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Padura, Leonardo: Anständige Leute

Gabriele Eschweiler | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

Verleumder, Verschwörer, Verräter und ihre Rächer – lauter anständige Leute

In Anständige Leute (span.: Personas decentes, Tusquets Editores 2022) – seinem zehnten Roman um den kubanischen Privatermittler Mario Conde – verknüpft Leonardo Padura zwei Erzählstränge, die mehr als ein ganzes Jahrhundert auseinanderliegen und in denen er Historisches mit Fiktivem vereint.

Der aktuellere Teil spielt im Frühjahr 2016, als Barack Obama mit seinem symbolträchtigen Besuch auf Kuba das Ende der bis dahin zwischen diesen beiden Staaten herrschenden diplomatischen Eiszeit einläutet, die Rolling Stones für 500.000 Besucher ein epochales Gratiskonzert in Havanna geben und Karl Lagerfeld mit der Chanel Cruise Collection und seinen Topmodels hochexklusive europäische Designermode auf die Insel bringt. Diese äußerst medienwirksamen Ereignisse sorgen für weltweite Aufmerksamkeit und bei der kubanischen Bevölkerung für Aufbruchsstimmung und Hoffnung auf ein besseres Leben.

Kurz vor dem Eintreffen des amerikanischen Präsidenten bittet der frischgebackene Teniente Coronel Manuel Palacios den ehemaligen Kommissar Mario Conde um Mithilfe bei der Aufklärung des Mordes an Reynaldo Quevedo. Dieser war im kubanischen Einparteienstaat ein linientreuer Zensor gewesen, der für die Regierung Informationskontrolle ausgeübt und die Kunstfreiheit in höchstem Maße bedroht hatte. Wie schon bei der Inquisition in der Zeit der spanischen Kolonialherrschaft wird alles vom Regime Unerwünschte unterdrückt – und das im öffentlichen und privaten Bereich. Das Spektrum der dabei eingesetzten Mittel reicht von Willkür über Machtmissbrauch und Korruption bis hin zu Grausamkeit und der kompletten Zerstörung von Existenzen. Gleichzeitig ließen sich auf diese Weise wertvoller Besitz der Verfolgten sowie ihre Kunstwerke enteignen und in den illegalen Besitz der staatlich eingesetzten Sittenwächter bringen. So auch im Falle des Ermordeten, der „seiner Zeit federführend für die Unterdrückung der kubanischen Kunstwelt verantwortlich gewesen war“. Dass ein derartiger „Bluthund, den die, die im Land das Sagen hatten, zur Aufrechterhaltung der ideologischen Reinheit auf die Bewohner der kubanischen Republik der Künste angesetzt hatten“, sehr viele Feinde gehabt haben muss, stellt die Ermittler vor ein großes Problem.

Kapitelweise alternierend zu der auktorial dargebotenen Handlung im Jahre 2016 bringt der zweite Strang die Ich-Erzählung des jungen und aufstrebenden Polizisten Arturo Saborit Amargó, der Anfang des 20. Jahrhunderts in den Bann des historischen Alberto Yarini y Ponce de León gerät. Leonardo Padura verarbeitet hier eigenes journalistisches Material, das er als junger Reporter der Abendzeitung Juventud Rebelde recherchiert, 1987 unter dem Titel Yarini, el rey (dt.: Yarini, der König) in zwei Sonntagsbeilagen und 1994 in dem Band El viaje más largo (dt.: Die längste Reise) veröffentlicht hatte.

Im Roman tritt der literarisch ambitionierte Conde als Urheber dieser Erzählung auf. Schauplatz ist das Rotlichtviertel Havannas, wo sich die alteingesessenen französischen Zuhälter und Bordellbetreiber („Apachen“) um Louis Lotot mit dem kubanischen äußerst charismatischen Newcomer Alberto Yarini und seinen Leuten („Guayabitos“) einen erbitterten Konkurrenzkampf liefern.

