Die „Tank-oder-Teller-Debatte“ und die Palmölproduktion im Amazonas
Als Anfang 2007 in Mexiko die Tortilla-Krise ausbrach, weil sich der Preis für Mais und somit Tortillas innerhalb kürzester Zeit verdoppelt hatte, war der vermeintliche Auslöser schnell ausgemacht: die vermehrte Bioethanolproduktion aus Mais in den USA. Gemäß dieser Argumentation landeten die Kolben der Pflanze nunmehr als klimafreundlich zertifizierter Agrarkraftstoff in den Tanks der Autos und nicht mehr auf den Tellern der Armen. Es entbrannte daraufhin eine hitzige gesellschaftliche Diskussion, wobei sich die komplexen Zusammenhänge immer mehr auf eine „Tank-oder-Teller“-Debatte verkürzten.
Vor diesem Hintergrund förderte das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Jahr 2009 ein Projekt zu „Fair Fuels? Zwischen Sackgasse und Energiewende. Eine sozial-ökologische Mehrebenenanalyse transnationaler Biokraftstoffpolitik“, bei dem untersucht wurde, inwieweit die starke Zunahme der internationalen Agrarkraftstoffproduktion (vor allem Biodiesel und Bioethanol) negative Folgen für Mensch und Umwelt zeitigt.
Innerhalb dieses Projektes erarbeitete unter anderem auch Maria Backhouse ihre Dissertation. Sie untersuchte jedoch nicht die mexikanische Tortilla-Krise, sondern das Thema „Grüne Landnahme. Palmölexpansion und Landkonflikte in Amazonien“. Als empirisches Beispiel wählte sie Pará, den zweitgrößten Bundesstaat Brasiliens im Amazonas und eines der Fördergebiete des brasilianischen „Bundesprogramms für eine nachhaltige Palmölproduktion“ aus dem Jahr 2010.
In dem Buch legt die Autorin zunächst die theoretischen Grundlagen für die „grüne Landnahme“, analysiert dann (sehr) kurz den historischen Kontext der Palmölproduktion in Pará und widmet den zweiten Teil komplett der Empirie. Zentral sind dabei die mit verschiedenen Akteuren der Palmölproduktion geführten Interviews wie Unternehmen (Vale), lokalen Gewerkschaftern, Ministeriumsmitarbeitern und Kleinlandwirten über die aktuelle Situation in diesem Sektor.
Backhouses Forschung (und entsprechend die Publikation) beginnt also an einem Punkt, der die historischen Aspekte der Landnahme in Pará während der Militärdiktatur (1964-1985) weitgehend ausspart. Sie beschränkt sich somit auf die Untersuchung von Flächen, die bereits abgeholzt und degradiert waren. Das ist ihrer Ansicht nach auch das Besondere an der „grünen Landnahme“. Denn damit unterscheidet sich dieses Konzept grundlegend von anderen Landnahmen wie etwa der Kolonisierung oder der Implementierung einer agrarindustriellen Produktionsweise. Außerdem bezieht sich die „grüne Landnahme“ explizit nicht auf die Nutzbarmachung der fruchtbarsten, sondern der weniger wertvollen Agrarböden. Angestoßen und legitimiert wird dieser Prozess durch umweltpolitische Maßnahmen wie dem Klimaschutz (S. 12). Leider definiert die Autorin „grüne Landnahme“ an verschiedenen Stellen leicht unterschiedlich (siehe z.B. S. 23, S. 31, S. 65, S. 66, S. 213-214), so dass dem Leser bis zum Schluss nicht ganz klar, was dieses Konzept denn nun genau kennzeichnet.
Fragestellung mit Formulierungsunschärfe
Die zentrale Fragestellung lautet bei Backhouse, welche sozialökologischen Auswirkungen die Ausweitung der Palmölproduktion auf den sogenannten degradierten Flächen hat. „Handelt es sich um eine sozial und ökologisch verträgliche Produktionsstrategie grüner Energieträger oder werden neue, grüne Landnahmedynamiken ausgelöst […]“ (S. 13)?
