Wenn man die Frage nach dem Wassertransfer beantworten möchte, ist der Begriff „virtuelles Wasser“ des britischen Wissenschaftlers John Anthony Allan sehr hilfreich. Vor allem die Forschungsarbeit des „UNESCO-Institute for Water Education“ in den 90er Jahren hat Klarheit in diesem Bereich geschaffen. Es geht um das Wasser, das in Lebensmitteln oder Gütern versteckt ist. Dies gilt für Computer, Zeitungen, Plastiktüten sowie für Soja oder Tomaten. Für das Wasser, das bei Rohstoffgewinnung, Herstellung und Transport verbraucht wird und das in den seltensten Fällen direkt in dem Produkt gebunden ist, wird der Begriff „virtuelles Wasser“ benutzt. Die geographischen und klimatischen Bedingungen bestimmen in hohem Maße die ökologische Bilanz einer Ware. Sehr unterschiedliche Mengen von Wasser können in einem Produkt gebunden sein, je nach dem, wie nachhaltig es hergestellt wurde. Bei der landwirtschaftlichen Produktion spielt es eine Rolle, ob bei der Bewässerung optimal dosierte Wassermengen benutzt wurden und ob das Produkt in einer wasserarmen oder wasserreichen Region angebaut wurde, also ob z.B. eine Tomate aus Holland oder aus der semi-ariden Region im Nordosten Brasiliens kommt. Für die Herstellung von einem Liter Orangensaft braucht man im Westen der USA ca. 1.000 Liter Wasser, in Brasilien je nach regionaler Gegebenheit zum Teil nur 380 Liter.
Die „Transposição do São Francisco“ ist heute das größte Hydro-Business Brasiliens. Mit dem abgeleiteten Wasser des Rio São Francisco soll die wasserarme Region des Sertão im Nordosten Brasiliens für die industrielle Landwirtschaft nutzbar gemacht werden. Genauer gesagt, 70% des Wassers geht in die industrielle Landwirtschaft (Obstanbau, Zuckerrohr und Shrimpszucht für den Export), 26% in die Großstädte oder in Industriekomplexe und nur vier Prozent in die Versorgung von Familienbetrieben der Trockenregion. Die Kostenpläne der Flussableitung, die laut Regierung Lula bei 6,6 Mrd Reais (ca. 2,5 Mrd Euro) liegen, berücksichtigen leider nicht den virtuellen Wassertransfer. Das Projekt wird zudem irreparable und unberechenbare Folgen für die natürlichen Wasserkreisläufe haben.
Auf den ersten Blick ist das Projekt nicht bedeutsam, da nur ca. drei Prozent des Flusswassers abgeleitet werden sollen. In Wirklichkeit ist dies die unglaubliche Wassermenge von 61,3 m³/s: an der Nordachse 41,3 m³/s und an der Ostachse 20 m³/s. Diese enormen Wassermengen sollen eine an die klimatischen und geografischen Bedingungen des semi-ariden Raumes nicht angepasste Landwirtschaft vorantreiben. Brasilien wird durch diese Maßnahme umfangreiche Gebiete landwirtschaftlich erschließen und zu einem großen Exporteur von virtuellem Wasser. 32 . Im Jahr 2000 exportierte Brasilien 45 Mrd m³ virtuelles Wasser und lag damit weltweit auf Platz zehn der Wasserexporteure. Die ersten vier Plätze wurden von den USA (758,3), Kanada, (272,5), Thailand (233,3) und Argentinien (226,3) eingenommen. 2002 stieg der Wasserexport Brasiliens auf 52,2 Mrd m³, 2003 auf 65,5 Mrd m³ und 2004 auf 73,8 Mrd m³. Mit dem zunehmenden Export von Lebensmitteln wie Tomaten, Orangensaft, Weintrauben, Mangos, Wassermelonen, Zucker und Bananen sowie von industriellen Gütern und Agrotreibstoff wird Brasilien diese Stellung halten.
Der Fruchtanbau entlang des Ableitungsprojekts im Bundesstaat Ceará
Seit den 1980er-Jahren produziert die Region um Petrolina in Pernambuco und Juazeiro in Bahia Honig- und Wassermelonen, Soja, Tomaten, Spargel, Weintrauben, Zitronen, Papayas, Ananas, Apfelsinen und Mangos, die nach Europa exportiert wurden. Im Jahr 2003 kamen 95% des brasilianischen Mango-Exports aus diesem Gebiet. Das Agrobusiness mit seinen riesigen Bewässerungssystemen im brasilianischen Trockengebiet bekommt durch die Ableitung zukünftig eine stabile Infrastruktur. Die Grundlage für die Expansion von Obstbewässerungsanlagen aus Bahia und Pernambuco in Richtung des Bundesstaates Ceará ist dadurch gelegt.
