Kommentar
A. Struktur des Welthandels
1. Die Struktur des Welthandels weist zwei klar erkennbare Grundmuster auf. Das Zentrum wird von der Triade aus Westeuropa, (Ost-)Asien und Nordamerika gebildet, wobei alle drei Zentrumspole über eine bevorzugte Handelsregion außerhalb der Triade verfügen: für Westeuropa sind Osteuropa und die GUS-Staaten das Hauptexportgebiet außerhalb der Triade, während für Nordamerika die lateinamerikanische Region und für Asien der Nahe Osten eine ähnliche Bedeutung haben. Die Exporte in diese Regionen, die im Falle Osteuropas und Lateinamerikas unmittelbar an den jeweiligen Zentrumspol angrenzen, liegen jedoch in jedem Fall noch unter dem niedrigsten Wert innerhalb der Triade. Zusammen mit Afrika, das kaum in den Welthandel integriert ist, stellen die genanten Regionen, die untereinander so gut wie nicht verkoppelt sind, gewissermaßen „Ableger“ des Zentrums dar und bilden zusammen die Peripherie. Jeder dieser drei Ableger ist mit jeweils nur einem Zentrumspol der Triade durch ein asymmetrische Abhängigkeitsverhältnis verbunden.
2. Bei jedem der drei Zentrumspole besitzt der Handel innerhalb der eigenen Region die größte Bedeutung, wobei es im Vergleich zwischen den Polen deutliche Unterschiede beim Anteil des intraregionalen Handels gibt. Dieser liegt in Westeuropa bei über 2/3 des Gesamtexportwertes der Region, in Asien bei etwa der Hälfte und in Nordamerika bei etwa 40%. Dieselbe Rangfolge ist auch beim Anteil des jeweiligen Zentrumspols sowohl an den Weltexporten als auch an den weltweiten Importen zu erkennen. Der Anteil Westeuropas an den Gesamtexporten (3.110 von 7.179 Mrd. US-Dollar) liegt sogar noch über der Summe der Exporte Asiens und Nordamerikas (zusammen 2.853 Mrd. US-Dollar). Nordamerika belegt beim wertmäßigen Anteil an den weltweiten Ex- und Importen innerhalb der Triade nicht nur den letzten Platz, sondern weist zudem als einzige aller in der Tabelle aufgeführten Handelsregionen ein Handelsbilanzdefizit auf. Auffällig ist, dass trotz aller Gobalisierungseuphorie der Handel innerhalb der jeweiligen Zentrumspole der Triade in der Summe bei fast der Hälfte des globalen Wertes liegt (3.483 von 7.179 Mrd. US-Dollar). Demgegenüber liegt die wertmäßige Summe der Exporte des jeweiligen Zentrumspols in die beiden anderen Triadenregionen (interregionale Exporte innerhalb der Triade) bei etwa der Hälfte der Summe der intraregionalen Exporte der drei Zentrumspole (1.692 von 3.483 Mrd. US-Dollar). Der Gesamtwert der innerhalb der Triade getätigten Exporte beträgt damit 5.175 Mrd. US-Dollar, das sind über 70% der globalen Exporterlöse. Zählt man die Exporte der drei Zentrumspole, die in die Gebiete außerhalb der Triade gehen, noch hinzu, da ergibt sich daraus ein Anteil der Triade an den Weltexporten von fast 84% (5.963 von 7.179 Mrd. US-Dollar).
