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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Galeano, Eduardo: „Erinnerung an das Feuer“ (1982-1986)

Gonzalo Company | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

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Rezension_Galeano-foto-Quetzal-Redaktion_gcIn Amerika lernt man, dass die Geschichte das ist, was in den Handbüchern steht. Die Politik wird nur von den Politikern gemacht, und das Entwicklungsproblem sei eine Frage der Zeit, des Klimas, sogar des Blutes. Wir Lateinamerikaner, Amerikaner zweiter Wahl, wurden dazu verurteilt, unser eigenes alltägliches Scheitern nicht zu verstehen. Wir Amerikaner warten darauf, endlich Zugang zur Geschichte zu haben, ähnlich wie der Mitarbeiter eines Büros, der am Ende des Jahres hoffnungsvoll auf die versprochene Beförderung wartet. Laut unserer Führerschaft sollen die Leute einfach darauf warten, dass sie von der Geschichte schließlich anerkannt werden. Die Geschichte der Gelehrten besteht aus einer reinen Anhäufung von Daten. Doch Eduardo Galeano beweist, dass sie nicht deshalb langweilig ist, sondern weil sie uns fremd erscheint. Was passiert denn, wenn wir uns wirklich fragen, wo die Menschen sind, die noch nicht in die Geschichte eingingen? Ist es überhaupt möglich, außerhalb der Geschichte zu sein?

Dies sind Fragen, deren Antwort in Galeanos Buch Erinnerung an das Feuer zu finden ist. Doch sind diese teilweise zu finden, denn geschriebene Geschichte begrenzt sich nicht auf die Worte, mit denen sie erzählt wird. Bereits nach der Lektüre der ersten Texte werden die Leser und Leserinnen merken, dass die Geschichte nicht nur spannend ist, sondern auch breiter, vielfältiger als die gelernte. Er schreibe andere Bücher. Entgegen der Behauptung, die Geschichte sei Schnee von gestern, geht es in Erinnerung an das Feuer um das Gegenteil, denn die Geschichte kann nicht von der Gegenwart getrennt werden.

Erinnerung an das Feuer bildet eine Trilogie (I. Geburten, II. Gesichter und Masken III. Das Jahrhundert des Sturms) die zwischen 1982 und 1986 erschien. Sie beginnt mit den ersten Stimmen (die Mythen: Die Sonne, der Mond, die Sterne, das Feuer oder der Wind sowie die Moskitos, das Gewissen oder das Lachen u.v.a.) und der Ankunft der Europäer. Die Plünderung, die nicht nur die Kolonialzeit, sondern auch die folgenden Jahrhunderte charakterisiert, ist bis in die Gegenwart voller Kraft. Es wird über Ungerechtigkeiten und die zahlreichen revolutionären Bewegungen erzählt, und über die Änderungsversuche und Aufstände, die innerhalb von fünf Jahrhunderten stattfanden.

Der Uruguayer Galeano fragt sich, was die Menschen gerade machen, wenn diese Geschichte spielt. Denn er findet und verbreitet eine andere Geschichte; er findet tausend Geschichten und teilt sie mit den Lesern. Dies ist vielleicht die neue Entdeckung Amerikas – die Entdeckung einer amerikanischen Geschichte, in der es darum geht, dass die Amerikaner erkennen: Die Geschichte wurde und wird von den ganz normalen Menschen im Alltag gemacht.

Anfang des XX. Jahrhundert entschieden sich die mexikanischen Künstler Rivera, Orozco und Siqueiros für das Wandbild und gegen die Staffelei. Damit wurden plötzlich die Armen, die Verdammten dieser Erde zu Hauptpersonen. Die Kunst Lateinamerikas begann, die unsichtbare Geschichte darzustellen. Obwohl Galeanos Trilogie die Geschichte Amerikas auf etwa 1000 Seiten erzählt, könnte man sagen, dass jede einzelne Seite und jeder kleine Text für die Gesamtheit stehen könnte. Eduardo Galeano schreibt von normalen Menschen, die außergewöhnliche Dinge machen und von außergewöhnlichen Menschen, die normale Dinge machen. Denn die offizielle Geschichte wird von unsichtbaren Menschen, deren Geschichte bis dahin als bedeutungslose galt, bevölkert. Es wird erzählt von Elend und Verrat, von Korruption und systematischer Plünderung, von den Versprechungen von Unabhängigkeit und Landesverrat, aber auch von der Solidarität und dem Altruismus von Träumern und Träumerinnen, die die Waffen dem Bett vorzogen, das Bett dem Präsidentensessel, den Bau von Schulen der Errichtung von Gefängnissen, die gemeinsame Niederlage mit Freunden dem gemeinsamen Sieg mit Feinden, die Versammlung dem Trust, die Kreativität der Nachahmung, den Kampf gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt, dem Beten für die ewige Rettung im Himmel, die Emanzipation der Unterwerfung. So wird verständlich, wieso diese Geschichte Historiker nicht interessierte.

