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King Cotton und die Amerikas. Eine globalgeschichtliche Betrachtung

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 18 Minuten

Globalgeschichte liegt im Trend. Historiker wie Jürgen Osterhammel und Wolfgang Reinhardt haben mit eindrucksvollen Werken Maßstäbe gesetzt. Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie, die seit 2020 in immer neuen Wellen ihren Tribut fordert und unsere Sicht auf wie auch die Realität von Globalisierung verändert, wird zum Anlass genommen, eine „Denkpause für Globalgeschichte“ (Gänger/ Osterhammel) anzumahnen. Abgesehen davon, dass eine solche Denkpause nach einer Phase des Booms und der Euphorie generell angebracht scheint, gibt sie auch Gelegenheit, bisher Geschriebenes und Gelesenes aus neuer, veränderter Perspektive zu überdenken. Als 2014 „King Cotton“ von Sven Beckert erschien, wurde das globalgeschichtliche Werk als „Buch von großer intellektueller Autonomie, erzählerischer Radikalität und politischer Dringlichkeit“ (Haller) sowie als „fulminante Neuinterpretation des Kapitalismus“ (Patel) gewürdigt.

Beckert_King_Cotton_Bild_CoverScanDie Reminiszenz an dieses Buch soll an dieser Stelle dazu dienen, Anregungen für eine Globalgeschichte der Amerikas zu finden. Eine solche Vorgehensweise bietet sich aus mindestens drei Gründen an: Zum einen handelt es sich bei der Baumwolle um eine „globale Pflanze“. Dies bezieht sich nicht nur auf die weltweite Verbreitung ihres Anbaus und ihrer Verarbeitung, sondern auch und besonders auf ihre zentrale Bedeutung für die Entstehung des globalen Kapitalismus. Zweitens bildet sie die stoffliche Grundlage für ein globales Imperium – das „Empire of Cotton“, das wie kein zweites Netzwerk als Synonym für die vielfältigen Prozesse der Globalisierung zwischen 1600 und 1900 gilt. Drittens – und das ist das ausschlaggebende Argument – spielen die Amerikas eine zentrale Rolle bei der Entstehung, der Expansion und dem Wandel des Baumwollimperiums. Bevor die Suche nach Anregungen beginnen kann, sollen zunächst die beiden tragenden Begriffe der von Sven Beckert verfassten Globalgeschichte – Baumwollimperium und Kriegskapitalismus – vorgestellt werden.

 

Das Baumwollimperium

„King Cotton“ behandelt die globalgeschichtliche Bedeutung der Baumwolle, wobei der Schwerpunkt auf deren Bedeutung für die Entstehung und Expansion des Kapitalismus liegt. Insofern weist der zweite Teil des Titels der deutschen Übersetzung – „Geschichte des globalen Kapitalismus“ – in die richtige Richtung. Mit akribischer Detailreue und ausgreifender Rekonstruktion globaler Interaktionen zeichnet der Autor die zentrale Rolle nach, die die Baumwolle in zwei entscheidenden Phasen kapitalistischer Entwicklung gespielt hat. Allerdings bezeichnet das englische Original „Empire of Cotton. A Global History“ den Gegenstand des Buches präziser. Es ist in erster Linie das Baumwollimperium, welches im Zentrum dieser Globalgeschichte steht. Zwei Gründe lassen sich hierfür anführen. Ausschlaggebend ist zunächst die stofflichen Bedeutung dieses globalen Rohstoffs, wie der Autor selbst gleich zu Beginn betont: „Etwa 900 Jahre lang, von 1000 bis 1900, war die Baumwollindustrie die wichtigste verarbeitende Industrie der Welt.“ (Beckert, S. 10) Die Züchtung und der Anbau der Bauwolle erfolgte innerhalb eines Streifens, der sich über drei Kontinente – Asien, Afrika und Amerika – erstreckte und Gebiete zwischen 35 Grad Süd und 37 Grad Nord umfasste. Auch die Verarbeitung fand größtenteils dort statt. In Europa hingegen war eine Welt ohne Baumwolle lange Zeit die Norm. „Bis zum 19. Jahrhundert war die Baumwolle dort zwar nicht unbekannt, aber dennoch unbedeutend. … Noch um 1700 produzierten Inder und Chinesen bei weitem mehr Baumwolle und Baumwollstoffe als Europäer und Nordamerikaner.“ (ebenda)

