zu denken, dass es richtig wäre, auch an die Mexikanisierung unserer menschlichen Ressourcen zu denken (Hervorhebung, V.H.). Die Formierung des Menschen zum echten Nutznießer des Reichtums ist Prinzip und Gegenstand der sozialen Gerechtigkeit, die ohne Ausnahme auch der indianischen Bevölkerung zugute kommen muss.“ Selbst in Mexiko, das für seine 59 staatlich registrierten Ethnien inzwischen 90 Koordinationszentren in den jeweiligen Siedlungszentren eingerichtet hat, ist dieses indigenistische Ziel, Mexikanisierung bzw. Nationalisierung des Indianers, fehlgeschlagen. Auch Versuche, die Bedeutung der indianischen Bevölkerung in anderen lateinamerikanischen Ländern herabzuspielen, indem man bei den statistischen Erhebungen darauf achtete, möglichst geringe Zahlen und Werte zu ermitteln, kann über die Existenz der indigenen Völker Amerikas und – wie inzwischen nachweisbar ist – ihre quantitative Zunahme nicht hinwegtäuschen.
Während einige Staaten gar keine Angaben dazu machen, d.h. durch Ignorierung die Indianerfrage verdrängen und mit Hinweis auf allgemeine Bürgerrechte das Problem liquidieren wollen, gilt in den meisten lateinamerikanischen Ländern die Kenntnis und Nutzung einer Indianersprache als alleiniges Indiz für die Anerkennung als Indígena. Dabei fallen grundsätzlich schon die im urbanen Bereich lebenden und sich als Indianer fühlenden und bekennenden Personen aus der statistischen Erhebung heraus. Mexiko wiederum – und dieses Herangehen wurde von vielen anderen Ländern Lateinamerikas übernommen – schließt von der Erfassung der indigenen Bevölkerung Kinder bis zum 5. Lebensjahr aus. Weiterhin wurden nur die im ruralen Bereich, in den Comunidades indígenas siedelnden Indianer registriert, d.h. die gesamte urbane indigene Bevölkerung – gleich ob sie zeitweilig oder ständig ihren Wohnsitz innerhalb oder im Umfeld der Städte hatte – wurde unter die mestizische Bevölkerung subsumiert. Weitere Kriterien für die Bestimmung eines Indianers bildeten die grundsätzliche Ernährung mit Mais-Tortillas und der Gebrauch von Huaraches (spezielle Lederriemchen-Sandalen) oder das Bartfußgehen. Schließlich bildete die Feststellung, dass neben dem Spanischen eine andere Sprache als Muttersprache anzusehen ist, das Kriterium für die Zuordnung nicht nur als Indianer, sondern auch zu einer spezifischen Ethnie. Einen nach meiner Auffassung extremen Schritt ging man in Brasilien, als zur Bestimmung eines Indianers eine Blutgruppenuntersuchung gefordert wurde, weil einschlägige Tests ein gehäuftes Auftreten der Blutgruppe 0 gezeigt hatten. Zu allen diesen Kriterien könnten Beispiele über ihre Unhaltbarkeit gebracht werden, denn die wichtigste Frage wurde bei den statistischen Erhebungen nicht gestellt: die Frage nach der eigenen ethnischen, indigenen oder nicht-indigenen Identität des Bürgers. So reicht die Fremdbestimmung bis in die uns vorliegenden Statistiken; das sollte bei Nutzung solcher Angaben immer auch bedacht werden.