Zurzeit wird die Wasserversorgung der Großunternehmen auf der Apodi-Hochebene (s. Abb.) durch die Nutzung der unterirdischen Ressourcen gewährleistet. Es gibt hier 35 Großbrunnen, die teilweise bis zu tausend Metern tief sind, da das Wasser aus den regionalen kleinen Flüssen wie dem Rio Jaguaribe, Apodi oder Piranhas nicht ausreichen würde, um die Obstplantagen zu bewässern. Es wird mit hohen Kosten Wasser aus dem großen Jandaíra-Reservoir entnommen, um den exportorientierten Obstanbau zu versorgen. Die Ableitung kommt daher gerade zum richtigen Zeitpunkt. Das Obstanbauunternehmen Delmonte benutzt in Ceará seit langer Zeit viel Wasser aus dem Jaguaribe-Becken, das wiederum durch das Ableitungsprojekt zum Auffangbecken wird.
Wie man sieht, gibt es ohne die Ableitung natürliche Beschränkungen der Bewässerungssysteme in der Region. Die Ableitung des São Francisco nimmt daher eine Schlüsselfunktion in der landwirtschaftlichen Erschließung des Gebiets ein. Sie ist die Maßnahme, die noch fehlte, um dem Agrobusiness einen entscheidenden Schub zu geben. Das Castanhão-Becken (s. Abb. auf Seite 31) kann nicht allein den zunehmenden Wasserbedarf abdecken. Die Lösung für die zukünftige Wasserknappheit des Agrobusiness in Ceará ist die Bereitstellung von Castanhão als Auffangbecken für das Ableitungsprojekt.
Auch der Anbau von Soja als Futtermittel für die europäische Viehhaltung ist durch die Ableitung gesichert. Europa spielt hier eine wichtige Rolle. Von den 50 Mio Tonnen Futtermitteln, die in die 15 EUStaaten jährlich importiert werden, entfallen allein auf Soja 26 Mio Tonnen. Dies entspricht einer Ackerfläche von über 150.000 km².
Mehr als die Hälfte dieser Soja-Einfuhr kommt aus Brasilien und ein bedeutender Teil aus dem Nordosten. Dadurch wird virtuelles Wasser verbraucht und Ackerland benutzt, das für die Erzeugung von Grundnahrungsmitteln lokaler Bevölkerungsschichten dieser wasserarmen Region viel wichtiger wäre.
Insbesondere durch den östlichen Ableitungskanal, der von Pernambuco abgeht, sollen neue Regionen für den Zuckerrohranbau erschlossen werden, der gerade durch den Agrotreibstoffboom sehr gute Zukunftsaussichten hat. Dies betrifft den Bundesstaat Rio Grande do Norte ebenso wie die gesamte Strecke des östlichen Ableitungskanals. Der Markt für Agrotreibstoffe wird dabei gerade auch durch die Verordnungen zur Beimischung auf Ebene der EU und in Deutschland erst geschaffen – mit katastrophalen Folgen nicht nur für die Verwendung des Wassers in Brasilien. Auch für Kleinbauern, die häufig keine gesicherten Landtitel besitzen, ist diese Entwicklung bedrohlich, denn ihr Verbleib auf den von ihnen genutzten Flächen steht durch die Flussableitung in Frage.
Nicht nur das Agrobusiness freut sich über die Ableitung, sondern auch ein neuer Akteur des Wassergeschäftes: die Shrimpszüchter an der Küste von Ceará. Am Jaguaribe-Becken, das durch die Ableitung Wasser des São Francisco aufnehmen wird, wird die Shrimpszucht profitabler. Die zurzeit 245 Shrimpsfarmen werden ihre Bestände und ihren Wasserverbrauch in der Region erhöhen können. Ökologische Probleme sind hier vorprogrammiert. Mehr als 98% dieser Farmen bereiten das von ihnen genutzte Wasser nicht auf, wie es vom Gesetzgeber vorgeschrieben wird.
Die katastrophalen ökologischen Folgen werden in einigen Jahrzehnten spürbar sein: ausgelaugte Böden, sinkender Grundwasserspiegel, Abholzung der natürlichen Vegetation durch die Verlegung der Ableitungskanäle, Austrocknung von Quellflüssen und Grundwasser durch riesige Monokulturen wie Mango, Ananas, Eukalyptus und Soja. Der natürliche Wasserzyklus wird insgesamt so verändert, dass die angepasste Vegetation drastisch zurückgeht. Der Einsatz von Schädlingsbekämpfungsmitteln wird das Fluss- und Grundwasser vergiften.
