Der Dichter Octavio Paz (1914) ist auch der Verfasser eines umfangreichen essayistischen Werkes. Die kritisch-theoretische Produktion umfasst solche Gebiete wie die Literaturgeschichte, die Kunstkritik, die Kulturphilosophie, die vergleichende Religionsgeschichte und die Anthropologie. Erwähnung verdienen seine Aufsätze zur mesoamerikanischen Kunst, zur mexikanischen Dichtung aus der Zeit des Vizekönigtums (insbesondere seine bemerkenswerte Monographie über Leben und Werk von Sor Juana Inés de la Cruz) und aus dem 20. Jahrhundert, seine Studien zu Claude Levi-Strauss und Marcel Duchamp, seine Abhandlungen über die orientalischen Schulen und seine poetologischen Texte zur Geschichte der abendländischen Dichtung. Octavio Paz‘ kosmopolitischer Werdegang hat in einer Reflexion über die eigene nationale, historische Erfahrung ihren Ausgangspunkt. Seine Betrachtungen über die Funktion der Intellektuellen in der Gesellschaft und über die Natur des modernen Staates, die in den letzten Jahren zur Diskussion angeregt haben, sind das Ergebnis der Erfahrung und persönlichen Interpretation dieser Erfahrung. Als besonders fraglich erscheint Paz‘ optimistische Überzeugung, dass der Demokratisierungsprozess in Lateinamerika trotz mächtiger Hindernisse eindeutig Fortschritte aufweist, sowie jene von Paz jahrelang vertretene Auffassung, dass die moderne Literatur nur am Rande der Gesellschaft leben kann und der kritische Intellektuelle außerhalb der offiziellen Institutionen handeln muss. Paz ist heute eine anerkannte und offiziell gefeierte Persönlichkeit. Was hätte wohl Andre Breton über den gegenwärtigen internationalen Erfolg seines Freundes gedacht? Wie dem auch sei, die Ideologie kapituliert früher oder später vor der tatsächlichen Geschichte. Octavio Paz selbst hatte in seinem poetologischen Hauptwerk „Der Bogen und die Leier“ (1956) geschrieben: „Die bürgerliche Revolution proklamierte die Menschenrechte, während sie sie gleichzeitig im Namen des Privateigentums und des freien Handels mit Füßen trat; sie erklärte die Freiheit für heilig, aber machte sie zugleich von den Geldverhältnissen abhängig; sie behauptete die Souveränität der Völker und die Gleichheit der Menschen, während sie den Planet eroberte, alte Königreiche der Sklaverei unterwarf und in Asien, Afrika und Amerika die Schrecken der Kolonialregimes etablierte.“
Geschichtliche Ereignisse in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, besonders die revolutionäre und postrevolutionäre Entwicklung Mexikos, die Republik und der Bürgerkrieg Spaniens, haben das politische Denken und die kulturkritische Reflexion des Schriftellers maßgeblich bestimmt. Dieser belegte Prozess verleiht seinem Werk eine besondere Ausstrahlung. Der Verfasser von „Das Labyrinth der Einsamkeit“ kennt die Geschichte der mexikanischen Revolution aus den Traditionen der eigenen Familie. Der Großvater ist eine wichtige Figur des Liberalismus und des literarischen indigenismo Mexikos gewesen, während der Vater dem Bauernführer Emiliano Zapata gefolgt war und ihn später in den Vereinigten Staaten vertrat. Diese Revolution hat mehrere Generationen von Künstlern und Schriftstellern geprägt. Paz begriff diese Ereignisse nicht als das Werk einer politischen Persönlichkeit oder Partei, sondern als das Ergebnis eines Volksaufstandes. Die Revolution war eine regelrechte Eruption des verborgenen Lebens Mexikos. Sie beschränkte sich also nicht auf politische und wirtschaftliche Veränderungen, sondern erwies sich letzten Endes als eine Offenbarung der eigenen Kulturtradition. Bereits in seiner Jugendzeit stellt Octavio Paz fest, dass Mexiko eine sichtbare und eine unsichtbare Realität besitzt: einerseits der technologische Fortschritt, andererseits die indianischen Schamanen und Nomaden. Er wird sich bewusst, dass der eigentliche Reichtum Mexikos in seiner Armut besteht: Das Volk ist schöpferisch, nicht die Elite. Eines steht für ihn fest: Die Wirklichkeit Mexikos wurde sowohl durch die Kolonisierung als auch durch die Unabhängigkeitsbewegungen verfälscht. Daraus leitet Paz ein häufiges Thema seiner Reflexionen ab: die sichtbare Wirklichkeit ist eine Maske, sogar der Name des kolonialen Mexiko ist eine Entstellung: Neu-Spanien.