Seit Jahren befindet sich der institutionalisierte neue Indigenismus theoretisch und praktisch in einer Krise. Allerdings darf man in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass – ob gewollt oder nicht gewollt – den Indianern durch die verschiedenen Bildungsprogramme Wissen und Kenntnisse über die nicht-indianische Welt vermittelt werden und sie zur Bewusstseins- und Identitätsbildung beigetragen sowie die bisherige Isolierung der einzelnen Ethnien oder auch Comunidades aufgebrochen haben. Letzteres erfolgte insbesondere im Zusammenhang mit Nationalen Eingeborenen-Kongressen, durch die sich den Vertretern der verschiedenen Ethnien die Möglichkeit bot, übergreifende Themen zu diskutieren, Standpunkte zu finden und Forderungen zu stellen. Damit haben wir den Bereich der Fremdbestimmung verlassen und befinden uns bereits im Bereich der Indianidad, deren wesentliches Charakteristikum – wie schon gesagt – die Selbstbestimmung ist, sowohl im Sinne von „Wir sind Indígenas“ als auch im Sinne von „Wir bestimmen unseren Weg selbst“.
Die Geschichte der Indianidad muss noch geschrieben werden. Sie beginnt mit dem Aufbegehren gegen die Conquista und zieht sich in Form von Aufständen, Rebellionen, Teilnahme an Befreiungsbewegungen und Revolutionen, Autonomiebestrebungen, Ausweichen in Rückzugsgebiete („regiones de refugio“) durch die Jahrhunderte. Mit allen diesen historischen Ereignissen sind indianische Positionen, Haltungen, Forderungen verbunden, die Wandlungen unterworfen waren, und von denen wir noch viel zu wenig wissen. Erst in den letzten 30 – 40 Jahren hat es solche Dokumentationen gegeben. Guillermo Bonfil Batalla hat, gemeinsam mit einem größeren Mitarbeiterstab, den Versuch unternommen, die in den siebziger Jahren in Lateinamerika verfassten Dokumente indianischer Organisationen, indianischer politischer Zusammenkünfte, Texte indianischer Schriftsteller und Intellektueller u. a. durchzusehen und zu analysieren. Dabei kristallisierten sich elf Themenkreise heraus, die uns die Möglichkeit bieten, einige wichtige Positionen zu ihrem Selbstverständnis zu finden – z.B. was einen Indígena, konkreter einen Indianer ausmacht, wie er die Welt sieht, wovon er sich distanziert und welche Ziele er verfolgt. Da diese Analyse sehr umfangreich ist, können hier nur die wichtigsten Feststellungen in der gebotenen Kürze, ohne gesonderte Kommentare, wiedergegeben werden.
1. Grundsätzliche Negation der „westlichen Zivilisation“, eine Abgrenzung des Indígena vom Nicht-Indígena; aus der historischen Kontinuität leitet sich das Recht der Indianer auf eigenes Denken her; Amerika ist eine indianische Welt, die wieder befreit werden muss.
2. Entwicklung pan-indianischer Auffassungen. Ausgangspunkt ist die These einer „indianischen Zivilisation“. Die Existenz einer Vielfalt von Sprachen und Kulturen bedeutet keine Einschränkung dieser Einheitlichkeit; das Gemeinsame ist bedeutungsvoller als das Trennende. Identifizierung und Solidarisierung der Indianer, d.h. die Indianidad ist kein taktisches Postulat, sondern notwendiger Ausdruck einer historischen Einheit.
3. Entwicklung eines eigenen Geschichtsbewusstseins, Rückgewinnung der indianischen Geschichte. Die Praxis, dass die Bildungsprogramme der einzelnen lateinamerikanischen Länder ausgerichtet sind auf die Vermittlung einer Nationalgeschichte, führte zum Verschweigen und Verfälschen, zur Ignorierung der ethnischen, der indianischen Geschichte. Dargestellte Fakten und Perspektiven sind falsch. Mythen, orale Überlieferungen müssen genutzt werden, um eine neue wahre, eigene Geschichte zu schreiben. Die Kenntnis der eigenen Geschichte ist unverzichtbar für die politische Mobilisierung der indianischen Völker. Es war eine der grausamsten Aggressionen, den Indianer seiner Geschichte zu berauben.
4. Die Wertung indianischer Kulturen, ausgehend von einer Gegenüberstellung der indianischen und der nicht-indianischen Zivilisation. Die Überlegenheit indigener Kultur ist vor allem moralischer Natur; es geht um solche Werte wie Solidarität, Respekt, Ehrenhaftigkeit, Bescheidenheit, Liebe. Im Kontrast dazu sieht man die Werte des „Westens“, die sich als Akkumulierung von unersättlicher Gier nach materiellen Reichtümern, Egoismus, Betrug, Enttäuschung und Hass darstellen.