3. Im Außenhandelsvergleich der vier Regionen, die außerhalb der Zentrumstriade liegen (Peripherie), schneiden Osteuropa/GUS und Lateinamerika vergleichsweise gut ab. Beide weisen ähnlich hohe Werte auf und verfügen über eine „privilegierte“ Anbindung an je einen der Zentrumspole. In beiden Fällen beträgt der Export zum geographisch benachbarten Zentrumspol ein Vielfaches der Exporte innerhalb Osteuropas bzw. Lateinamerikas. Die einseitige Anbindung an den jeweiligen Zentrumspol ist damit wesentlich stärker ausgeprägt als die intraregionale Verflechtung – ein Abhängigkeitsverhältnis, das beim Nahen Osten und bei Afrika allerdings noch krasser ausfällt. In diesen beiden peripheren Regionen rangieren die intraregionalen Exporte wertmäßig sogar an vierter Stelle (nach den Exporten in die drei Zentrumspole der Triade), während sie in Osteuropa und Lateinamerika wenigstens den zweiten Platz belegen. Über die Hälfte des Exportwertes des Nahen Ostens, der zum überwiegenden Teil aus dem Verkauf von Erdöl resultiert, entfällt auf Ostasien, das damit eine ähnliche Bedeutung für diese Region hat wie Nord- für Lateinamerika und West- für Osteuropa. Mißt man den Verflechtungsgrad der vier Peripherieregionen an ihrem wertmäßigen Anteil am Welthandel, dann schneidet Afrika mit etwa 2% am schlechten ab, aber auch Osteuropa und Lateinamerika, die beide um die 5% aufzuweisen haben, sind im Vergleich zur Zentrumstriade wenig in den globalen Handel integriert. Der an sich schon geringe Anteil am Welthandel fällt um so mehr ins Gewicht, wenn man berücksichtigt, dass weit mehr als die Hälfte des Exportwertes (bei Osteuropa, Lateinamerika und dem Nahen Osten) bzw. etwas weniger als die Hälfte (Afrika) auf nur jeweils einen Zentrumspol der Triade entfällt. Ein großer Teil der Exporterlöse Osteuropas (Rußland), West- und Nordafrikas sowie des Nahen Ostens resultiert zudem aus Öl- und Gaslieferungen an die jeweiligen Zentrumspole, was die Einseitigkeit der Handelsbeziehungen dieser Teile der Peripherie noch unterstreicht.
B. Lateinamerikas Stellung im Welthandelssystem
1. Für Lateinamerika sind die Handelsbeziehungen zu Nordamerika, in diesem Falle mit den USA, der wichtigste Zugang zum Weltwirtschaftssystem. Der Wert der Exporte nach Nordamerika macht ca. 60% der Gesamtexporte der Region aus und ist damit fast vier Mal so groß wie die intraregionalen Exporte, die ihrerseits nur knapp über denen nach Westeuropa liegen. Zusammen repräsentieren die Exporte innerhalb Lateinamerikas und nach Westeuropa gerade einmal die Hälfte der Ausfuhren nach Nordamerika.
2. Lateinamerika kann jedoch – wie übrigens alle anderen Handelsregionen auch – auf eine positive Außenhandelsbilanz gegenüber Nordamerika verweisen. Während Exporte im Wert von 218 Mrd. US-Dollar an die nördliche Nachbarregion gehen, exportiert diese lediglich 158 Mrd. US-Dollar an Waren und Dienstleistungen nach Lateinamerika. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, daß der Hauptteil des Handelsdefizits von Nordamerika (ca. 50%) aus dem Handel mit Asien resultiert. Dieses Defizit (209 Mrd. US-Dollar) ist immerhin fast so groß wie die gesamten Ausfuhren Lateinamerikas nach Nordamerika (218 Mrd. US-Dollar).
3. Dies verweist wiederum auf den asymmetrischen Charakter der Handelsbeziehungen zwischen den ungleichen Nachbarregionen. Bereits mit dem ersten Blick kann man erkennen, daß das Exportvolumen Lateinamerikas lediglich 37% des Gesamtwertes der Ausfuhren Nordamerikas umfaßt. Daß es sich dabei zugleich um ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis Lateinamerikas gegenüber dem „Koloß im Norden“ handelt, offenbart ein zweiter Blick. Während für den südlichen Teil des amerikanischen Doppelkontinents Nordamerika konkurrenzlos die Hauptausfuhrregion darstellt, rangiert Lateinamerika als Teil der Peripherie in der Rangfolge der Exportgebiete Nordamerikas lediglich an vierter Stelle. Hinzu kommt, daß jedes lateinamerikanische Land wie eine Speiche fest mit dem nordamerikanischen Zentrumspol verkoppelt ist, während die Handelsbeziehungen untereinander nur schwach entwickelt sind. Dies versetzt insonderheit die USA in die äußerst vorteilhafte Position, nicht nur vom ökonomischen Gewicht aller drei Handelsregionen der Zentrumstriade zu profitieren, sondern darüber hinaus auch die lateinamerikanischen Länder gegeneinander ausspielen zu können.