Alle unsere geschichtlichen Ereignisse besitzen symbolischen Charakter, sie sind nur die scheinbare Manifestation einer anderen verborgenen Struktur. Mexiko erlebt seine Geschichte als eine Theatervorstellung, wo maskierte Figuren auftauchen und wieder verschwinden. Diese Tatsache ist jedoch keine nur mexikanische Angelegenheit: Alle Nationen verbergen und verleugnen ihre Vergangenheit.
Auf solche Aspekte der historischen Dialektik zu verweisen, ist nach Paz eine Aufgabe der Kritik. So konstatiert er für Mexiko das Vorhandensein einer kritischen und einer bürokratischen Kultur. Letztere zeichnet sich durch demagogische Rethorik aus. Die Korruption der Sprache ist ihrerseits ein Symptom für andere Formen der Korruption innerhalb der Gesellschaft. Überhaupt stellt diese Degradierung der Revolution ein häufiges Thema der mexikanischen Literatur, besonders des Romans, dar. Paz beschäftigt sich besonders mit jenen Bildern und Mythen, die seit Jahrhunderten das Bewusstsein der Mexikaner beherrschen: Der Nationalismus und sein Gegenpol, der malinchismo, jene Tendenz nämlich, die das Eigene verachtet und das Fremde bedingungslos bewundert. Unter anderen fixen Ideen dieser Art erwähnt Octavio Paz den krankhaften Mutterkult, der in der Verherrlichung der Heiligen Jungfrau von Guadalupe seinen klarsten Ausdruck findet, oder die übertriebene Achtung vor dem politischen Führer, der eine für tot gehaltene Vergangenheit im 20. Jahrhundert fortzusetzen scheint: „Ob er als aztekischer Priester, als katholischer Bischof oder Inquisitor, als Führer der Unabhängigkeit, als General der Revolution oder als Bankier erscheint, immer handelt es sich um ein und dieselbe Figur… der Verbündete des Eroberers Cortés.“ Er identifiziert sich mit dem Staat und dem Gesetz und liefert somit die mexikanische Version des spanischen und lateinamerikanischen Diktators. Es handelt sich im Grunde um eine unbewusste Mythologie, die das soziale und politische Leben Mexikos seit Jahrhunderten beherrscht. Nach Paz besteht eine der großen Aufgaben der Literatur darin, solche Gespenster sichtbar werden zu lassen. Im Juli 1937 wird Paz im Alter von 23 Jahren zur Teilnahme am Zweiten Kongress der antifaschistischen Schriftsteller für die Verteidigung der Kultur in Valencia eingeladen. Erinnerungen an diese erste Begegnung mit Spanien finden sich auch im lyrischen Werk von Octavio Paz, so im bekannten Poem „Sonnenstein“. Seit jenem ersten Aufenthalt bleibt der Schriftsteller mit Geschichte und Kultur Spaniens eng verbunden. Im Rahmen des Kongresses macht der mexikanische Dichter die Bekanntschaft mit Vertretern der lateinamerikanischen und spanischen Avantgarde: Neruda, Huidobro, Vallejo, Alberti, Gómez de la Serna, Miguel Hernández und Cernuda. In diesem wichtigen Moment seines poetischen Werdegangs nehmen Paz‘ Reflexionen über Unterschiede und Affinitäten zwischen Lateinamerika und Spanien ihren Anfang: Was beide Kulturen verbindet, ist die offene, heterodoxe und universalistische Denktradition. Diese Kultur ist im Grunde die Wahl weniger Geister, sie ist das Ergebnis einer historischen Verantwortung, wie Ortega y Gasset sagen würde. „Ich bin kaum mehr als eine Episode in der Geschichte unserer Literatur, die vergängliche und zufällige Verkörperung eines Momentes der spanischen Sprache“, so sollte Paz viele Jahre später sagen, als er im Frühjahr 1981 in Alcala de Henares den Cervantes-Preis entgegennahm.