Die so formulierte Forschungsfrage weist allerdings eine mehrfache Unschärfe auf:
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Erstens, es bleibt unklar, was grüne Energieträger sind. Das Grün ist nicht in Anführungszeichen gesetzt oder definiert. Außerdem wird über die Verwendung des Palmöls – ob als Energieträger, Lebensmittelgrundstoff oder Reinigungsmittel noch nichts gesagt. Die Verwendung als Diesel wird lediglich von der Autorin unterstellt, zumal das Ziel des Palmölförderprogramms nicht vorrangig die Biodieselproduktion (siehe das Firmenprofil von Vale und Petrobras, S. 99-103), sondern offenbar die Deckung des Eigenbedarfs für die Nahrungsmittel- und Kosmetikindustrie ist (Kapitel 3, speziell S. 81; vgl. auch das Firmenprofil von Agropalma, S. 97). Vielleicht wäre daher bei der Fragestellung die Verwendung des Begriffs „Flex-Crop“, also von Nutzpflanzen, die sowohl für Nahrungsmittel als auch für Agrarkraftstoffe weiterverarbeitet werden können, sinnvoller gewesen, da die Autorin den Begriff zuvor selbst eingeführt hat (S. 11).
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Zweitens, auch bei der grünen Landnahmedynamik hätten Anführungszeichen die speziellen Charakteristiken und die Eigenheit dieses Konzepts (etwa in Abgrenzung zum Land Grabbing) deutlicher hervortreten lassen. Denn das Grüne am Konzept ist allenfalls in Ansätzen theoretisch angelegt, aber nicht eindeutig spezifiziert und klar definiert.
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Drittens bleibt offen, ob die sozialen Folgen der Palmölexpansion so verschieden sind von denen anderer Landnahmen und Landnutzungen – vor allem vor dem Hintergrund der allgemeinen Ungleichheit im Landbesitz in Brasilien. Jedenfalls weist auch der GINI-Index für Pará mit „8,821“ (S. 90, wahrscheinlich meint sie 0,8821) bzw. „7,01“ (S. 92, wahrscheinlich meint sie 0,701) für ihr Untersuchungsgebiet eine sehr ungleiche Verteilung des Bodens aus. Daher hätte eine vergleichende Studie zu den sozialen Folgen bei anderen, nicht-„grünen“ Landnahmen (wie Weidewirtschaft oder Soja) bzw. im historischen Kontext im Fallstudiengebiet (siehe ansatzweise S. 120 und S. 220) ihre These wesentlich stützen können. Dieser Vergleich wäre zumal angeraten gewesen, weil die Probleme der Titulierung, des Besitzrechts und des Landkaufs offenbar im gesamten Amazonas (also nicht nur in Pará und für die Palmölproduktion, siehe z.B. S. 113) ähnlich sind.
Eklektische Theorie
Den analytischen Rahmen bilden für die Autorin drei Konzepte: 1) das Marxsche Konzept der (fortgesetzten) ursprünglichen Akkumulation; 2) das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse und 3) die sprachlich-symbolische Analysedimension.
Das Konzept der (fortgesetzten) ursprünglichen Akkumulation benutzt sie, weil ihrer Meinung nach die grüne Landnahme [bewusste Hervorhebung des Verfassers] im Zusammenhang mit der Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln (Boden) steht. Diese Trennung erfolgt demnach nicht über Marktinstrumente, sondern über „extra-ökonomische Hebel“ (S. 21). Leider erklärt die Autorin diesen Sachverhalt im Folgenden nur „fallspezifisch“ (S. 22/S.23) – ja, sie sieht sogar die Notwendigkeit, so vorgehen zu „müssen“. Dabei hätte sie den Versuch wagen sollen, die Spezifika der grünen Landnahme und der (fortgesetzten) ursprünglichen Akkumulation in Einklang mit Nord-Süd-Theorien zu bringen (z.B. der Weltsystemtheorie, die hierfür exzellente Ansatzpunkte böte, siehe für einen Überblick u.a. Chase-Dunn, 1998). Gerade im Zusammenhang mit der Debatte um die Reproduktion des Zentrum-Peripherie-Verhältnisses wäre dieser Ansatz eine umfassende Ergänzung zum Kapitel 2.2.3 („Das nicht-kapitalistische Außen des Kapitalismus“, vgl. v.a. S. 48) gewesen. Auch das Zitat: „Es sei unvernünftig, sich einem Projekt entgegenzustellen, das beschlossene Sache sei und von mächtigen transnationalen Akteuren durchgesetzt wird“ (S.180) erhielte eine ganz andere Fundierung.