C. Lateinamerikas Reichtum an natürlichen Ressourcen
1. Um die Bedeutung Lateinamerikas in Hinblick auf seine Ressourcen adäquat beurteilen zu können, bieten sich zwei unterschiedliche und sich zugleich ergänzende Perspektiven an. Die erste resultiert aus der historisch gewachsenen und geopolitisch begründeten Bedeutung des Kontinents für die USA, die seit 1898 als regionale Hegemonialmacht agiert und nach fast einem halben Jahrhundert Bipolarität zur einzigen globalen Supermacht aufgestiegen ist. Die zweite Perspektive rückt die weltweit relevanten Ressourcen Lateinamerikas ins Zentrum und versucht diese in Hinblick auf künftige Veränderungen zu bewerten.
2. Aus beiden Perspektiven ist Lateinamerika zunächst in energiepolitischer Hinsicht von großer Bedeutung. Obwohl im Nahen Osten etwa 62% der weltweit nachgewiesenen Erdölreserven lagern, zählt Lateinamerika mit 9,7% der Reserven zusammen mit den GUS-Staaten (10,0%) und Afrika (9,4) immerhin zu den wichtigsten Lager- und Fördergebieten der Welt. Gegenüber den eurasischen und afrikanischen Erdölregionen besitzt Lateinamerika jedoch zwei Vorteile, die bei den künftigen Auseinandersetzungen um die energiepolitische Ausrichtung der Weltwirtschaft besonders ins Gewicht fallen dürften. Zum einen reichen die Lagerbestände bei unveränderten Produktionsmengen ca. 40 Jahre, was zwar nur zur Hälfte der Reichweite der nahöstlichen Vorräte entspricht, aber deutlich über der Zeitdauer der GUS-Region (ca. 25 Jahre) und Afrikas (33 Jahre) liegt. Zum anderen haben die lateinamerikanischen Lieferländer (v.a. Venezuela, Mexiko und Ecuador) eine überproportional große Bedeutung für die Erdölimporte der USA, die jedoch ihre Kehrseite in dem Umstand hat, daß etwa vier Fünftel der lateinamerikanischen Exporte auf den weltgrößten Ölverbraucher (ca. 25% des Weltverbrauchs) entfallen (vgl. Tabelle 2). Innerhalb Lateinamerikas kommt Venezuela, das weltweit über die fünfgrößten Reserven (6,5%) verfügt und mit 70 Jahren Reichweite an den nahöstlichen Durchschnitt heranreicht, zweifellos eine zentrale Rolle in den geo- und energiepolitischen Auseinandersetzungen der Zukunft zu.
Schlüsselt man den Gesamtverbrauch der USA an Erdöl nach Herkunftsregionen auf, dann zeigt sich deutlich, daß allein zwei Drittel aus Quellen gedeckt werden, die alle in der westlichen Hemisphäre liegen. Dabei ist der Eigenanteil der USA fast ebenso hoch wie die Exporte aus den amerikanischen Nachbarländern, unter denen Venezuela noch vor Kanada der wichtigste Lieferant ist. Lediglich ein Drittel ihres Ölbedarfs bestreiten die Vereinigten Staaten mit Importen aus Ländern, die jenseits der eigenen Hemisphäre liegen. An dieser Stelle sollte jedoch nicht vergessen werden, daß die USA vor allem dank ihrer einzigartigen militärischen Stärke und der direkten Präsenz in der wichtigsten Ölregion der Welt (Naher Osten) den weltweiten Erdölhandel kontrollieren, was eine zentrale Säule ihrer Welthegemonie bildet.
Will man außerdem die Bedeutung der Erdölimporte für die USA genauer gewichten, dann muß man darauf verweisen, daß sie immerhin 40% ihrer Energie aus Erdöl gewinnen, während nur je 23% aus Erdgas und Kohle stammen. Der Rest entfällt auf Kernenergie (8%) und erneuerbare Energien (6%).
3. Während beim Erdöl vor allem die Beziehungen zu den USA ins Gewicht fallen, besitzt Lateinamerika bei zahlreichen anderen Ressourcen eine globale Bedeutung, was besonders bei strategisch wichtigen Erzen wie Bauxit, Eisen und Kupfer deutlich wird (vgl. Tabelle 3).