Die Sprache ist für ihn die eigentliche Heimat des Dichters. In diesem Geist entfaltet sich ein poetisches Projekt, das sich in seinen verschiedenen Phasen durch die produktive Rezeption und Weiterführung einer nationalen, kontinentalen und internationalen Tradition im Denken und Dichten auszeichnet. In dieser Hinsicht verdankt Octavio Paz den Dichtern der mexikanischen Zeitschrift „Contemporáneos“ (1928 bis 1931) wesentliche Anregungen. Mit ihrem feinen Gespür für die Erneuerung der Poesie hatten sie die großen Themen der modernen Dichtung in die mexikanische Literatur eingeführt.
In der Tradition des Kosmopolitismus seit Michel de Montaigne stehend, sucht Paz den Dialog mit dem anderen, ohne deshalb auf das eigene Erbe zu verzichten: Christlich-spanische Strömungen verbinden sich in Lateinamerika mit mesoamerikanisch-indianischen, asiatischen und afrikanischen Kulturkontexten in einer neuen Totalität. Ich hebe diesen Aspekt hervor, weil er zum Teil Octavio Paz‘ Sensibilität für kulturelle Analogien besser begreifen lässt.
Octavio Paz gehört zu jenen spanisch schreibenden Autoren, die sich mit ihren Essays bemüht haben, die philosophische Diskussion auch außerhalb der Universität und der fachwissenschaftlichen Publikationen lebendig zu erhalten. In dieser Hinsicht lassen sich gewisse Berührungspunkte zwischen Paz und Ortega y Gasset feststellen. Es handelt sich bei beiden Autoren um eine sachliche Analyse von historischen oder kulturphilosophischen Problemen, die aber niemals die stilistische Form und den ästhetischen Ursprung der Reflexion aus dem Auge verliert. Es geht, genauer betrachtet, um eine philosophische Meditation, die der historischen Verantwortung Rechnung tragen will, ohne jedoch auf die Mannigfaltigkeit von Themen und Objekten zu verzichten: die heterodoxe Tradition.
Ein Grundthema beherrscht die Reflexion von Paz bereits in der Jugendzeit: Was ist die moderne Tradition? Im Rahmen dieses Problems werden zunächst die literarischen Grundströmungen Europas und Lateinamerikas seit dem 18. Jahrhundert untersucht. Unter dem Begriff „moderne Tradition“ versteht Octavio Paz sowohl jene Denkrichtung des historischen und kritischen Denkens, die mit der Aufklärung beginnt, als auch die geistige Reaktion auf die Aufklärung, wie sie sich in der europäischen Romantik, im lateinamerikanischen Modernismo und in der französischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts manifestiert. Modern ist nach Meinung von Paz auch jedes Projekt oder Werk, das die rationalistische und christliche Tradition in Frage stellt. In diesem Sinne spricht er von einer Tradition des Bruchs, die eine Erneuerung der Sensibilität bewirkt und zu einer Ästhetik der Überraschung führt. Zu dieser Wandlung hat zum Beispiel die Erfahrung der exotischen oder primitiven Kunstwerke oder Objekte in die moderne Poetik und Kunstbetrachtung entscheidend beigetragen.
Momente dieser Wandlung im Bewusstsein der modernen Zeit sind nach Paz Herders Wertung der deutschen Volksdichtung, Ezra Pounds Neuentdeckung der chinesischen Poesie, Bretons Begeisterung für die indianische Kunst Nordamerikas. Egal ob diese Werke aus Afrika, Asien oder Mesoamerika stammen, ihre Präsenz in den Kunstsammlungen und Museen bedeutete für den modernen Künstler und Dichter einen Bruch mit der eigenen, narzisstischen Kulturtradition und Ästhetik. Solche Werke erinnern uns daran, so Octavio Paz, dass „der Mensch pluralistisch ist.“ Es gibt nicht eine Kultur, sondern Kulturen. Und der Grund für diese Überzeugung aus der reifen Schaffensperiode lag bereits in der mexikanischen Erfahrung aus der Jugendzeit.
