Ausgerechnet 1994, das Jahr, in dem die Aufstände und Hilferufe der Indigenas in Chiapas internationale Resonanz erreichen, erscheint die Erzählung von Guido Schmidt: Die Soldaten der Jungfrau. Eine Erzählung aus dem Süden Mexikos.
Guido Schmidts Erzählung handelt von der völkerübergreifend gegründeten Vereinigung der Indianer von Chiapas, deren Besitz, Glauben, Freiheit und Ehre geschützt werden sollen. Eine Erzählung, von der man nicht behaupten kann, daß sie nur auf Fiktivem oder nur auf realen Fakten basiert. Reale Namen wie Bernal Diaz del Castillo oder Pedro de Alvarado werden gegenüber irrealen Namen erwähnt. Es handelt sich um einen indianischen Aufstand, der vielleicht, laut den in der Erzählung vorhandenen Zeitangaben, auf den Tzeltalaufstand von 1712 zurückzuführen ist.
In dieser Erzählung werden verschiedene Völker von Chiapas Zeuge vielfacher Heiligenerscheinungen. Sie entschließen sich zur Verehrung dieser „neuen“ Götter, was ihnen zum Verhängnis wird, weil sie von den in der Region angesiedelten Spaniern, vor allem dem Bischof Alvarez de Toledo, der Götzenverehrung, des Aberglaubens und der Ketzerei beschuldigt werden. Das Rebellenheer die „Soldaten der Jungfrau“ wird gegründet, nachdem die Indianer sich entschließen, den Voraussagen der Götter folgend, ein neues Mayab und eine neue Religion ins Leben zu rufen: Ein neues Mayab erstand in den Visionen des jungen Mannes, ein Mayab, tief verwurzelt im alten Glauben, vereint im Kampf gegen die kastilischen Eindringlinge. Der Kampf der „Evangelisierung“ und Landeroberung entschied sich, wie öfters in der Geschichte des Neuen Kontinents, zum Nachteil der Indianer. Szenen, die dem Leser durchaus bekannt sind, bleiben ihm dieses Mal auch nicht vorenthalten: Jetzt wird mit Feuer und Schwert gepredigt! […] Wie die biblischen Plagen fielen die Spanier in die indianischen Dörfer des Berglands ein. Sie spießten auf und erschossen, was ihren Weg kreuzte: Kinder, Mädchen, Frauen, Alte. […] Es war der gewaltigste indianische Kriegszug seit der Ankunft der Spanier. […] Am Morgen des vierten Tages der Schlacht von Huixtan existierte das Heer der »Soldaten der Jungfrau« nicht mehr.
Die Doppelmoral, die für die spanischen Priester dieser Zeit „charakteristisch“ war, wird zügig dargestellt, dennoch bleiben die Figuren in ihrer Gesamtcharakterisierung eher blaß, matt und glatt. Zwei Hauptfiguren, Sebastian und Pedro Canek, hätten verdient, sich etwas mehr ausbreiten zu können. Vor allem, wenn man bedenkt, daß Themen in der Erzählung die indianische Mythologie und die Zirkularität in ihrer Weltanschauung und ihrem Weltverständnis sind. Der Leser gewinnt nicht den Eindruck, daß es sich hier um etwas Wundersames handelt. Die Darstellung der Zeit, in der noch Wunder geschehen und die Leute daran glauben, geht durch die lineare Erzählweise zum größten Teil verloren. Es liegt nicht daran, daß man in einer Erzählung weniger Platz als in einem Roman hat, sondern in der verfehlten Erzählstrategie. Dem Leser kommt die Erzählung zuweilen wie ein Bericht und nicht wie eine künstlerische Darlegung eines „Geschehens“ vor. Obwohl das Thema faszinierend sein kann, wird der Leser leider von diesem nicht gefesselt. Einen Versuch ist es immer wert, daher die ermutigende Stimme an Sebastian gerichtet: Der Weg ist das Ziel. Immer und alle Zeit.
Trotz allem besteht die Möglichkeit, für den in solchen Themen unerfahrenen Leser, einen Eindruck zu gewinnen, warum solche indianischen Aufstände Zustandekommen und daß die scheinbar aktuelle Situation der Indianer nicht von heute und auch nicht von gestern ist. Daß man in der Erzählung verschiedene Passagen findet, zu denen sich eine Parallelität zur heutigen Situation im Süden Mexikos herstellen läßt, sagt nur aus, daß wir es mit einer sich durch Jahrhunderte geschleppten Ungerechtigkeit gegenüber den unterschiedlichen indianischen Bevölkerungen zu tun haben, welche sich nicht nur auf ein Land beschränken läßt, sondern fast überall gegenwärtig ist. Es gibt nichts, was wir den Menschen im westlichen Indien zu sagen vermögen. Sie wissen es bereits […], dies sind die an den Abbé Jaime de Zumarraga gerichteten Worte eines Priesters. Sie zeigen uns, daß bereits damals – wenn auch nur in der Erzählung -ein Verständnisversuch für die freie Entscheidung der Völker bestand. Warum denn nicht dies respektieren wollen? Die Gruppen, die einst benachteiligt waren, sind es noch heute. Wie lange noch, fragt man sich ständig, vor allem wenn, wie neulich bewiesen, die Problematik längst nicht überstanden ist. Zwei, drei oder mehrere Kulturen vermischten sich, im Züge der Zeit entstanden Synkretismus, eine neue Lebensweise und vor allem, ein neues Land. Ein Land, das nicht mehr das war, was ihre Einwohner früher kannten aber gleichzeitig ein Land, welches nicht mehr genau wußte wohin es gehen sollte. Man möchte hoffen, daß wir es schon wissen, denn wenn nicht, werden keine „Soldaten irgendeiner Jungfrau“ uns helfen können.
Guido Schmidt: Die Soldaten der Jungfrau.-Frankfurt/M.: Simader 1994