Europa entdeckt die Chachapoyas wieder. Nachdem jahrzehntelang das Interesse der Peru-Touristen auf die Inka und Machu Picchu, mitunter noch auf die Linien von Nazca konzentriert war, tauchen immer häufiger die Orte der „Wolkenkrieger“ bei den Reisezielen auf. Der QUETZAL hat sich aus diesem Grund auf die Suche nach einem Buch begeben, um den Chachapoyas wissenschaftlich näher zu kommen. Warum die Wahl ausgerechnet auf Peter Lerches „Häuptlingstum Jalca“ fiel, liegt daran, dass es für viele unserer Leser eine Bestandsaufnahme darstellen dürfte, einen Startpunkt förmlich, für den Verfasser des Buches jedoch eine Lebensentscheidung. Lerche jedenfalls siedelte nach Peru über. Er lebt seit nunmehr 25 Jahren in der Provinz Chachapoyas. 2007 ist er sogar als Bürgermeister der gleichnamigen Stadt gewählt worden.
Die ehemalige Kultur der Chachapoyas erstreckte sich im Norden Perus – näherungsweise zwischen den heutigen Städten Bagua im Norden, Pías im Süden, Pachiza im Osten und Moyobamba im Nordosten. Es sind vor allem die mystischen Wohnorte der „Wolkenkrieger“ und zwei spezielle Charakteristiken der präkolumbischen Chachapoyas-Kultur, die bis heute die Phantasien vieler Hobbyarchäologen oder Rucksacktouristen beflügeln: zum einen ihre (in alten Dokumenten) allgemein als hell bezeichnete Hautfarbe (S. 48) und zum anderen ihre Keramik, die Ähnlichkeit mit der aus dem Amazonas- bzw. Orinoco-Gebiet sowie aus Ecuador und Kolumbien (S.32) aufweist. Deshalb kursieren wildeste Spekulationen über die Wurzeln dieses Volkes. Der Archäologe Peter Lerche beteiligt sich jedoch nicht an diesen Mutmaßungen. In dem Buch „Häuptlingstum Jalca. Bevölkerung und Ressourcen bei den vorspanischen Chachapoya, Peru“ versucht er vielmehr auf sehr sachliche Weise, den Wissensstand der 1980er Jahre über diese mysteriöse Kultur zusammenzufassen.
Er hat dies sehr gründlich getan. Alle bekannten Forscher zu diesem Volk wie Gene Savoy, Rogger Ravines, Inge Schjellerup, Ruth Shady, Donald Thompson oder Waldemar Espinoza Sorianos – um die wichtigsten zu nennen – tauchen in der Bibliographie auf. Und trotzdem erfährt man als Leser, dass auch diese Studie (aus dem Jahr 1986) lediglich eine Indiziensuche darstellt und keine definitiven Antworten auf die vielen Fragen zu den Chachapoyas geben kann. Denn aufgrund der spärlichen schriftlichen Dokumentation aus der Kolonialzeit und fehlender finanzieller wie personeller Ausstattung des Autors für umfangreiche Grabungen, „basiert die Arbeit […] vor allem auf archäologischen Oberflächenbegehungen“ (S. 8).
Lerche nähert sich seinem Untersuchungsthema systematisch durch eine geographische Analyse über Großlandschaften, Böden, Klima und Vegetation an. Das erleichtert es dem (gegebenenfalls nicht vorgebildeten) Leser, sich mit den Spezifika des (ehemaligen) Siedlungsgebietes der Chachapoyas vertraut zu machen. Besonderheiten der Keramik und Architektur („faßartig gekrümmte Außenmauern“ mit Bandmustern, S. 35) runden die Vermittlung der Grundkenntnisse ab.
Viele Befunde bleiben jedoch äußerst unsicher, etwa jene zur Bevölkerungszahl. Eher vage Schätzungen gehen davon aus, dass im neunten Jahrhundert auf dem knapp 44.000 Quadratkilometer großen Territorium (ungefähr so groß wie Niedersachsen) etwa 22.000 Menschen gelebt hätten (S. 56). Deren Organisationsstruktur in „Dorfföderationen“ mit vielen regionalen Häuptlingen in so genannten „Häuptlingstümern“ oder curacazgos scheint hingegen besser bekannt zu sein. Ebenso steht wohl fest, dass die Chachapoyas nach der Erstansiedlung in dem genannten Gebiet um 500 AD, evt. auch 300 Jahre früher, lange Zeit ihre Unabhängigkeit wahren konnten. Im Verteidigungsfall schlossen sich die einzelnen „Häuptlingstümer“ temporär zusammen – zum Beispiel gegen das Expansionsstreben der Huari um 750/800 AD.