Paz gehört zu den ersten Kennern des Surrealismus, einer Bewegung, die nach seiner Meinung die radikalste Konsequenz der modernen Tradition und zugleich ihre Negation darstellt. Paz betrachtet als ein Verdienst des Surrealismus seit dem „Ersten Manifest“ die verständnisvolle Aktualisierung der sogenannten primitiven Kunst außereuropäischer Kulturen, welche er als Manifestation des Wunderbaren deutet. Vorausetzung für diese Wandlung der Sensibilität unter den Künstlern und Poeten der Pariser Avantgarde war auch der in dieser Zeit beginnende Dialog zwischen der Ästhetik und der Anthropologie.
Octavio Paz [1], der aus einem Land mit einer langen Tradition auf dem Gebiet der mesoamerikanischen Kunst und der archäologischen Forschung stammt, war für diese radikale Veränderung der modernen Ästhetik besonders empfindsam. Er verbindet mit dieser Wandlung auf dem Gebiet der Kunst auch politische Kriterien, die er wiederholt und mit aller Deutlichkeit in seinen Aufsätzen formuliert hat. Eine gründliche Kritik verdienen nach seiner Meinung solch unwissenschaftliche Ausdrücke wie „unterentwickelte Länder“ oder „dritte Welt“, die die eigentlichen Probleme der darunter verstandenen Regionen nicht erklären können. Solche Begriffe gehören nach Paz zur Sprache der Demagogen und Technokraten. So zeigt beispielsweise Mesoamerika, dass eine Kultur sich nicht an ihren Produktionstechniken messen lässt, „sondern an ihrem Denken, ihrer Kunst und ihren ethischen und politischen Errungenschaften“. Die mexikanischen Erfahrungen von O. Paz stellen eine Voraussetzung für seine Bewertung der surrealistischen Kunst dar, die er zum Teil als magische Kunst begreift: Der Surrealismus will nicht ästhetische Werte schaffen, sondern die Orientierung der Existenz radikal ändern.
Die magische Kunst der Primitiven ist die „andere Stimme“; sie offenbart uns die andere Hälfte der menschlichen Natur. Dieser Dialog mit dem anderen beginnt mit der deutschen Romantik, welche durch Friedrich Schlegel und Novalis die Bedeutung der orientalischen Philosophie und Kunst in die europäische Diskussion einführt. Die Aufklärung hatte die Vernunft, die Wissenschaft, die produktive Arbeit, den historischen Fortschritt und die Politik als die grundlegenden Wertbegriffe der allgemeinen Ideologie der modernen Zeit verstanden und als solche verteidigt. Die Konsequenzen daraus waren eine jahrhundertelange Verherrlichung des Geistes und der Seele, bei einer latenten oder offenen Unterbewertung des Körpers. Andere Aspekte dieser Weltanschauung waren nach Paz die Apologie der Zukunft als Lebensperspektive und eine Vernachlässigung der Gegenwart als Dimension der tatsächlichen Existenz, als Zeit der Passion und Poesie.
