Bereits unmittelbar nach seinem Regierungsantritt am 1.12.94 sah sich der mexikanische Präsident Zedillo mit einer der schwersten Krisen in der neueren Geschichte des Landes konfrontiert: fast zeitgleich mit den militärischen Bewegungen in Chiapas stürzte der plötzliche Kursverfall des Peso am 20.12.94 das Land in eine Wirtschaftskrise. Zur politischen Instabilität gesellte sich die ökonomische. Auch wenn die Krise ihre Anfänge in der Amtszeit seines Vorgängers Saunas hatte, kommt doch der Politik Zedillos eine entscheidende Rolle für den weiteren Gang der Ereignisse zu. Letztlich geht es um die Frage, ob der Ausweg aus der Krise auf demokratischem oder auf autoritärem Weg gesucht wird.
Mit der Entscheidung des Präsidenten vom 9. Februar diesen Jahres sind offensichtlich in Los Pinos (Sitz des Präsidenten) die Würfel zugunsten einer autoritären Lösung gefallen. In einer über alle Medien verbreiteten Rede gab Zedillo mit der mutmaßlichen Identität der Führungsgruppe des EZLN zugleich den Befehl zu ihrer Festnahme bekannt. Die apodiktische Feststellung des Präsidenten, daß die zapatistische Führung nicht-indianisch und nicht-chiapatekisch sei, gründet sich allein auf die bislang unbewiesene Behauptung, daß die bekanntgegebenen Namen mit der EZLN-Führung identisch sind, was aber von den Zapatisten auch sofort dementiert wurde und den bisher bekanntgewordenen Tatsachen widerspricht.
Die mexikanische Armee erhielt den Auftrag, in das von den Zapatisten kontrollierte Gebiet vorzurücken. Die Maßnahmen der Regierung wurden sofort als das gedeutet, was sie waren -eine de facto-Kriegserklärung an die Zapatisten. Nach mehr als 13 Monaten Waffenruhe und Verhandlungen kehrte Zedillo entgegen seinen bisherigen Friedensbekundungen auf den Kriegspfad zurück. Damit trat nicht nur der Konflikt in Chiapas in ein neues Stadium ein, sondern für das ganze Land begann eine neue Stufe der politischen Eskalation und Instabilität, verbunden mit einer Wirtschaftskrise, auf die man in keiner Weise vorbereitet war.
In einer Flucht nach vorn glaubt sich die Regierung aus einer Reihe von Gründen auf dem richtigen Weg:
a) Sie entspricht mit ihrem Versuch, die Unruhestifter im Süden gewaltsam und schnell ausschalten zu wollen, den nachdrücklichen Forderungen der ausländischen Investoren und vor allem der USA-Regierung, die ihr ambitiöses Freihandelsprojekt TLC (NAFTA) durch die wachsenden Spannungen und Unsicherheiten beim südlichen Nachbarn gefährdet sieht. Das nicht selbstlose Hilfsangebot der Clinton-Administration und anderer internationaler Geldgeber, der mexikanischen Wirtschaft mit einem Hilfspaket von insgesamt 51 Mio Dollar wieder auf die Beine zu helfen, ist – so die übereinstimmenden Meinung fast aller Beobachter – an entsprechende politische Forderungen gebunden, wobei die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung in Chiapas an vorderster Stelle stehen dürfte. So macht in der Hauptstadt ein Flugblatt die Runde, auf dem für den Kopf des Zapatisten-Führers Subcomandante Marcos exakt die Summe der 51 Mio Dollar des Hilfspakets geboten werden.
b) Des weiteren verbindet Zedillo mit der Entscheidung vom 9. Februar zweifellos die Hoffnung, kurzfristig einen geeigneten Ausweg aus der Krise gefunden zu haben: der unzufriedenen Bevölkerung werden die Zapatisten als die Hauptschuldigen an der Misere präsentiert, der Präsident selbst zeigt nach den zahlreich geäußerten Zweifeln an seiner Durchsetzungsfähigkeit, daß er sehr wohl Führungsstärke demonstrieren kann, die langfristigen und tiefer wirkenden Folgen der Krise werden durch die spektakuläre Aktion in Chiapas zumindest zeitweise in den Hintergrund gedrängt.
c) Darüber hinaus markiert die abrupte Wende vom 9. Februar jedoch vor allem eine Umorientierung der Politik, verbunden mit einer entsprechenden Umgruppierung der Kräfte hin zu einer autoritären Lösung der Krise. Hauptsächliches Ziel ist die Rekonstruktion und Stärkung des Präsidentialismus als zentraler Achse des autoritären Machtgefüges. Mit der Rückgewinnung der Initiative im Transitionsprozeß und der Ausschaltung oder zumindest der Marginalisierung der Linksopposition und der Demokratiebewegung von unten sucht das Präsidentenlager seine Hegemonie durchzusetzen, um einen autoritären Übergang zu einem modernisierten politischen Regime abzusichern. Der 9. Februar hat zugleich deutlich gemacht, wo die Modernisierer um Zedillo ihre politischen Bündnispartner gefunden haben: bei der Rechtsopposition vom PAN (Partido Acción Nacional -Partei Nationale Aktion) und bei der Armee.