Laut dem peruanischen Schriftstellers Manuel Scorza vergeht die Geschichte Amerikas ähnlich wie die Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst, Winter und Massenmord. Wenn man das Datum, das den Titel jedes Textes begleitet, nicht betrachtet, wird man unsicher, ob die geschilderten Ereignisse im XVII. Jahrhundert oder vorgestern stattfanden. Zum Beispiel beginnt die Teufelskreissymphonie für arme Länder; in sechs Sätzen mit Henkern, Folterern, Inquisitoren und Spitzeln, die nötig sind, damit die Arbeitskraft gehorsamer und billiger wird. Die Länder nehmen Kredite auf, um sich zu versorgen und auszurüsten. Um die Zinsen dieser Kredite zahlen zu können, benötigen sie noch mehr Kredite und die Erhöhung der Exporte. Dafür müssen die Produktionskosten gesenkt werden. Und wie können die Produktionskosten gesenkt werden? Mit Henkern, Folterern, Inquisitoren und Spitzeln. Oder betrachten wir den Kreislauf des Menschenhandels, in dem der unvergleichliche Rum aus Massachusetts an Afrikas Küsten gegen Sklaven ausgetauscht wurde. Die Sklaven, Eigentum mit einer Lebensdauer von zehn Jahren, werden sich in den Antillen in Melasse verwandeln, bevor diese Melasse in den Schnapsbrennereien von Massachusetts gegen Rum ausgetauscht wird, der erst nach zehn Jahren am besten schmeckt.

Mexiko-Chichen-Itza1-foto-Quetzal-Redaktion_Pablo_ArocaOffiziell 1492 geboren mit einem völlig fremden Anfang, der eher einem Ende gleicht, wird Amerika kontinuierlich wiedergeboren. Seitdem versucht es, die Normalität wieder zu erreichen. Das erste, was man damals über die neugeborenen Amerikaner sagte, war, dass sie keine Menschen seien. Die Entmenschlichung wurde für notwendig gehalten, um den Massenmord legitimieren zu können. Die ersten Amerikaner wurden als Fremde an einem fremden Ort geboren. Verboten wurden ihre Sprachen, die Musik und Musikinstrumente, die traditionellen Tänze und Kostüme, und sogar das Blut. Denn der Genozid (die Vernichtung der Menschen) wird vom Ethnozid (die Vernichtung der Kultur) begleitet. Doch dies beschränkt sich leider nicht auf das XV. Jahrhundert, denn in den drei Bänden kann man hunderte dokumentierte Geschichten lesen, die darüber berichten. „Indianer“ zu sein, ist es nicht nur gefährlich, es ist auch eine Schande. In den USA nahm das Rote Kreuz kein Blut von Schwarzen, um zu vermeiden, dass es durch Transfusionen zu einer Mischung des Bluts kommt. Aus diesem Grund schickt seine Armee exemplarisch die Schwarzen nach Vietnam, Nikaragua, Kuba oder Korea.

In Erinnerung an das Feuer erfährt man von Menschen, deren einzige Schuld darin besteht, Regionen zu bewohnen, die reich an Erdöl, Silber, Kupfer oder Humus sind. In den großen Städten müssen diejenigen, die in Favelas und Villas Miseria leben, ihre Behausungen räumen, weil die Immobilienwerte der Grundstücke gestiegen sind. Gleiches geschieht auch derzeit aufgrund des wachsenden Bedarfs an Ackerland in mehreren demokratischen Ländern.

Nach jahrhundertelangen Kämpfen gegen die Krone bezahlten die neugeborenen Länder des sogenannten Lateinamerikas für die Unabhängigkeit einen hohen Preis. Denn die großen Mächte wollten keinen Konkurrenten. Das divide et impera setzte sich durch. Damit endete nicht bloß Bolivars Traum von einem vereinigten Amerika, es kam auch zur Teilung der neugeborenen Bundesrepublik Mittelamerika, deren Grenzen sich explosionsartig vermehrten – Lateinamerika wurde organisiert, sich einander zu entfremden.