Die deutsche Romantik beinhaltet also nach Paz eine erste kritische Auseinandersetzung mit den Werten der Aufklärung. Wenn die Romantik und der Surrealismus den Traum zum Mittelpunkt ihrer Poetik verwandeln, dann, weil beide Bewegungen in den onirischen Bildern Manifestationen des Körpers erblicken: „Der Mensch ist ein Wesen, das imaginiert, und selbst seine Vernunft ist nur eine Form dieses ständiges Imaginierens: über sich hinausgehen, sich projizieren, sich ständig überschreiten. Als ein Wesen, das imaginiert, weil es begehrt, ist der Mensch fähig, die ganze Welt in ein Bild seines Verlangens zu verwandeln. Und deshalb ist er ein liebendes Wesen, es sehnt sich nach einer Präsenz, die das lebendige Bild, die Verkörperung seines Traumes ist…“ Die Maxime von Novalis: „Der Mensch ist Bild“ hat der Surrealismus sich zu eigen gemacht. Aber auch das Umgekehrte ist wahr: „Das Bild verkörpert sich im Menschen“. Die surrealistische Kritik der Modernität ist nach Octavio Paz radikaler als die romantische. Die romantische Poetik ist vom Standpunkt ihrer philosophischen Grundlagen stärker als die surrealistische, weil sie sich nicht nur auf Kant und Fichte, sondern auch auf Schelling, Baader, Hölderlin, Windischmann, Justinus Kerner und Tröxler beziehen kann. Der Surrealismus besitzt jedoch einen schärferen Blick für die historischen und politischen Erscheinungen der eigenen Zivilisation. Gegenüber dem Nationalismus, Kolonialismus, Rationalismus und Individualismus behauptet das „Erste Manifest“ das Primat der unbewussten Motivation der Poesie und der Kunst, die spontane Natur der Imagination, den kollektiven Charakter der Volksphantasie: „Der andere, unser Doppelgänger, negiert die trügerische Kohärenz und Zuverlässigkeit unseres Bewusstseins, diesen Pfeiler aus Rauch, der unser stolzes philosophisches und religiöses Gebäude stützt. Die anderen, Proletarier und Kolonialsklaven, die Mythen der Primitiven und revolutionäre Utopie, bedrohen die Anschauungen und Institutionen des Abendlandes nicht weniger stark… Der Mensch ist Schöpfer von Wundern, ist Dichter, weil er ein unschuldiges Wesen ist. Die Kinder, die Frauen, die Verliebten, die Inspirierten und selbst die Verrückten sind die Verkörperung des Wunderbaren. Alles, was sie tun, ist ungewöhnlich, und sie wissen es nicht.“ (Octavio Paz) [2]
Die Ästhetik ist eine Erfindung der neueren Zeit, deren Grundlagen von Baumgarten und Kant formuliert wurden. In seiner Antwort auf Bretons Befragung über die „Magische Kunst“ 1955 stellte Paz folgendes fest: „In ihrem Ursprung waren sehr wenige der von uns genannten Kunstwerke dem ästhetischen Kontemplieren bestimmt, das für Kant das Wesen der Kunst ausmacht. Nicht einmal die Griechen fassten die Kunst als einen Zweck an sich auf… Für ihre unbekannten Schöpfer bestand der Wert dieser Werke in ihrer Wirksamkeit und nicht in ihrer Schönheit.“
Magisches Denken und surrealistische Poetik begreifen die Kunst als Medium einer persönlichen Wandlung: „Das magische Objekt fordert uns, uns zu ändern, ohne aufzuhören, wir selbst zu sein… Wir verlangen von der Kunst, dass sie uns das Geheimnis der Wandlung gibt, und wir suchen in jedem Werk, davon abgesehen, um welche Epoche und um welchen Stil es sich handelt, jene Macht zu Verwandlung, die das Wesen der magischen Handlung ausmacht.“ (O. Paz, Magische Kunst)
Der erste Pariser Aufenthalt von Octavio Paz umfasst die Periode von 1946 bis 1951, von da an er Mexiko als Diplomat vertritt. Es ist gerade die Zeit, in der er seine grundlegenden Gedanken über das Wesen der Dichtung systematisch konzipiert und formuliert. Die Pariser Episode entspricht grosso modo dem zweiten Moment seines Surrealismus-Konzeptes. Die dritte Phase dieser Reflexion kommt erst in Indien (1962-1968) zur Vollendung. Die romantische Anschauung, dass das große poetische Werk der Ausdruck einer außergewöhnlichen Subjektivität darstellt, wird von den Surrealisten in Frage gestellt. Weder das Werk noch die Subjektivität des Dichters, sondern die poetische Handlung und die Sprache stehen im Mittelpunkt des avantgardistischen Programms. Die Sprache selbst ist der Ort des Dialogs zwischen Autor und Leser.
Eine Grundvorstellung dominiert die Reflexion und poetische Praxis von Paz seit dem berühmten Gedicht „Sonnenstein“ (1957): Das Ich ist eine Illusion. Diese Idee, die für Paz‘ Auslegung des Surrealismus entscheidend war, hängt direkt mit seiner orientalistischen Erfahrung zusammen.