Es war jedoch nicht die Baumwolle als solche, die den „Urknall“ der industriellen Revolution erzeugte. Europäische Kapitalbesitzer und Staaten „nutzten die Baumwolle, um eine industrielle Revolution zu entfachen – vielleicht das wichtigste Ereignis in der Menschheitsgeschichte“ (ebenda, S. 10f). Dazu bedurfte es jedoch des „Empire of Cotton“, wie es titelgebend im englischen Original heißt. Dieses Baumwollimperium wiederum war das Ergebnis eines Systems, mit dessen Hilfe die europäischen Kolonialmächte das ursprünglich multizentrische Netzwerk der Baumwollindustrie auf den anderen Kontinenten unterwerfen konnten und es entsprechend ihrer Interessen umgebaut haben. Sven Beckert nennt diesen globalen Zwangs- und Unterwerfungsmechanismus „Kriegskapitalismus“. Die britische Textilindustrie, die aufgrund technischer Innovationen ab den 1760er Jahren einen immensen Hunger nach Bauwolle entwickelt, konnte diesen nur stillen, weil Großbritannien inzwischen das unipolare Zentrum dieses Imperiums bildete.

Der Kriegskapitalismus

Der Kriegskapitalismus war flächen- und arbeitsintensiv, aber nicht mechanisiert. Er beruhte auf einerseits auf der gewaltsamen Enteignung von Land und Arbeitern in Afrika, Asien und den Amerikas. Andererseits bildete die Massensklaverei das Herzstück dieses neuen Systems. Es stützte sich auf „eine Zweiteilung der Welt, auf die Fähigkeit reicher und mächtiger Europäer, ihre Welt in eine ‚innere‘ und eine ‚äußere‘ zu teilen. Die ‚innere Welt‘ beruhte auf den Gesetzen des Heimatlandes, die von einem mächtigen Staat durchgesetzt wurden. Die ‚äußere Welt‘ dagegen war gekennzeichnet von imperialer Herrschaft, ungestrafter Enteignung riesiger Gebiete und unzähliger Menschen, von der Dezimierung einheimischer Völker, die ihrer Rohstoffe beraubt wurden, der Sklaverei und der Kontrolle breiter Landstriche durch private Kapitaleigner: Kaufleute und Siedler, Plantagenbesitzer und Sklaventreiber.“ (ebenda, S. 51). Die zunehmende Kontrolle der Europäer über den sich ausweitenden Welthandel mittels der Instrumente des Baumwolle1_Bild_quetzalredaktion_solebKriegskapitalismus führte – neben anderen Effekten – dazu, dass eine globalisierte Textilindustrie entstand. In diesem Sinne ermöglichte diese frühe Umklammerung der „äußeren Welt“ durch den Kriegskapitalismus die Industrielle Revolution und damit den Aufstieg der Industriekapitalismus.

Es ist nicht die Kanalisierung der Ressourcen anderer Kontinente im Dienste der Industriellen Revolution schlechthin, die den Aufstieg Europas ermöglicht. Die Europäer nutzten den Kriegskapitalismus zugleich, um zwei gravierende und sich ergänzende Vorteile zu ihren Gunsten zu erzwingen: die Blockade der eigenständigen Entwicklung der „äußeren Welt“ sowie die Etablierung eines modernen und starken Staates, der in der Lage war, dies durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. Indem sie „diese riesige Sphäre des Kriegskapitalismus erschufen, in der ganz andere Gesetze herrschten als in Europa selbst, begründeten sie nicht nur die Voraussetzungen für die ‚große Divergenz‘ (gegenüber Asien – P.G.) und die Industrielle Revolution, sondern auch für ein immenses Erstarken ihrer Heimatstaaten, was wiederum für die Entstehung des Baumwollimperiums eine entscheidende Rolle spielen sollte. Um 1780 war Europa generell und Großbritannien im Besonderen zum Knotenpunkt der weltweiten Baumwollnetzwerke geworden.“ (ebenda, S. 65). Die Ausführungen zum Kriegskapitalismus in „King Cotton“ erinnern stark an das Konzept der „ursprünglichen Akkumulation“ von Karl Marx oder die Überlegungen von Rosa Luxemburg zur „Landnahme“. Warum diese beiden Klassiker der Kapitalismusanalyse im Buch keine Erwähnung finden, bleibt angesichts der unübersehbaren Ähnlichkeiten ein Rätsel.