Als zweiten theoretischen Rahmen wählte die Autorin die Politische Ökologie und das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse (vgl. Kap. 2.1). Allerdings geht bei dieser Megatheorie durch deren extreme Weite der Erklärungen oftmals die theoretische Griffigkeit verloren, was letztlich mehr Fragen als Antworten liefert. In der Konsequenz führt die Theorie der gesellschaftlichen Naturverhältnisse oft dazu, dass sich selbst (Neo-)Marxisten nicht mehr verstehen, weil sie zu verschiedene Begrifflichkeiten und Konzepte verwenden (vgl. z.B. auch im vorliegenden Buch das Kapitel 2.1. und 2.2).
Darüber hinaus wendet sich Backhouse als dritte Theorie der sprachlich-symbolischen Analysedimension zu. Allerdings erschließt sich dem Leser überhaupt nicht, warum diese Methodologie geeignet sein soll, die materialistisch-marxistische Herangehensweise überzeugend zu ergänzen. Ihre Begründung, dass Natur nicht außerhalb ihrer „[…] sprachlichen Vermittlung gedacht werden“ (S. 35) könne und die „sprachlich-diskursive“ Konstruktion ebendieser deshalb im Mittelpunkt der Analyse stehen sollte, erinnert eher an das Postulat einer poststrukturalistischen Metasprache als an (neo-)marxistisches Vokabular.
Über all den theoretischen Ansätzen stellt sich zudem die Frage, wo der theoretische Mehrwert der Veröffentlichung (und Dissertation) ist. Die Autorin hat viel gelesen. Aber sie beschränkt sich auf die Wiedergabe von Karl Marx, Rosa Luxemburg, Antonio Gramsci, Stuart Hall und Michel Foucault – um nur einige der Theoretiker zu nennen –, ohne neue eigene Impulse zu setzen. Daher wirkt das Ganze eklektisch. Nicht zuletzt bleibt der Bezug zur „grünen Landnahme“ oft unklar. Keiner der genannten Autoren erachtete Umweltfragen als primäre Forschungsthemen. Speziell zur „grünen Landnahme“ erkennt das Backhouse selbst. Sie schreibt: „Weder Gramsci noch Hall haben je zu politisch-ökologischen Fragestellungen oder grünen Landnahmen gearbeitet, nichtsdestotrotz geben sie mit ihren analytischen Perspektiven auf die Machtfrage im Zusammenhang mit der Wissensproduktion wichtige Impulse, um die sprachlich-diskursive Dimension von gesellschaftlichen Naturverhältnissen analysieren zu können“ (S. 64). Hier liegt das Problem. Denn die Autorin rezipiert zwar die verschiedenen Theorien, erklärt allerdings nicht, wie sie genau auf die eigene Forschungsfrage Anwendung finden. Das gilt insbesondere auch für das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse, weshalb das Theoretische – mit Ausnahme der (fortgesetzten) ursprünglichen Akkumulation – irgendwie nebulös bleibt.
Die Expansion der Ölpalmplantagen
Im 3. Kapitel gibt Backhouse einen sehr knappen Überblick zur globalen Palmölproduktion und zur Ausweitung der Anbaugebiete in Brasilien während der Militär-Diktatur. In dieser Zeit wurden v.a. die agroindustriellen Strukturen mit großflächiger Produktion geschaffen (S. 76). Mehr erfährt man als Leser allerdings nicht über diese historisch bedeutende Landnahme. 1990 gab es jedenfalls bereits knapp 30.000 Hektar, 2009 etwa 50.000 Hektar Ölpalmplantagen (S. 78). Durch das brasilianische „Bundesprogramm für eine nachhaltige Palmölproduktion“ im Jahr 2010 erlangte das Thema jedoch sprunghaft an Bedeutung. Die Anbaufläche hat sich seitdem bis 2013 auf zirka 140.000 Hektar ausgeweitet (S. 96 und S. 112). Hintergrund des Förderprogrammes ist das vorrangige Ziel Brasiliens, die Autarkie bei Palmöl zu erreichen (S. 81), wobei Biodiesel wohl nur eine untergeordnete Rolle spielt. Gemäß Studien und den staatlichen Zonierungsplänen wären in Pará 5,5 Millionen Hektar (S. 79) bereits abgeholzter Flächen für die Palmölproduktion geeignet, wobei ein Anbau außerhalb der ausgewiesenen Flächen untersagt ist. Dies entspricht der Größe von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zusammen. Allerdings ist es bei der Gesamtflächennutzung in Pará allenfalls als Nische zu bezeichnen. Die Ölpalmen nehmen lediglich 0,1 Prozent der Fläche des Bundesstaates ein.