Seine erste Reise nach Indien und Japan findet im Jahr 1952 statt. Während dieses Aufenthaltes macht er die erste Begegnung mit dem Buddhismus und der Dichtung von Matsuo Basho (1644-1694), dessen Werk „Pfade durch Oku“ Paz zusammen mit E. Hayashiga ins Spanische übersetzt. Bereits in dieser Phase seines Werdeganges macht sich bemerkbar, dass das Schaffen von Paz ein Netz von Relationen, ein System von Systemen darstellt. Davon zeugt das Poem „Sonnenstein“, das der altmexikanischen Mythologie, dem Surrealismus und den orientalischen Schulen große Anregungen verdankt. Die indischen Erlebnisse und seine Studien zum Buddhismus prägen auf entscheidende Weise seine endgültige Deutung des Surrealismus: „Das Schaffen von Poesie erfordert Selbstaufgabe, den Verzicht auf das Ich. Es ist schade, dass der Buddhismus Breton nicht interessiert hat; auch diese Tradition zerstört die Illusion des Ich, wenn auch nicht zugunsten der Sprache, sondern zugunsten des Schweigens. (Ich muss hinzufügen, dass dieses Schweigen stummes Wort ist, ein Schweigen, das seit mehr als zweitausend Jahren unaufhörlich Bedeutungen ausstrahlt.) Ich erinnere an den Buddhismus, weil ich glaube, dass die ecriture automatique so etwas wie ein neuzeitliches Äquivalent der buddhistischen Meditation ist… Das Ich ist im Grunde ein neues Gefängnis, da der Mensch weiß, dass er zu einem Ganzen gehört. Jedoch bleibt für die Gegenwart die Einsamkeit der vorherrschende Zustand. Der Mensch unserer Zeit fühlt sich abgeschnitten vom Strom des Lebens.“
Unter diesen geistigen und sozialen Voraussetzungen entfalten sich die neuen poetischen Projekte von Octavio Paz. Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang seine Beschäftigung mit der poetischen Kombinatorik und der pluralen Dichtung, wie sie Paz in Indien und Japan studiert hatte.
Paz hält das 20. Jahrhundert für das Jahrhundert der Übersetzungen. Es werden nicht nur Texte und Bücher, sondern auch Sitten und Gebräuche, religiöse und poetische Übungen übersetzt. Es gibt im Grunde keinen Originaltext, sondern nur Übersetzungen von Übersetzungen. Die Dichter des 20. Jahrhunderts schreiben in verschiedenen Versionen und Sprachen ein einziges Gedicht. Aber Octavio Paz ist nicht nur ein Theoriker der Dichtung. Auch in diesem Punkt bleibt er mit dem Surrealismus eng verbunden. „Unsere Zeit hat die Liebe aus den Kerkern des vergangenen Jahrhundert nur befreit, um aus ihr einen anonymen Zeitvertreib zu machen, ein Konsumgut unter anderen in einer Gesellschaft vielbeschäftigter Konsumenten. Bretons Vision ist die Verneinung alles dessen, was heute für Liebe und auch für Erotik gehalten wird (ein weiteres Wort, das so abgegriffen ist wie eine Scheidemünze).“
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[1] Der mexikanische Dichter Octavio Paz gehört zu jener Konstellation von Künstlern und Schriftstellern, die mit ihren Werken die Sensibilität unseres Jahrhundert geprägt und ein neues und vielseitiges Menschenbild entworfen haben: Marcel Duchamp, Luis Buñuel, Benjamin Peret, Roger Caillois, Joan Miró, Max Ernst, Balthasar Klossowski, Claude Levi-Strauss, Roman Jakobson und viele andere Surrealisten aus Lateinamerika und Europa.
[2] Am Surrealismus interessiert Octavio Paz weniger der poetische Automatismus als das ethisch-kritische Programm. Diese Bewegung ist zunächst Lebenspraxis, innere Erfahrung, wie es George Bataille sagen würde. Der Surrealismus ist nach Paz eine Position des Geistes, die weniger mit einer Ästhetik als mit einer neuen Konzeption des „Heiligen im Alltagsleben“ zu tun hat.