In dieser angespannten Situation soll Arturo Saborit die Morde an zwei Prostituierten aufklären.

Wie in Honoré de Balzacs Glanz und Elend der Kurtisanen (fr.: Splendeurs et misères des courtisanes, 1838–1846) nach der Julirevolution, die 1830 die französische Monarchie zu Fall brachte, das Volk die Macht übernimmt, so auch in der noch jungen Republik Kuba, die 1902 ihre formale Unabhängigkeit erlangt hatte. Gesellschaftlich führte das in beiden Staaten zu einer ausgeprägten Vergnügungs- und Verschwendungssucht. Mit einmal waren selbst die Liebe, die Macht, das Prestige und vieles andere mehr zu käuflichem Gut verkommen. Dass dabei große Teile der Bevölkerung leer ausgingen, spielte keine Rolle.

Auf Kuba wird der seit der Eigenstaatlichkeit herrschende Optimismus jäh unterbrochen durch die Schreckenskunde vom bevorstehenden Ende der Menschheit durch den die Erde durchquerenden riesigen Schweif des Kometen Halley. Letztlich stellt dies aber nur eine Art retardierendes Moment dar, da die befürchtete Apokalypse nicht eintritt. An der Feierlaune der Bevölkerung hat aber weder das eine noch das andere etwas zu ändern vermocht. Mit der näher rückenden Auslöschung allen irdischen Daseins mündete die Endzeitstimmung in ungezügelte Freuden, ein Phänomen, das schon in den Zeiten von verheerenden Seuchen wie Pest und Cholera, festzustellen war. „Wollust und Ekstase“ waren an der Tagesordnung; auf den Straßen, in Lokalen und Privathäusern stürzten sich die Bewohner Havannas in „alle möglichen abartigen Vergnügungen“. Als die vorhergesehene Katastrophe am Ende ausbleibt, wird das leidenschaftliche Feiern des Lebens ungemindert, nun aber unter einem positiven Vorzeichen fortgesetzt.

Tragischerweise konnte sich für die Kubaner die Aussicht auf Freiheit und individuellen Wohlstand zu Anfang des 20. Jahrhunderts genauso wenig wie im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erfüllen. Wie ein roter Faden durchziehen die Begriffe Anstand (decencia) und anständig (decente) den Roman. Menschen, die über keinerlei Anstandsgefühl, dafür aber hohe kriminelle Energie verfügen, bekleiden Staatsposten, bei denen sie ex lege unschuldige Leute schikanieren, unterdrücken und zugrunde richten. Unbescholtene Bürger lassen sich zu illegalen Handlungen hinreißen, um das Unrecht der Amts- und Würdenträger, die sich als Unmenschen erwiesen haben, zu rächen.

Condes und Saborits Ermittlungsergebnisse mögen auf den ersten Blick verwundern, denn die Mörder sind nicht wie normalerweise anzunehmen im kriminellen Milieu zu finden, sondern entstammen soliden gutbürgerlichen Verhältnissen und zählen zu den vermeintlich Rechtschaffen(d)en.

Das Bild vom ehrenwerten Menschen, der letztlich alles andere als das ist, findet sich bereits in William Shakespeares historischem Drama Julius Caesar (eng.: The Tragedy of Iulius Cæsar, 1599), aber auch in Honoré de Balzacs Gesetzbuch für anständige Menschen (fr.: Code des gens honnêtes, 1825), in dem der als Jurist ausgebildete Schriftsteller anhand einiger Porträts die bürgerliche Scheinanständigkeit entlarvt und Menschen beschreibt, „die eine Gesellschaft verunstalten“: „Es genügt nicht, ein anständiger Mensch zu sein. Man muss es auch zeigen“ (Honoré de Balzac).

 

Leonardo Padura

Anständige Leute

Unionsverlag. Zürich 2024

 

Bildquelle: CoverScan

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