Die Palmölexpansion mit Vertragslandwirten, also (Klein-)Bauern, die sich vertraglich dazu verpflichten, eine gewisse Menge an Palmöl mit einer entsprechenden Qualität zu liefern und dafür eine Abnahmegarantie und einen festen Abnahmepreis vom Vertragspartner erhalten, schreitet relativ langsam voran. Einer der wichtigsten Palmölunternehmen, Vale, hat 2010 gerade einmal 14 Verträge mit Kleinbauern abgeschlossen, 2011 dann 124 und ein Jahr später 300 Verträge (S. 144). Die Tendenz ist möglicherweise steigend, die Gesamtzahl bleibt aber sehr gering. Obwohl die Autorin keine Angaben zu den Kleinlandwirten in Pará macht, so zitiert sie doch einen Mitarbeiter der Staatsregierung, wonach es 187.000 Familien allein in den Agrarreformsiedlungen gibt (S. 161). Dies deutet darauf hin, dass die (fortgesetzte) ursprüngliche Akkumulation im Palmölsektor und die „grüne Landnahme“ möglicherweise nur ein marginales Problem darstellen. Backhouse liefert hierfür kein quantitatives Argument.
Anschauliche Empirie
Die Stärke des Buches liegt im empirischen Teil. Zunächst analysiert die Autorin die Akteurslandschaft (Kapitel 4.2.), wobei sie für Informationen zur Privatwirtschaft u.a. auch das Grundbuchamt konsultierte. Zudem zeichnet sie ein Bild der verschiedenen Gruppen von Kleinlandwirten und sozialen Bewegungen.
Ihre Fallstudien zu Landkäufen, Pilotprojekten und Vertragslandwirtschaft geben einen sehr guten Überblick über die Lage in den Palmölregionen Parás. Der qualitative Charakter der Untersuchung und die nicht einheitliche Tendenz der Erzählungen zu den Erfolgen bzw. Misserfolgen der Landwirte in den Pilotprojekten sowie fehlende quantitative Angaben über die Verbesserung oder Verschlechterung der Lebensbedingungen der Kleinlandwirte erschweren jedoch nicht nur der Autorin die Evaluierung (S. 135), sondern auch dem Leser.
Sehr deutlich zeigt sie hingegen auf, wie die (fortgesetzte) ursprüngliche Akkumulation wirkt. Beispielweise illustriert sie diese Entwicklung dadurch, dass die Kleinlandwirte nach dem Übergang zur Palmölproduktion oft nicht mehr ihre eigenen Nahrungsmittel anbauen können und diese fortan vom freien Markt beziehen müssen. Dadurch geraten sie in Abhängigkeit von den Palmölunternehmen als Abnehmer der Früchte und Lieferant der Inputs sowie zum Spielball der Weltmarktpreise. Zudem verlieren sie de facto komplett die Kontrolle über ihren Landbesitz dadurch, dass der Zugang zu ihrem Land vertraglich dem Unternehmen garantiert und die einzelnen Arbeitsschritte von Agrartechnikern jederzeit überwacht werden. Hinzu kommt, dass sie durch die hohen Anfangsinvestitionen für die Palmölproduktion kaum noch Möglichkeiten haben, den Boden wieder für andere Zwecke zu nutzen (S. 138). Die oftmals ehemaligen Subsistenzlandwirte werden so zu „effizienten, agrarindustriellen Miniunternehmer_innen ‚erzogen‘“ (S. 139). Ein anderer Weg, die Kleinlandwirte in Abhängigkeit der agroindustriellen Strukturen zu bringen, ist die Vergabe von Privatdarlehen der Unternehmen an die Kleinlandwirte. Durch den Kredit an das Unternehmen gebunden und einmal auf die Palmölproduktion umgestellt, gibt es keine Ausstiegschancen mehr. Die Kleinlandwirte sind „auf eine doppelte Weise abhängig vom Unternehmen“ (S. 145). Die Einbeziehung in die kapitalistische Verwertungslogik zeigt sich laut Autorin auch in der Umfunktionierung kleinbäuerlicher Vereinigungen, in der Aufhebung der kollektiven Selbsthilfepraxis und in der Integration der Agrarreformsiedlungen in die Strukturen der agrarindustriellen Palmölkomplexe (Kapitel 6.1).