Aber auch bei der Erzeugung wichtiger Agrarprodukte ist die Region weltweit führend. So entfallen allein über 60% der globalen Kaffeeproduktion und etwa die Hälfte der globalen Sojaproduktion auf Lateinamerika. Bei Zitrusfrüchten und Bananen liegt der Anteil bei etwa einem Drittel der Weltproduktion. Zwar werden die meisten Bananen in Indien produziert, der Hauptteil des Exports entfällt jedoch auf die zentralamerikanischen Republiken und Ecuador. Bezeichend für den abhängigen Charakter der Wirtschaftsbeziehungen ist, daß der weltweite Bananenhandel hauptsächlich von US-amerikanischen Agrarkonzernen abgewickelt wird.
Ein weiterer Faktor, bei dem Lateinamerika im Vergleich gegenüber anderen Entwicklungsregionen positiv auffällt, ist seine Effizienz bei der Nutzung der landwirtschaftlichen und energetischen Ressourcen. So hat Lateinamerika die höchste landwirtschaftliche Produktivität und die beste Energieeffizienz außerhalb der Industrieländer. In Hinblick auf eine energiepolitische Wende, die mit dem Klimawandel und der absehbaren Erschöpfung der Erdölvorräte immer dringender wird, besitzt Lateinamerika sogar besonders gute Voraussetzungen.
So gewinnt die Region, die auf mehr als 30% des weltweit verfügbaren Frischwassers zurückgreifen kann, ca. 60% des Elektrizitätsbedarfs aus Wasserkraft. Bei den CO2-Emissionen je US-Dollar Wertschöpfung sind nur die OECD-Staaten besser. Hinsichtlich der Wertschöpfung je Kilogramm Rohöleinheit ist Lateinamerika mit einem Wert von 6,1 US-Dollar sogar Weltspitze (zum Vergleich: OECD = 5,2 und Afrika = 2,8).
In ökologischer Hinsicht sind besonders der hohe Bewaldungsgrad – 47% der Fläche Lateinamerikas sind mit Wald bedeckt – und die große Biodiversität relevant. Allerdings entfallen allein 40% des weltweiten jährlichen Verlustes an Naturwäldern auf Lateinamerika. Lediglich in Afrika südlich der Sahara ist die Entwaldung noch höher. Auch die Artenvielfalt nimmt rapide ab. So waren 2002 über 2.000 Pflanzenarten, 420 Vogelarten und 274 Säugetierarten vom Aussterben bedroht.
4. Sieht man von den kleinen Inselstaaten der Karibik ab, die nicht selten über ein Pro-Kopf-Einkommen zwischen zehn- und zwanzigtausend US-Dollar verfügen, bieten die Länder Lateinamerikas bei dieser wichtigen makro-ökonomischen Kennziffer ein vergleichsweise positives Bild. Mit einer Spannbreite zwischen etwas mehr als 7.000 US-Dollar (Mexiko und Chile) und knapp unter 2000 US-Dollar (Guatemala) liegen die meisten einerseits über dem Durchschnitt aller anderen Entwicklungsregionen, ohne andererseits in den Länderwerten so weit auseinanderzuklaffen, wie es dort zumeist der Fall ist. Ausnahmen sind Paraguay, Honduras, Bolivien, Nicaragua und Haiti, deren Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1.300 und 500 US-Dollar liegt. Die Kehrseite der Medaille zeigt sich jedoch darin, daß die soziale Ungleichheit innerhalb der Länder Lateinamerikas weltweit am höchsten ist.
D. Zusammenfassung
1. Die weltwirtschaftliche Bedeutung Lateinamerikas ergibt sich vor allem aus zwei Faktoren: zum einen aus seinen natürlichen Ressourcen und Möglichkeiten, zum anderen aus seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu den USA, dem derzeitigen Welthegemon. Seit seiner Eingliederung in das kapitalistische Weltsystem hat sich die Stellung Lateinamerikas in der internationalen Arbeitsteilung nicht grundsätzlich verändert. Ähnlich wie während der etwa 300jährigen Kolonialherrschaft ist die Region noch heute in erster Linie Lieferant für Erzeugnisse aus dem Agrar- und Bergbausektor (einschließlich Erdöl und -gas). Neben Afrika, dem Nahen Osten und Osteuropa ist Lateinamerika Teil der weltwirtschaftlichen Peripherie – jene Regionen, die außerhalb der Zentrumtriade liegen. Im Vergleich zur Kolonialzeit haben sich jedoch zwei Grundmerkmale der Zugehörigkeit zur Peripherie verändert: zum ersten haben sich die Länder der Region inzwischen zum überwiegenden Teil – und davon wiederum die meisten bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts – die Eigenstaatlichkeit erkämpft; zum zweiten erfolgt ihre An- und Einbindung ins Weltsystem nicht mehr über Europa, sondern über die USA.