Offensichtlich läuft die Strategie Zedillos darauf hinaus, in einem „Zweifrontenkrieg“ gegen die Betonköpfe in der eigenen Partei und in der staatlichen Bürokratie einerseits und die Demokratiebewegung von unten andererseits den unvermeidlichen politischen Wandel von oben zu kontrollieren und im Sinne des eigenen Machterhalts zu kanalisieren. Daß er bereit ist, die bisherige Regierungspartei PRI in die zweite Reihe zu zwingen, hat die Verhaftung von Raul Salinas, des Bruders seines Amtsvorgängers und bisherigen politischen Freundes und Förderers, am 28.02. bewiesen. Der hier als bislang einzigartig gefeierte Bruch mit dem „Salinato“ und als Ende der „Straflosigkeit“ (Impunidad) gepriesene Vorgang zielt letztlich gegen den PRI. Allerdings sind die Meinungen geteilt, ob dies schon das Ende des PRI als Staatspartei bedeutet oder es sich um eine Aktion handelt, die darauf zielt, mittels Säuberung und Bauernopfer die Modernisierung des PRI mit der Stärkung des Präsidenten zu verbinden.
Jedenfalls verweist auch der Rücktritt des PRI-Gouverneurs von Chiapas, E. Robledo, darauf, daß Zedillo im Interesse der Stabilisierung des modernisierten Systems dem PRI die Flügel stutzen und an die Stelle des Machtmonopols der Staatspartei ein faktisches Zweiparteiensystem PRI-PAN setzen will. Ob die Partei die Rückstufung von der allmächtigen Staatspartei zum „normalen“ Bestandteil des politischen Systems überleben kann, bleibt abzuwarten. Zugleich hatte die Verhaftung von Raul Salinas, der beschuldigt wird, der intellektuelle Urheber des Mordes an PR-Generalsekretär Ruiz Massieu gewesen zu sein, den zweifachen Effekt, die Popularität Zedillos in ungeahnte Höhen steigen zu lassen und zugleich die Zapatisten und den Krieg in Chiapas medienpolitisch an den Rand zu drücken.
Der Zickzackkurs, mit dem sich Zedillo bisher durch die Klippen der Krise und zwischen den beiden Lagern links und rechts von ihm hindurchgeschlängelt hat, wird von einigen auch als politische Schwäche gedeutet. Der Erfolg, der ihm bei seinem Kurs bisher beschieden war, verweist jedoch eher auf die Schwäche der Linksopposition. Obwohl Zedillo bisher kein kohärentes politisches Projekt vorzuweisen hat, und sein strategischer Kurs auf Schwankungen und unsichere Allianzen schließen läßt, hat es vor allem der PRD an der nötigen Stärke und Klarheit fehlen lassen. Bis August einseitig auf die Wahlen fixiert, hat es die Partei trotz entsprechender Willensbekundungen und nicht geringer Mobilisierungskraft bislang nicht verstanden, ein eigenes Projekt zu formulieren und dem Regierungslager die Initiative streitig zu machen. Darüber hinaus ist der Vorschlag der Zapatisten von Anfang Februar, eine breite demokratische Bewegung mit dem PRD, der CND und dem EZLN als Kern zu bilden, im Schatten der Politik Zedillos völlig untergegangen.