Platz und Rolle der Amerikas im Baumwollimperium

Die Amerikas nehmen in vielfacher Hinsicht einen zentralen Platz im Baumwollimperium ein. Dies beginnt bereits mit der Baumwollpflanze selbst. Biologen gehen davon aus, dass sie seit zehn oder zwanzig Millionen Jahren auf der Erde wächst. In dieser Zeit haben sich vier genetisch unterschiedliche Arten der Baumwolle entwickelt – das mesoamerikanische Gossypium hirsutum, das südamerikanische Gossypium barbadense, das afrikanische Gossypium herbaceum und das asiatische Gossypium arboretum. Heute bestehen mehr als 90 Prozent der globalen Baumwollernte aus Gossypium hirsutum-Gewächsen, die auch unter der Bezeichnung „amerikanische upland-Baumwolle“ bekannt ist (ebenda, S. 22). Auch das wahrscheinlich älteste Zentrum der Baumwollherstellung lag in den Amerikas, genauer: im heutigen Peru, wo man Fischernetze aus Baumwolle ausgegraben hat, die auf 2400 v.u.Z. datiert werden. Baumwolle wurde seit 3400 v.u.Z. überall in Zentralmexiko angebaut und die ältesten Fäden haben ein Alter, das zwischen 3200 und 3500 Jahren liegt (ebenda, S. 23).

Mit der Industriellen Revolution entwickelte sich ein Baumwollimperium, dessen verarbeitendes Zentrum Großbritannien bildete. Der rasch wachsende Bedarf an Rohbaumwolle, den die britische Textilindustrie als erste Welle der Industrialisierung entwickelte, führte schon bald zu erheblichen Nachschubproblemen. Von den traditionellen Liefergebieten in Indien, Afrika, im Osmanischen Reich und in den Amerikas (v.a. Karibik und Brasilien) produzierten nur letztere genügend Rohbauwolle, um die gestiegene Nachfrage zu befriedigen. Es war in erster Linie die Kombination von Massensklaverei und Plantagenwirtschaft, die die notwendige Steigerung der Produktion erbrachte. Um Baumwolle2_Bild_quetzalredaktion_pg1790 beliefen sich die jährlichen Lieferungen aus dem Osmanischen Reich auf rund zwei Millionen Kilogramm, während 3,6 Millionen aus Brasilien und 5,4 Millionen aus der Karibik stammten. Die Kombination von Sklaverei und kolonialer Landnahme in den Amerikas war „der Treibstoff der Industriellen Revolution“ (ebenda, S. 103).

So profitabel diese Mischung war, so explosiv war sie auch. Die siegreiche Sklavenrevolution in Saint Domingue 1791-1804 (heute Haiti) erschütterte das System des Kriegskapitalismus bis in die Grundfesten, der damit seinen ersten großen Rückschlag erlebte. Auch die europäische Baumwollindustrie war schwer davon betroffen (ebenda, S. 105). Infolge der Revolution in Haiti und der durch sie ausgelösten Erschütterungen verlagerte sich das Zentrum des Bauwollanbaus in die USA, genauer: in ihre südlichen Bundesstaaten. 1802 waren die USA bereits der wichtigste Lieferant von Baumwolle für den britischen Markt. „Bis zum (US-amerikanischen – P.G.) Bürgerkrieg wuchsen Baumwollwirtschaft und Sklaverei im Gleichtakt und England und die USA wurden zu den beiden Zentren des entstehenden Baumwollimperiums“ (ebenda, S. 112).