Die Guillotine war das erste, was nach der französischen Revolution nach Amerika kam; es wurde wieder einmal deutlich, dass der Schein trog. Trotzdem ist die Seuche der Freiheit nicht einzudämmen. Die Revolutionäre in den verschiedensten Regionen des Kontinents machten deutlich, dass sie nicht nur einen anderen Tyrannen einsetzen und die Tyrannei selbst unangetastet lassen wollten. Im Gegenteil sollte die Unabhängigkeit nicht das letzte, sondern das erste Ziel einer Revolution sein. Die lateinamerikanischen Revolutionäre wussten bereits, dass der Begriff Unabhängigkeit noch nicht viel mehr als Handelsfreiheit für reiche Kreolen bedeutete. Dies zeigte sich noch hundert Jahre später, als anlässlich des hundertsten Jahrestages der Unabhängigkeit Mexikos verfügt wurde, dass die Indios die Hauptstraßen der Stadt nicht betreten, noch sich auf öffentlichen Plätzen hinsetzen dürften. Gleichzeitig wurden den großen Konzernen die Abbaulizenzen für Kupfer und Erdöl und die Landnutzungsrechte um weitere 99 Jahre verlängert.

Argentinien-Polizei-Sieg-Foto-Soledad Biasatti-Quetzal RedaktionWie gesagt, die eigenständige Entwicklung des Kontinents wurde bereits von den kolonialen Mächten verhindert, weil die Rolle der Kolonien sich auf die Erzeugung von Rohstoffen beschränken sollte. Nach den Unabhängigkeitserklärungen änderte sich daran nichts. Gegenwärtig, während in vielen Ländern der 200. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung gefeiert wird, werden die Exporte immer noch auf Rohstoffe wie z.B. Metalle, Soja, Erdöl, Obst, Fleisch begrenzt und verarbeitete Produkte eingeführt. Die Unabhängigkeitsprozesse verwandelten sich in neue Abhängigkeiten – und die Freiheit in Handelsfreiheit. Da die Minister für Außenbeziehungen mit dem Abschluss von Handelsverträgen mit den Vereinigten Staaten, England, Frankreich oder Deutschland beschäftigt waren, kümmerten sich die Kriegs- und Verteidigungsminister um die Beziehungen mit den Nachbarn.

Doch wenn die Mächtigen glauben, dass die Völker sich an den Gehorsam gewohnt haben, tauchen die Aufstände auf. Es gefällt den Mächtigen nicht, wenn die Arbeiter und Arbeiterinnen in den Streik treten, denn sie meinen, eine Unterbrechung der Produktionskette könne nicht hingenommen werden. Dann werden Ultimaten statt Vereinbarungen aufgesetzt.

Nach dieser Logik ist die Nichtanerkennung des Privateigentums ein Verbrechen, und die Unternehmen fühlen sich schwer beleidigt, wenn sie Steuern zahlen sollen. Beide Versuche, die sowohl gegen die Naturgesetze als auch gegen den Willen Gottes verstoßen würden, werden exemplarisch bestraft. Aus diesem Grund werden Armeen, die nie nach außen hin gewonnen und nach ihnen hin verloren haben, gerufen, um die Lage zu normalisieren. So wird die vom Volk bedrohte Demokratie gerettet. In diesem Sinne erhält der Patriotismus eine besondere Bedeutung. Während die Mächtigen Streikende und Rebellen der Verbreitung von internationalistischen Ideen beschuldigen, unterschreiben sie Handelsverträge mit großen internationalen Konzernen, die diese von Steuern befreien. Mit den Namen gewisser Patrioten werden überall tausende wichtige Straßen benannt.

Doch Amerika ist ähnlich wie das gelöschte Feuer, das sich hartnäckig immer wieder entzündet. Anscheinend entsteht das Feuer aus dem Nichts. Erinnerung an das Feuer belebt den Gestank der Verliese, der Müllgrube und der Massengräber, der Kieselsäure der Zinn- und Silberbergwerke wieder, der sich in den Palästen in Versailles, Bogotá, Washington, La Paz oder Amsterdam festsetzt. Indem es Brücken zwischen den getrennten Teilen der Geschichte baut und diese so zurückgewinnt, stellt Erinnerung an das Feuer einen Versuch dar, den Kurs der bereits erfahrenen und nun erlebten Geschichte endlich verändern zu können.

Bildquellen: [1] Buchcover; [2] Pablo Aroca; [3] Soledad Biasatti

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