2. Für die USA ist Lateinamerika sowohl in wirtschaftlicher als auch geopolitischer Hinsicht von grundlegender Bedeutung. Ähnlich wie Zentralasien im Falle der Sowjetunion bzw. Rußlands bilden die angrenzenden Gebiete Lateinamerikas den „weichen Unterleib“ der inzwischen einzigen, globalen „Supermacht“. Schon allein aufgrund seiner geographischen Nähe zu den USA geriet die Region schon frühzeitig ins Visier der territorialen Expansion und der imperialistischen Gelüste des „Koloß im Norden“, der seine südlichen Nachbarn zum „Hinterhof“ degradiert sehen wollte. Der daraus resultierende unvermeidliche Widerstand der lateinamerikanischen Völker war für die USA zugleich eine permanente, als unmittelbare Bedrohung wahrgenommene Quelle „imperialer Besorgnis“. Diese konnte sich im Verlaufe der 200jährigen Geschichte der Interamerikanischen Beziehungen ganz unterschiedlich äußern. Derzeit reicht der Spannungsbogen von der „privilegierten Einbindung“ des sich vormals oft antiimperialistisch gebärdenden Mexikos in die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) bis hin zur Embargo- und Blockadepolitik gegen das revolutionäre Kuba. Die unmittelbare Nachbarschaft zu den USA und die lange Tradition antiimperialistischen Widerstandes verschaffen Lateinamerika einerseits ein enormes internationales Einflußpotential, das weit über seiner rein weltökonomischen Bedeutung liegt, andererseits engen die einseitigen, wenig diversifizierten Wirtschaftsbeziehungen zu den USA sowie deren übermächtige politische und militärische Präsenz gegenüber den Ländern südlich des Rio Grande die Spielräume für diese erheblich ein. Im Zuge der jüngsten, mit Verschiebungen nach links verbundenen Abwendung vom „Washington Consensus“ ergeben sich allerdings bessere Möglichkeiten, die Spielräume gegenüber den USA auszuweiten. Inwiefern diese Chancen genutzt werden können, hängt einerseits vom realen Widerstand der neuen sozialen Bewegungen, andererseits von der regionalen Bündelung staatlicher Politik im Sinne linker Alternativen ab.
3. Dies wirft die Frage auf, inwiefern Lateinamerika als Region mit gemeinsamen Spezifika anzusehen oder gar als solche aufzutreten imstande ist. Einerseits konfigurieren Geschichte, Kultur und Stellung im Weltsystem Gemeinsamkeiten, wie sie sonst kaum eine andere Weltregion aufzuweisen hat. Andererseits haben gerade die beiden wichtigsten Länder der Region – Mexiko und Brasilien – aus jeweils unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Konsequenzen eine Sonderstellung erlangt, die den immer schon vorhandenen Unterschieden innerhalb Lateinamerikas ein größeres Gewicht und eine neue Dynamik verleihen könnten. Zumindestens wirtschafts- und staatspolitisch hat sich Mexiko fast alternativlos in die Arme seines übermächtigen Nachbarn im Norden begeben, während Brasilien ein regionales und internationales Gewicht erlangt hat, das bei seinen lateinamerikanischen Nachbarn neben Hoffnungen auch Ängste schürt. Die künftige Entwicklung wird in starkem Maße davon abhängen, ob und wie Mexiko eine Rückwendung nach Süden gelingt und in welche Richtung Brasilien sein riesiges Potential lenkt: hin zu einer auf Gleichberechtigung basierenden Integration Lateinamerikas oder hin zum egoistisch motivierten Ausbau seiner zweifellos schon jetzt gewachsenen Sonderstellung. In dieser Konstellation kann die „bolivarianische“ Politik der ALBA-Mitglieder (Venezuela, Kuba, Bolivien, Ecuador, Nicaragua) mehr als nur zum Zünglein an der Waage werden.