Aber auch in den Vereinigten Staaten erwies sich die Sklaverei als Achillesferse des Baumwollimperiums. Anders als in Haiti waren es diesmal aber nicht die Sklaven selbst, die ihre Ketten abwarfen, sondern der lange schwelende Konflikt zwischen Nord- und Südstaaten entschied über den Fortbestand der Sklaverei in den USA. Als dort schließlich am 12. April 1861 der Bürgerkrieg ausbrach, „durchtrennte (er) mit einem Schlag die globalen Bande, die das weltweite Gewebe von Baumwollproduktion und Kapitalismus seit den 1780er Jahren gestützt hatten“ (ebenda, S. 235)

Tabelle 1: Anteil der aus den USA importieren Baumwolle an den Gesamteinfuhren der wichtigsten europäischen Märkte (Ende der 1850er Jahre & 1891)

Land

Menge der gesamten Baumwolleinfuhr (Ende 1850er Jahre)

Anteil an der gesamten Baumwolleinfuhr (Ende 1850er Jahre)

Anteil an der gesamten Baumwolleinfuhr (1891)

England

363 Mio. kg

77 Prozent

81 Prozent

Frankreich

87 Mio. kg

90 Prozent

66 Prozent

Deutscher Zollverein bzw. Deutsches Reich

52 Mio. kg

60 Prozent

61 Prozent

Russland

46 Mio. kg

92 Prozent

k.A.

Quelle: Zusammenstellung nach Angaben von Beckert, S. 232, 273

Die globale Krise des Baumwollimperiums, die die europäischen Märkte zunächst in eine Art Schockstarre versetzte, eröffnete zugleich anderen Baumwollregionen eine Chance. Neben Indien profitierten vor allem Ägypten, Westanatolien, Algerien, Westafrika, China und Südamerika (Brasilien, Argentinien, Peru) vom Ausfall der US-Baumwollexporte.

Comeback der USA und Übergang zum Baumwollimperialismus

Bereits kurz nach dem Ende des Bürgerkrieges kam es dank der Einführung neuer Arbeitssysteme in den Südstaaten der USA „zu einem raschen, starken und dauerhaften Anstieg der Baumwollproduktion. Amerikanische Erzeuger gewannen trotz gegenteiliger Voraussagen ihre führende Stellung zurück. 1870 übertraf ihre Produktion den bisherigen Spitzenwert von 1860. 1877 hatten sie ihren Marktanteil der Vorkriegszeit in England wieder erreicht. 1880 exportierten sie mehr Baumwolle als 1860. Und 1891 bauten Teilpächter, Familienfarmer und Plantagenbesitzer in den USA doppelt so viel Baumwolle an wie 1861…“ (ebenda, S. 273; siehe auch Tabelle 1). Damit war der erste und wichtigste Schritt beim Umbau des Baumwollimperiums getan. Nach der Revolution in Haiti und dem Bürgerkrieg in den USA, der mit der Sklavenemanzipation endete, musste der Anbau der Baumwolle für die europäische Textilindustrie weitgehend ohne Sklavenarbeit auskommen. Teilpacht, Schuldknechtschaft und zunehmende Proletarisierung der ländlichen Bevölkerung in den Anbaugebieten bereiteten den Boden für die Gewinnung neuer Formen billiger Arbeitskräfte, „die zwar keine Sklaven, aber auch nicht völlig frei waren. Weltweit waren diese Baumwollfarmer hochverschuldet, wehrlos gegenüber den Schwankungen des Weltmarktes, meistens arm und dazu den neuartigen Arbeitsverträgen und Gesetzen gegen Landstreicherei unterworfen, die sie an einen Ort binden sollten“ (ebenda, S. 287). Auf dieser Grundlage entstand eine neue Variante des Baumwollimperiums, bei der – wie bereits zuvor – der Einsatz außerökonomischen Zwangs sowohl durch die Kapitalgeber und die Baumwolle3_Bild_quetzalredaktion_solebGroßgrundbesitzer als auch durch den Staat die Regel waren. In diesem Umbauprozess bildeten – neben Ägypten und Indien – die Amerikas mit den USA, Brasilien und Mexiko eines der wichtigsten Experimentierfelder (ebenda, S. 270-273, 276f, 288).