Das Narrativ vom „Narrativ der degradierten Flächen“
Im letzten Kapitel analysiert Backhouse, was degradierte Flächen sind. Genauer: Sie untersucht das „Narrativ der degradierten Flächen“. Denn ihrer Meinung nach und auf Grundlage der Politischen Ökologie könne „es keine wissenschaftliche oder allgemeingültige Definition einer degradierten Fläche geben“ (S. 184). Es stelle sich vielmehr die Frage „nach der Definitionsmacht, denn was für die einen degradiert sein mag, kann für die anderen die Lebensgrundlage bedeuten“ (ebd.). Angesichts der kargen und nährstoffarmen, ferralitischen Böden im Amazonas ist dies eine sehr gewagte Aussage. Obwohl sie die Basisfakten der Bodenkunde kennt (S. 185-186), geht sie auf die Nährstofffrage nicht weiter ein (einzige Ausnahme: der Verweis auf terra preta – S. 188 – und die Auslaugung der Böden – S. 189, S. 194), sondern wendet sich sozialen Fragen zu: Sind die Kleinlandwirte oder die Großgrundbesitzer für die Degradierung verantwortlich? Die für diese gerodeten oder abgebrannten Böden notwendige Nährstoffzufuhr über künstliche Dünger oder lange Brachzeiten streift sie nur am Rande. Backhouses Analyse fokussiert stattdessen mehr auf die brasilianische Agrarpolitik (inkl. Lobbyarbeit der agroindustriellen Großkonzerne) als auf Fragen der Bodenfruchtbarkeit (siehe z.B. Kapitel 7.2.). Für den Leser erschließt sich allerdings nicht, warum sie die verschiedenen Interessen von Staat, Agroindustrie und Ausland (siehe v.a. auch S. 198) hinter der Palmölexpansion nicht als solche tiefgründig untersucht und den Interessen der Kleinlandwirte gegenüberstellt. Warum nutzt sie das argumentativ auf wackeligen Beinen stehende „Narrativ der degradierten Flächen“? Vielleicht liegt das einmal mehr daran, dass sie die sprachlich-symbolische Analysedimension anderen Analysemethoden vorzog.
Im Übrigen fällt auf, dass die Autorin ihre Analyse nicht vorurteilsfrei betreibt. Beispielsweise beleuchtet sie nicht die Vorgeschichte der Kleinlandwirte. Sie untersucht weder, unter welchen Umständen sie in das Gebiet migrierten, noch ob die Kleinlandwirte selbst ihre Landflächen (illegal) rodeten und nutzen. Jedenfalls kann sie das von verschiedenen Akteuren vorgebrachte Argument, „dass der kleinbäuerliche, traditionelle Brachenfeldbau einen genauso großen Anteil an der Abholzung und Degradierung der Region habe wie die extensiven Viehweiden der Großgrundbesitzer_innen“ (S.203) mit quantitativen Zahlen nicht widerlegen. Sie führt die Debatte stattdessen auf der ideologischen Ebene über das „klassische Modernisierungsdenken“, was nicht zu überzeugen vermag.