Die Folgen von Regierungspolitik und Oppositionsschwäche sind so eindeutig wie fatal: die Krise in allen ihren Dimensionen und Facetten verschärft sich weiter und die politische Instabilität wächst. In keiner der entscheidenden Fragen und Probleme zeigt sich ein Trend zum Besseren, im Gegenteil. Der Schlag gegen die Zapatisten ist ein Schlag gegen die Demokratiebewegung von unten. Der politische Pakt zwischen den im Parlament vertretenen Parteien von 15. Januar ist mit der Entscheidung vom 9. Februar vom Präsidenten aufgekündigt worden, womit auch der Weg des paktierten Übergangs zur Demokratie vorerst verschlossen bleibt. Der Armee wird eine politische Rolle zuerkannt, die ihr in den letzten 60-70 Jahren versagt geblieben war und mit der Militarisierung von Chiapas deuten sich gefährliche Trends an. Einige Kommentatoren warnen mit Verweis auf Uruguay unter Präsident Bordaberry vor der Gefahr, daß Zedillo zur Geisel der Militärs werden könnte. Die Verhaftung von Raul Saunas läßt das Wiederaufflammen der blutigen Machtkämpfe im herrschenden Block befürchten. Eine Korrektur des Wirtschaftsmodells, das unübersehbar in der Krise steckt, ist nicht in Sicht. Im Gegenteil, hier liegt wohl die entscheidende Kontinuität zum Salinismus. Last but not least hat das Land einen Souveränitätsverlust erlitten, wie seit der mexikanischen Revolution zu Beginn unseres Jahrhunderts nicht mehr. Die Vereinigten Staaten haben im Ergebnis der Verhandlungen über die Finanzhilfe für Mexiko als Gegenleistung ein faktisches Vetorecht über die Wirtschaftspolitik ihres südlichen Nachbarn für mindestens zehn Jahre erwirkt. Mexiko kann nicht mehr souverän über seine Finanzen und Erdöldvorräte verfügen. Nach dem Artikel 27 der Verfassung, der die Agrarreform juristisch garantiert hatte, ist nun die zweite große Errungenschaft der Revolution dem neo-liberalen Wirtschaftskurs zum Opfer gefallen. Die Krise hat sich in all ihren Dimensionen – Transitionskrise, Krise im Block an der Macht, Souveränitätskrise, Wirtschaftskrise, soziale Krise und militärischer Konflikt in Chiapas -seit dem Regierungsantritt Zedillos weiter verschärft und zugespitzt. Angesichts dessen stellt sich die Frage nach möglichen Alternativen zum Regierungskurs um so nachdrücklicher. Eins ist jedenfalls offensichtlich geworden: die Demokratisierung wird sich nur ohne PRI und ohne den Präsidenten weiterführen lassen. Mit ihnen bleibt sie ein totgeborenes Kind. Der Druck von unten nach oben wird entscheidend sein, ob die Demokratisierung weitergeht. Schien mit den Verhandlungen in und um Chiapas, der paktierte Übergang zur Demokratie unter Einschluß aktiver Mitwirkung der Demokratiebewegung von unten (CDN, EZLN, Zivilgesellschaft) möglich, läßt der Grad der Zuspitzung der Krise und die Regierungspolitik es als wahrscheinlich erscheinen, daß der Weg der Demokratisierung über einen „paktierten Bruch“ (ruptura pactada, El financiero vom 19.02.1995) verläuft. Daß Zedillo drei entscheidende Bedingungen für eine Umkehr des Regierungskurses in Richtung Demokratisierung erfüllen könnte, ist nach dem 09. Februar praktisch ausgeschlossen; denn das hieße: Bildung einer Regierung der nationalen Rettung, die auf der Grundlage eines gemeinsamen Anti-Krisen-Programms aller nationalen Kräfte agieren müßte, und der Abschluß eines formellen Transitionsabkommens, in dem die nächsten Demokratisierungsschritte verbindlich und konkret festgelegt sein müßten. Angesichts der Tatsache, daß die Erfüllung dieser Bedingungen in weite Ferne gerückt ist und der Präsident statt dessen in die entgegengesetzte Richtung steuert, bleibt der demokratischen Opposition nichts anderes übrig, als ihren eigenen Weg des Übergangs zur Demokratie zu formulieren und zu beschreiten, wie es auch im Plan von Querétaro Anfang Februar vom CDN vorgeschlagen worden war, aber seit dem 09.Februar von der politischen Agenda verschwunden ist. Eine solche Oppositionsstrategie der „ruptura pactada“ setzt voraus, daß die Opposition auf der Grundlage einer genauen Krisenanalyse die notwendigen Schritte und Maßnahmen für einen demokratischen Ausweg aus der Krise formuliert, ein nationales Leistungsgremium bildet, das alle demokratischen Kräfte einschließt und das in der Lage wäre, ähnlich wie die Gruppe 12 in Nikaragua, den Kampf gegen das Ancien régime anzuführen. Mit dem Versuch der militärischen Lösung in Chiapas und dem Transitionspakt hat sich Zedillo selbst aus diesem Prozeß ausgeschlossen.