Etwa zeitgleich erfolgte eine weitere territoriale Expansion des Baumwollimperiums, die ganz im Zeichen kolonialer Landnahme stand. Während in Afrika die imperialistischen Mächte Europas ihre Chance nutzten, eroberte Russland große Teile Zentralasiens – Gebiete, die günstige Bedingungen für die Eigenversorgung mit Baumwolle boten. In ähnlicher Weise ging der imperialistische Newcomer Japan in Korea, der Mandschurei und Taiwan vor. „Am bedeutendsten war jedoch die Ausweitung der Baumwollproduktion in den USA. Die Entwicklung dort war in mancher Hinsicht mit Russland vergleichbar – staatliche Vertreter und Militär waren in neue Gebiete vorgestoßen und hatten Infrastrukturprojekte zu ihrer Erschließung durchgeführt. … Doch während Russland zentralasiatische Erzeuger mobilisierte und Nomaden zwangsweise ansiedelte, um Baumwolle anzubauen (wie es auch die Osmanen … taten), vertrieben die USA die meisten Ureinwohner vom Land … Das Baumwollimperium der USA dehnte sich rasch aus und erfasste ganz neue Gebiete. Vor dem Bürgerkrieg waren 5,38 Millionen Ballen erzeugt worden – 1920 waren es dann mit 13,42 Millionen zweieinhalbmal so viele. Und die Anbauflächen wuchsen rapide. 8,8 Millionen Hektar Land wurden zusätzlich für die Baumwollerzeugung genutzt, was etwas mehr als der Hälfte von Portugal entsprach“ (ebenda, S. 326).

Überlegungen zum globalgeschichtlichen Potential der Amerikas

Die Globalgeschichte von Weltregionen gehört eher zu den jüngeren Trends und hat – aufgrund der Komplexität des Gegenstandes unvermeidbar – mit zahlreichen Schwierigkeiten und Probleme zu kämpfen. Zugleich eröffnet sie ein weites und – gemessen an den möglichen Erkenntnisgewinnen – ergiebiges Feld neuer historischer Forschungen (Grandner/ Sonderegger 2015). Wie die vorhergehenden Abschnitte dieses kurzen Beitrages gezeigt haben, bietet die Lektüre von „King Cotton“ eine gute Gelegenheit, einige Anregungen in Hinblick auf das globalhistorische Potential der Amerikas zu formulieren.

Ausgangspunkt ist zunächst der Platz des Doppelkontinents in der Weltgeschichte bis 1492 (Gunsenheimer/ Schüren 2016) Mann 2016). Hier geht es vor allem um die Gewichtung der Besonderheiten der relativ isolierten Entwicklung von der menschlichen Erstbesiedlung bis zum dauerhaften Kontakt mit der „Alten Welt“. Von den Eigenheiten der Neolithischen Revolution bis zur Herausbildung altamerikanischer Staatlichkeit reicht hier der historische Bogen, wobei der Schwerpunkt auf Prozessen von langer Dauer (longue durée) liegt. Die Geschichte der meso- und südamerikanischen Varianten der Baumwolle ist hier nur eine von vielen anderen Möglichkeiten.

Mit dem „historischen Jahr 1492“ beginnt eine neue Phase historischer Entwicklung und Betrachtung sowohl beider Amerikas als auch der übrigen Welt (Kossok 1992). Erst die Ankunft der Spanier unter der Führung von Christoph Kolumbus und der damit verbundene Beginn der dauerhaften und tiefer wirkenden Interaktion mit den übrigen Weltregionen öffnet die Tür zur Globalgeschichte. Stellt der Columbian Exchange von Keimen, Pflanzen, Tieren und Technologien noch eine weitgehend symmetrische Weise des Austausches zwischen der „Alten“ und der „Neuen Welt“ dar, so ist dies bei anderen globalhistorischen Prozessen wie Europäisierung, Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus nicht der Fall. Ursachen, Inhalt, Form und Folgen dieser asymmetrischen Interaktionsmuster können auf verschiedene Weise untersucht werden – (a) in ihrer Wechselwirkung mit Europa, (b) innerhalb der Amerikas und (c) im Vergleich mit anderen (europäisierten) Weltregionen. Bei „King Cotton“ finden sich zahlreiche Beispiele für derartige Vergleiche. Ein besonders ergiebiges stellt das Zusammenwirken von Landnahme, (billigen) Arbeitskräften und den Bedürfnissen bzw. Forderungen europäischer Akteure im Rahmen der einzelnen Abschnitte des Baumwollimperiums dar. In Hinblick auf den Columbian Exchange könnten neben der Baumwolle Pflanzen amerikanischen Ursprungs mit globaler Wirkung wie Kartoffel und Mais bzw. altweltliche Kulturen mit besonderer strukturelle Prägekraft in den Amerikas wie zum Beispiel Zuckerrohr und Kaffee untersucht werden. Auch hinsichtlich der Bedeutung von strategischen Rohstoffen wie Erdöl bietet sich ein solcher globalgeschichtlicher Ansatz mit vergleichender Perspektive an.