Fazit: Trotz Lücken interessante Studie
Alles in allem bietet die Arbeit einen detaillierten Einblick in die Dynamiken der Palmölproduktion in Pará. Analytisch weist sie jedoch einige Ungenauigkeiten und definitorische Lücken auf. Das betrifft besonders das Konzept der grünen Landnahme, das unterschiedlich definiert ist und gerade mit Blick auf die Nutzung „sogenannter degradierter Flächen“ nie ganz klar wird. Dass eine Landnahme vorliegt, wird mehr als deutlich. Aber eine grüne Landnahme? Es gelingt der Autorin nicht, das Konzept entscheidend zu schärfen und von anderen Landnahmen abzugrenzen. Gerade dadurch kommen immer mehr Zweifel auf, ob es überhaupt angewandt werden kann. Denn aufgrund der Unschärfe bei der Definition stellt sich die Frage, was das entscheidende Kriterium für das „Grüne“ darstellt.
Wenn es die Legitimation durch den Klimaschutz ist, könnte das Konzept wohl deshalb nicht angewandt werden, weil die Debatte über die Anerkennung der Palmölplantagen als Wiederaufforstungsgebiete und damit Kohlenstoffsenken andauert (indirekt S. 202 in Verbindung mit S. 196-197, siehe auch S. 215). An einer Stelle schreibt sie zudem: „Die Auseinandersetzungen auf der politischen und gesetzgebenden Ebene um die Zulassung der agrarindustriellen Erschließung der sogenannten degradierten Flächen Amazoniens ist Ende 2013 noch nicht abgeschlossen“ (S. 199, FN 21). Sofern nicht überlesen, bringen also nicht die staatlichen Stellen den Klimaschutz über den Zonierungsplan ein, sondern die agroindustriellen Unternehmen betreiben unter diesem Deckmantel Lobby für möglicherweise andere Zwecke. Ein eventuelles Ziel könnte sein, die hohen Investitionskosten gemäß dem Waldgesetz zu umgehen. Denn demnach dürfen „in der Amazonasregion nur 20 Prozent einer Privatbesitzfläche landwirtschaftlich genutzt werden, was bedeutet, dass die fünffache Landfläche zusätzlich erworben werden müssten“ (S. 199, FN 22) – es sei denn, die Ölpalmplantagen werden als Wiederaufforstungsgebiete anerkannt (S.199).
Wenn dagegen das Besondere der grünen Landnahme die Inwertsetzung degradierter Flächen ist, dann widerlegt sie sich selber, wenn sie behauptet, es könne keine wissenschaftliche oder allgemeingültige Definition einer degradierten Fläche geben (S. 184).
Eine weitere Lücke in der Analyse betrifft die Biokraftstoffproduktion – gleichwohl dies der Aufhänger für die Studie war. Gegen Ende dreht sich die Untersuchung fast ausschließlich um die Palmölproduktion. Auch wenn daraus Biodiesel gewonnen werden könnte, geht sie auf dieses Thema überhaupt nicht ein. Zudem vermisst der Leser eine stärkere Einbindung der vorliegenden Analyse in die historische (und aktuelle) nationale Agrarpolitik in Brasilien. Sicherlich hätte die Autorin damit stärkere Argumente und Erklärungen gefunden als mit der sprachlich-symbolischen Analysedimension.
Gelungen ist ihr gleichwohl die Darstellung und praktische Wirkung des Konzepts der (fortgesetzten) ursprünglichen Akkumulation. Das ist sicherlich die Stärke des Buches, auch wenn die Fallzahlen sehr klein bleiben. Die Landnahme (ohne das Prädikat „grün“), also die Änderungen bei den Landnutzungs- und Landzugangsverhältnissen, hat sie sehr anschaulich dargestellt (siehe z.B. auch die Zusammenfassung auf S. 216-218). Damit gibt das Buch einen interessanten Einblick in die Auseinandersetzungen um Land zwischen der Agroindustrie und den Kleinlandwirten im Amazonas.
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Backhouse, Maria: Grüne Landnahme.
Palmölexpansion und Landkonflikte in Amazonien
Verlag Westfälisches Dampfboot,
2015, 264 S.
Bildquellen: [1] Buch-Cover; [2] Public Domain; [3] Neil Palmer_