Hinsichtlich der ethnischen Zusammensetzung der Wolkenmenschen spricht neben der erwähnten, eher ungewissen Herkunft der ersten Siedlungsgruppen aus Ecuador (und wahrscheinlich Kolumbien) sowie der noch ungeklärten Immigration aus dem Amazonas-/Orinoco-Gebiet viel für eine Koexistenz der Chachapoyas (als Überbegriff) mit den Kuélaps und mit vier weiteren Ethnien: der Abiseo-, der Chipuríc– und der Revash-Gruppe sowie den vor den Inkas geflüchteten Chancas, die sich allesamt zwischen etwa 800 und 1200 AD auf dem Territorium ansiedelten. Aufgrund des beschwerlichen Zugangs zu dieser Region vermittelt sich für Lerche daher „der Eindruck, daß es sich bei dem geographischen Bereich östlich des Marañon um ein Rückzugsgebiet heterogener ethnischer Gruppen gehandelt hat, die sich, unter Beibehaltung eigener Rest-Traditionen, kulturell annäherten, politisch aber getrennte autonome Einheiten bildeten, die im Falle einer äußeren Bedrohung sich dann zu größeren politischen Verbänden zusammenschlossen“ (S. 61).
Im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts eroberten die Inka das Gebiet der Chachapoyas, teils nach heftigen Gefechten. Immer wieder keimte Widerstand auf. Die neuen Machthaber beschränkten sich deshalb weitgehend darauf, (militärische) Stützpunkte für die Kontrolle des Handels und zur Organisation der Verwaltung zu errichten. Für die ethnische Zusammensetzung hatte die Eroberung durch die Inka jedoch umfassende Folgen, da sie ihr zu Pazifizierungszwecken bewährtes System der (Massen-)Umsiedlungen auch bei den Chachapoyas anwandten. Gruppen aus den Küstenregionen und Zentralanden, evt. sogar aus Bolivien besiedelten nunmehr weite Teile des Territoriums. Die Chachapoyas wiederum wurden nach Quito, Cajamarca, Huánuco, Cusco, Huacho oder Trujillo geschickt.
Sehr grobe Bevölkerungsschätzungen gehen für das Jahr 1530 von mindestens 240.000 (S. 70) oder 290.000 (S. 72) bis maximal 525.000 Bewohnern auf dem Gebiet der Chachapoyas aus. In den folgenden 20 Jahren sank als Konsequenz der spanischen conquista und den eingeschleppten Krankheiten die Bevölkerungszahl möglicherweise auf ein Sechstel. 1754 erreichte sie ihren tiefsten Stand mit 9760 Menschen (S. 84).
Diesem generellen Teil über die Chachapoyas folgt in der zweiten Hälfte des Buches eine detaillierte Analyse des „Häuptlingstums“ Jalca. Allerdings verliert sich Lerche hier im Detail. Es wiederholen sich die Klassifizierungen der ökologischen Zonen für das Gesamtterritorium der Chachapoyas – nun angewandt auf lokaler/regionaler Ebene. Wer kein Interesse an der Landwirtschaft besitzt, kann viele der zu akribisch gehaltenen Kapitel überspringen. Die anschließenden archäologischen Untersuchungen sind wiederum sehr fachspezifisch für Altertumsforscher.
In der Zusammenfassung zu den Siedlungszentren (llajta) der Chachapoyas (im Gebiet Jalca) ergibt sich die (naheliegende) Erklärung, dass sie ihre Wohnorte entsprechend des landwirtschaftlichen Produktionspotentials (Mais, Kartoffeln), noch mehr jedoch mit Blick auf deren Lagermöglichkeiten wählten (S. 169). Mitunter wurden Ansiedlungen auch nach militärischen Gesichtspunkten ausgesucht, etwa auf emporragenden Felsen oder auf hohen Bergkuppen. Dies ermöglichte im Gefahrenfall die Kommunikation durch Lichtsignale untereinander (S. 172) und erforderte eine gewisse „Staatsplanung“, damit diese in agrarisch ungünstiger Lage befindlichen Orte versorgt und „subventioniert“ werden konnten.