Die Rolle des Ableitungsprojekts für die Industrie
Der Bundesstaat Ceará erlebte in den 1990er-Jahren eine Industrialisierung. Nach der Fertigstellung des Hafens Pecém 2002 werden jetzt an der Küste zahlreiche Industrieunternehmer angesiedelt, die einen hohen Wasserbedarf haben. Man geht davon aus, dass sich hier ein Maschinenstandort, eine Kalkfabrik sowie eine Fabrik für Industriegase und für die Herstellung feuerfester Baustoffe ansiedeln werden. Diese Unternehmen werden ein Wasservolumen verbrauchen, das eine Gemeinde von ungefähr 90.000 Einwohnern versorgen könnte. Dies sind ca. 4 Mio m³ Wasser jährlich, die vom städtischen Betrieb geliefert werden. Aus dem São Francisco soll das Wasser kommen, das über den Ableitungskanal in das Wasserbecken Castanhão fließen und danach über Morada Nova und Pacajus den Pecém-Hafen versorgen soll. Der bereits am Hafen Pecém angesiedelte Metallindustriekomplex Ceará (Usina Siderúrgica do Ceará – USC) verbraucht jährlich ca. 55 Mio m³ Wasser. An diesem Stahlwerk sind drei verschiedene Länder beteiligt: Italien, Südkorea und Brasilien. Es wird eine Fläche von fast 300 Hektar des Industrie- und Hafenkomplexes der Stadt Pecém einnehmen und jährlich 1,5 Mio Tonnen Stahlplatten für den Export produzieren.
Und was bedeutet dies für die Region?
Die sozialen Folgen der Flussableitung werden vor allem für die lokalen Familienbetriebe und die Truká-Indianer dramatisch sein, weil die Landkonzentration in der Region zunehmen wird. Die Obstanbauunternehmer, die ihr Bewässerungsprojekt mit billigen Tagelöhnern betreiben, werden im Jahr weiter über eine Mio Tonnen Nahrungsmittel exportieren können. Die Proportionen sehen etwa so aus: von 100 Apfelsinen werden 3 im Land bleiben. Die Großgrundbesitzer, die Investoren, die Banken und die internationalen Handelsketten bereichern sich, während die Bewohner vor Ort weiter hungern werden.
Der Industrie- und Hafenkomplex der Stadt Pecém wird qualifizierte Arbeitskräfte benötigen und deshalb keine Arbeitsplätze für die gering qualifizierte Bevölkerung der Region schaffen. Die Wasserverfügbarkeit einer Region wird in der Logik dieses Wassergeschäfts nicht berücksichtigt. Es ist für den Bereich noch uninteressant, ob für 1 Kilogramm Stahl 220 oder 500 Liter Wasser verbraucht werden, da das Wasser für die Unternehmen durch die brasilianische Bundesregierung stark subventioniert wird.
Zusammenfassend: Ohne umfassende ökologische und soziale Auflagen wird es eine erhöhte Umweltzerstörung in der Region geben. Auf längere Sicht verhindert dies die Chancen für eine nachhaltige Entwicklung des semi-ariden Gebietes, wie sie das Bildungsinstitut IRPAA (Instituto Regional de Pequena Agropecuária Apropriada) oder andere Organisationen wie ANA (Agência Nacional de Águas) und ASA (Netzwerk der NGOs der semi-ariden Region) propagieren. Die Ableitung, die als erfolgversprechendes Entwicklungsmodell angepriesen wird, kann die Entwicklung der ökologischen Landwirtschaft im Umgang mit Wasser im Nordosten Brasiliens zerstören. Sie kann der Niedergang jeglicher zukunftsweisender Entwicklung sein, die einen Weg aus der globalisierten und industrialisierten Landwirtschaft sucht.
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Marcos Antonio da Costa Melo ist KoBra-Vorstand und Eine-Welt-Koordinator bei FUgE in Hamm.
Dieser Beitrag erschien bereits im April 2009 im Brasilicum Sonderheft zum São Francisco, herausgegeben von der Kooperation Brasilien (KoBra). Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von KoBra.
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Bildquellen:
01. Rio São Francisco. Agencia Brasil, Fábio Pozzebom.
02. Soja. Agencia Brasil, Roosewelt Pinheiro.
03. Tucuxi Indianer. Agencia Brasil, Fábio Pozzebom.