Eine Herausforderung für eine Globalgeschichte der Amerikas stellt schon allein die Tatsache dar, dass es sich um eine Weltregion handelt, die sich über die gesamte westliche Hemisphäre erstreckt. Erschwerend kommt eine Nord-Süd-Bifurkation der historischen Entwicklungspfade hinzu, die sich während der letzten 500 Jahre immer weiter ausgeprägt hat und die in ihrer historischen Dimension an an die Great Divergence zwischen Europa und Asien (Pomeranz) erinnert. Während sich im Norden die USA nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderte zur alleinigen globalen Supermacht entwickeln, verbleiben die südlich des Rio Grande liegenden Länder in der Peripherie bzw. Semi-Peripherie des modernen Weltsystems.

Auf der anderen Seite verweisen die Verbindungen beider Amerikas innerhalb des Baumwollimperiums, wie sie in „King Cotton“ beschrieben und analysiert werden, auf wichtige Gemeinsamkeiten. Zu diesen gehören (a) die Kolonialisierung der Amerikas durch europäische Mächte, (b) der amerikanische Zyklus der Unabhängigkeitsrevolutionen zwischen 1775 und 1825, der sich von den USA (1775-1783) über die Karibik (Haiti 1791-1804) bis nach Spanisch-Amerika (1808-1830) spannt, (c) der Einsatz der „modernen“ Massensklaverei im Dienste der Ausplünderung des Doppelkontinents sowie (d) die (asymmetrischen) inter-amerikanischen Beziehungen. In diesem Sinne steht die Frage „Do the Americas Have A Common History?“ (Hanke 1964) – das heißt die Auslotung und Gewichtung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Norden (USA, Kanada) und dem Süden des Doppelkontinents (Lateinamerika und Karibik) – mehr denn je im Zentrum einer Globalgeschichte der Amerikas. Nimmt man den Baumwolle4_Bild_quetzalredaktion_solebgesamten Globus in den Blick, müssten auch die globale Great Divergence zwischen Europa und Asien einerseits und die Great Divergence zwischen dem Norden und dem Süden der Amerikas andererseits aus vergleichender Perspektive untersucht werden.

In diesem Zusammenhang verweist die besondere Stellung der USA innerhalb des Baumwollimperiums auf ein weiteres Problem. Die USA waren lange Zeit nicht nur der Hauptlieferant für die britische und kontinentaleuropäische Baumwollindustrie, sondern zugleich „das einzige Land, dessen Territorium zwischen Kriegs- und Industriekapitalismus gespalten war, ein einzigartiges Phänomen, das schließlich einen beispiellos zerstörerischen Bürgerkrieg auslöste“ (Beckert, S. 169; siehe auch S. 228). Damit liefert die Globalgeschichte des Baumwollimperiums ein weiteres Beispiel für den Sonderweg der USA, der in der Zivilreligion des American Exceptionalism seinen bekanntesten ideologischen Ausdruck gefunden hat. Die Gründe, Verlaufsformen und Wirkungen der Koexistenz von Kriegs- und Industriekapitalismus auf demselben nationalen Territorium als einzige (!) Ausnahme von der globalen Regel drängen geradezu zu einer vergleichenden Analyse beider Kapitalismusvarianten und ihrer Wechselwirkung.