Irreführende Angaben macht Lerche darüber, wie, d.h. in welcher Organisationsform die Landwirtschaft betrieben wurde. Er betont nämlich mehrfach individuellen Besitz, etwa dass im frontera-Sektor „jedem Haushalt individuell durchschnittlich 0,8 ha zustanden“, dass im ichoc-Sektor „jedem Haushalt entsprechend 1,3 ha Maisanbaufläche zur Verfügung gestanden haben müßte“ (S. 181, Hervorhebung durch den Verf.) oder dass der Pflanzenbau „von individuell-nuklearfamiliären Bedürfnissen bestimmt war“ (S. 192, Hervorhebungen durch den Verf.). Denn den Nachweis über eine individuelle Nutzung im Gegensatz zum ayni (traditionelle Form der Arbeit in gegenseitiger Hilfe) schon zu Zeiten der Chachapoyas bleibt er schuldig, wobei ein gemeinsames Vorgehen allein wegen der aufwendigen Anlage und Pflege der Terrassen nahe liegt. Hinsichtlich der Besitzstruktur wäre es deshalb in der Formulierung eindeutiger gewesen, von Gemeindeland zu schreiben, wobei die Erträge aus der Nutzung gewisser Flächen einzelnen Familien zustanden (usus fructus).
Nicht betroffen von diesem Argument ist im Übrigen die (von Lerche postulierte) Fokussierung auf eine Mikro-Umverteilung innerhalb der jeweiligen Chachapoyas-Häuptlingstümer, die ein „Kontrollbeauftragter“ über die entsprechenden Speicherzentren (llajtas) der landwirtschaftlichen Produkte ausübte.
Für andere Arbeiten vorbildhaft sind Lerches Untersuchungen zur Ressourcenverlagerung nach der Eroberung durch die Inka. Durch die nun eindeutig organisierte Form der Landbewirtschaftung mit „erheblicher Tendenz zur Monokultur hin“ (vermehrter Kartoffelanbau) wurde es notwendig, die zonalen Anbaugrenzen stark zu erweitern. Entsprechend erhöhte sich der Arbeitsaufwand der ansässigen Bevölkerung. Es ist dieses Phänomen, das laut Lerche das enorme Widerstandspotential der Chachapoyas gegen die Inka erklären könnte (S. 189). Durch den organisierten Charakter der landwirtschaftlichen Produktion bestand eine weitere wichtige Veränderung unter den Inka darin, zentral eine Makro-Umverteilung sowohl von Nutzflächen als auch von Erträgen innerhalb des Landes zu steuern.
Alles in allem gibt das Buch eine gute Einführung über die Kultur der Chachapoyas. Sehr positiv fällt dessen Übersichtlichkeit auf. Durch alle Kapitel hindurch gestaltet Lerche seine Analysen durch die Beigabe von Karten, Plänen und Grafiken sehr leserfreundlich.
Kritisch ist zu bemerken, dass Lerche dem Leser zum Teil zu viel abverlangt. So bedarf es einer überdurchschnittlichen Dreisprachigkeit, um dem Textfluss bei den englischen und spanischen Zitaten, die nicht übersetzt wurden, zu folgen. Zudem fragt sich der Rezipient des Öfteren, was die Anhäufung von detaillierten Daten belegen oder induzieren soll, weil Lerche deren Bedeutung für den weiteren Text nicht erläutert (Vgl. unter vielen das Kapitel über das natürliche Ressourcenpotential ab S. 42 ff. oder die ökologischen Zonen ab S. 102ff.). Da die Analyse zum Teil sehr deskriptiv ausfällt und einer typisch ethnologischen Arbeit entspricht, wird (und wirkt) die Lektüre streckenweise eintönig.
Nichtsdestotrotz ist das Buch allen Chachapoyas-Begeisterten als Einstieg für neuere Forschungen (oder zur Reiseplanung an mystische Orte!?) sehr zu empfehlen. Allerdings scheint es kaum noch Exemplare im Buchhandel zu geben. Am ehestens wird man wohl in den Universitätsbibliotheken oder in einem Antiquariat fündig.
Peter Lerche
Häuptlingstum Jalca.
Bevölkerung und Ressourcen bei den
vorspanischen Chachapoya, Peru,
Dietrich Reimer Verlag Berlin, 1986
Bildquellen: Quetzal-Redaktion, ssc