5. Als ein Charakteristikum indianischen Verhaltens gilt die spezielle Beziehung zur Natur. Der Mensch ist wesentlicher und unlösbarer Teil des Kosmos, seine volle Realisierung besteht in der harmonischen Einfügung in die universale Ordnung der Natur. Auch in diesem Punkt erfolgt eine Akzentuierung und Profilierung des Indígena in der Gegenüberstellung zu nicht-indigenen Positionen. Letztere gehen von einer feindlichen Natur aus, die besiegt werden muss; der Mensch ist die Spitze der universalen Skala, je höher, umso „desnaturalisierter“ zeigt sich die Gesellschaft. Der Mensch ist Herr, der die Natur in gleicher Weise beherrscht wie andere Menschen und Völker. Am Ende dieser Darstellung des Indígena in eigener Sicht sollen einige ihrer Forderungen angefügt werden, die deutlicher Ausdruck selbstbestimmender Indianidad sind:
1. Bodenfragen
* Verteidigung und Wiedererlangung des Bodens, von Comunal-Land, Ejidos und Schutzgebieten
* Erweiterung des verfügbaren Bodens
* Grenzziehungen bei Schutzgebieten der Selva
* Kontrolle und Nutzung natürlicher Ressourcen über und unter der Erde
* Verteidigung von Wasser und Wäldern
2. Anerkennung ethnischer und kultureller Besonderheiten
* Recht auf Anderssein, auf eigene Kultur, Sprache und Institutionen
* Anerkennung eigener sozialer Strukturen, eigener Praktiken in Medizin und Landwirtschaft
* Anerkennung eigener ideologischer und religiöser Systeme.
Dies ist längst nicht alles, was Indígenas zu ihrer Identität aufgeschrieben haben, aber es unterscheidet sich eindeutig von den Definitionen der lateinamerikanischen Regierungen, die letztendlich Sprachen als ausschlaggebendes Kriterium der Zuordnung anwenden. Vor allem Ethnologen, aber auch Wissenschaftler benachbarter Disziplinen und Politiker sind gut beraten, wenn sie sich der Indianidad zuwenden, die Selbstbestimmung akzeptieren und paternalistische Positionen endgültig aufgeben. Doch dafür findet man bisher wenig Anzeichen. Im Gegenteil, die letzten prinzipiellen Ausführungen des Direktors des Interamerikanischen Instituts, Dr. José M. Mar, aus dem Jahre 1990 über die „Política Indigenista 1991-1995“ variieren den Indigenismus insofern, als man durch Integration indianischer Vertreter in bestimmte indigenistische Gremien eine Annäherung der Positionen zu erreichen glaubt. In diesen Bereich fallen auch Aktivitäten, die unter dem Begriff „Partizipation“ indianische Beteiligung an Entwicklungsvorhaben einräumen, wie aus Berichten zur Erhöhung der Produktivität des Kartoffelanbaus in den peruanischen Anden hervorgeht. Die politischen Ereignisse im mexikanischen Chiapas, die Aktionen der Zapatistas – soweit sie zu erfahren waren – sind Ausdruck für das Bestreben, in diesem Fall der Maya-Indianer, ihre Forderungen durchzusetzen. Dabei durchbrechen sie den engeren indianischen Rahmen und verlangen Demokratie und Wandlungen des gesamten Gesellschaftssystems – ganz im Sinne einer ihrer, Lateinamerika insgesamt betreffenden Grundauffassungen von der „Wiedergewinnung der Mestizen“, der Umkehrung der „Desindianisierung“ großer Bevölkerungsteile in eine „Indianisierung“, die Schaffung von Möglichkeiten, das Bewusstsein des Indianerseins wiederzuerlangen, unabhängig von Herkunft und Hautfarbe.
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