„King Cotton“ thematisiert im Kontext des Baumwollimperiums auch die Pionierrolle der Amerikas in der globalen Revolutionsgeschichte, wobei Haiti mit der ersten und zugleich einzigen siegreichen Sklavenrevolution, die nicht zuletzt eine Revolution gegen den Kriegskapitalismus war (ebenda, S. 105), und die USA, die im Ergebnis der weltweit ersten antikolonialen Revolution unabhängig geworden sind (ebenda, S. 109ff), als die beiden zentralen Fälle zu nennen sind. Ausgehend davon stellt sich die Frage, welches Potential die vergleichende Revolutionsforschung für eine Globalgeschichte der Amerikas beinhaltet. Aus globaler Perspektive bieten sich verschiedene Achsen der Analyse an: Ein Vergleich (a) innerhalb des Atlantischen Raumes, (b) von Revolutionen, die gegen die Massensklaverei geführt wurden (Haiti, USA, Kuba), (c) von Bauernrevolutionen (Mexiko, China, Vietnam) und (d) von antiimperialistischen Revolutionen (in den Amerikas sind dies v.a. Guatemala 1944-1954. Kuba 1959ff, Zentralamerika 1979ff, Venezuela 1999ff).

Das Prinzip Hoffnung

Abschließend sei auf ein Problem hingewiesen, dass mit den Umbrüchen der jüngsten Zeit erneut an Brisanz gewinnt: der Platz der Amerikas in einer Welt, die den Übergang zu einer neuen, multipolaren Ordnung und die Herausforderungen globaler Krisen (Klimakrise, soziale Polarisierung, Rohstoff-, Ernährungs- und Energiekrise etc.) bewältigen muss. Die Frage, ob die Amerikas in Gänze zum Westen gehören (Carmagnani 2004), bildet dabei einen wichtigen, aber bei weitem nicht den einzigen Aspekt. Der Autor von „King Cotton“ gibt am Ende des Buches seiner Hoffnung Ausdruck, dass wir Menschen uns als fähig erweisen, diese Herausforderungen des 21. Jahrhunderts so zu meistern, dass Produktivität und Gerechtigkeit miteinander im Einklang stehen: „Die menschliche Fähigkeit, unsere Anstrengungen auf immer produktivere Art zu organisieren, sollte uns Hoffnung geben, dass unsere beispiellose Beherrschung der Natur uns auch die Klugheit, die Macht und die Stärke gibt, eine Gesellschaft zu schaffen, die die Bedürfnisse aller Menschen berücksichtigt – ein Baumwollimperium, das nicht nur produktiver, sondern auch gerechter ist“ (ebenda, S. 398).

 

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Literatur:

Beckert, Sven: King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus. München 2014

Carmagnani, Marcello: El otro occidente. América Latina desde la invasión europea hasta la globalización. México 2004

Conrad, Sebastian: Globalgeschichte. Eine Einführung. München 2013

Gänger, Stefanie/ Osterhammel, Jürgen: Denkpause für Globalgeschichte, in: Merkur, Nr. 855, August 2020 (Abruf vom 15.4.2022 unter: https://www.merkur-zeitschrift.de/2020/07/24/denkpause-fuer-globalgeschichte/)

Grandner, Margarete/ Sonderegger, Arno (Hrsg.): Nord-Süd-Ost-West-Beziehungen. Eine Einführung in die Globalgeschichte. Wien 2015

Gunsenheimer, Antje/ Schüren, Ute: Amerika vor der europäischen Eroberung. Frankfurt a. M. 2016

Haller, Lea: Über Beckert, Sven: King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus. München 2014, in: H-Soz-Kult, 29.1.2015

Hanke, Lewis (ed.): Do the Americas Have A Common History? New York 1964

Kossok, Manfred: Das Jahr 1492, in: comparativ, 3 (1993) 1-2, S. 29-55 sowie derselbe: Das historische Jahr 1492, in: Quetzal Nr. 1, Frühjahr 1993, S. 2-5 (Abruf vom 15.4.2022 unter: https://quetzal-leipzig.de/themen/ethnien-und-kulturen/das-historische-jahr-1492-3)

Mann, Charles: Amerika vor Kolumbus. Die Geschichte eines unentdeckten Kontinents. Reinbek bei Hamburg 2016

Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009

Patel, Kiran Klaus: Rezension von Sven Beckert. King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus. München 2014, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 56, 2016

Pomeranz, Kenneth: Great Divergence: China, Europe, and the Making of the Modern World Economy. Princeton 2000

Reinhardt, Wolfgang: Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415-2015. München 2016

 

Bildquellen: [1] CoverScan; [2-5] Quetzal-Redaktion

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