Vor der Frage, was mir ein Reisetagebuch über ein bestimmtes Land bieten könne, stand ich schon des Öfteren. Meistens hatte ich mich dagegen entschieden, was mir oft guten Gewissens von anderen Lesern bestätigt wurde. Im Angesicht des Rezensionsexemplars von „Ein Zug aus Eis und Feuer – Mit Mano Negra durch Kolumbien“ des Autors Ramon Chao, dem Verfasser der französischen Originalversion aus dem Jahr 1994, stellte sich diese Frage erneut. Um sie gleich zu beantworten: Ich hatte Glück, habe wohl aber auch den passenden Zeitpunkt für das Lesen gewählt – eine Zugfahrt. Die gängigen Klischees, die mir zu Kolumbien einfielen – Gewalt (Bürgerkrieg, Guerilla, Paramilitärs), Drogen, Gabriel García Márquez, Cumbia etc. – habe ich von vornherein zu vergessen versucht, wurde aber schnell von ihnen wieder eingeholt. Das Cover der 2008 bei Nautilus erschienenen deutschen Ausgabe versprach, zumindest die in meiner Wahrnehmung meist negativ besetzten Kolumbienbilder nicht unbedingt bedienen zu wollen. Wie sollte das auch möglich sein bei einem Bericht über ein derart ausgefallenes Projekt, das bereits 1993 dutzende Künstler und Artisten in einem eigenhändig gestalteten Zug durch die nordöstliche Provinz des Andenlandes geführt hatte? Unter ihnen befanden sich Manu Chao und sein Vater Ramon Chao, der Berichterstatter der abenteuerlichen Reise.
Es muss für die Kolumbianer schon ein komischer Anblick gewesen sein: eine bunte Mischung aus Franzosen, Kolumbianern und Brasilianern in einem alten aufgetakelten Zug. Oder leicht überspitzt, wie es Ramon Chao, der sich selbst als Chronist bezeichnet, ausdrückt: „eine ganze Bande Tätowierter, Punkrocker, mit … eher rotzigem Benehmen und einige mit Verbrechermienen“. Die knapp sechswöchige Reise im Expreso de Hielo führte sie auf einer schon lange stillgelegten Bahnstrecke von Facatativá in der Nähe der Hauptstadt Bogota im Landesinneren über 1.000 Kilometer an die karibische Küste nach Santa Marta und wieder zurück. Unterwegs gab „die Bande“ kostenlose musikalische, künstlerische und artistische Darbietungen für die begeisterte Bevölkerung. Die wohlklingenden Namen der Stationen wie Aracataca, Bosconia, Gamarra, Barrancabermeja oder La Dorada – allesamt vernachlässigte Orte fernab der so genannten Zivilisation – täuschen eine gewisse Harmlosigkeit und Friedlichkeit vor. Doch sie sind alles andere als ungefährlich, zum Teil Einfluss- und Operationsgebiet von Guerilla, Militär, Paramilitärs oder Drogenhändlern. Warum also nahm die Truppe um Manu Chao das auf sich?
Eine vage Idee entstand bereits auf der Tournee Cargo ’92, als hauptsächlich größere Städte in Lateinamerika angesteuert wurden. Als einer der Protagonisten Wind davon bekam, dass die kolumbianische Regierung plane, das marode Schienennetz des Landes zu verbessern, war der gedankliche Schritt zu einem derartigen Zug nicht weit. Die Konzerte sollten in kleinen Orten stattfinden, für die Zuschauer gratis sein und in den etwas abgelegenen Bahnhöfen stattfinden. Gesagt, getan. In logistischer, menschlicher und politischer Hinsicht kein leicht zu realisierendes Vorhaben, wie es von Ramon Chao bildhaft vor Augen geführt wird. Der stete Mangel an Sponsorengeldern, die basisdemokratische, aber etwas chaotische Organisation ebenso wie die politische Vereinnahmung durch Provinzpolitiker drohten, die gesamte Tour etliche Male zu kippen. Hinzu kam die ständige Gratwanderung, aufgrund der unpolitischen Ausrichtung des Unterfangens, keinen militärischen Schutz in Anspruch zu nehmen – was nicht immer gelang. Aber selbst die keinesfalls optimale Versorgung und Hygiene, die wechselnden klimatischen Bedingungen sowie etliche Entgleisungen des Zuges schafften es nicht, die Hartgesottensten von dem Vorhaben abzubringen. Auch nicht nachdem von 99 anfänglichen Teilnehmern nur noch 40 übrig geblieben sind. Volkes Stimme – in Form der Techniker der staatlichen Eisenbahngesellschaft Ferrovías – spricht ein Machtwort und keiner möchte die bereits wartenden Bewohner entlang des Flusses Magdalena enttäuschen.
Die Motivation und der Dank für die Strapazen sind die Reaktionen der Leute, ihre offene, gastfreundliche und liebenswerte Art. Ein wenig pathetisch, in Anspielung an die mitgereisten Hautverzierer, schreibt Chao im Hinblick auf individuelle aber auch kollektive Erinnerungen von „unauslöschlichen Tätowierungen in unserer Seele“. Wie an einigen Stellen erwähnt, ist es in Kolumbien nicht ohne weiteres möglich, ein paar tausend Menschen zusammenzubringen, ohne dass es Tote oder Verletzte gibt. Das haben die Künstler und Artisten um Mano Negra, die French Lover sowie etliche andere eindrucksvoll widerlegt. Sie haben den Leuten ein paar unbeschwerte, friedvolle und ausgelassene Stunden beschert; aber auch Erwartungen und Sehnsüchte geweckt, wie sie in den im Traumbüro eingegangenen Briefen gut dokumentiert sind. Der Wunsch nach Frieden, ein Leben ohne die alltägliche Gewalt oder die Drogen sowie ein Ausweg aus der Armut sind die am häufigsten geäußerten Wünsche. Etliche Kinder und Jugendliche versuchten die Chance, ihrem Alltag zu entkommen, direkt wahrzunehmen, indem sie als blinde Passagiere heimlich auf den Zug aufstiegen, was für einige lustige Anekdoten sorgte, aber gelegentlich auch zu Problemen führte.
Das Buch mit seinen 219 Seiten (inkl. Vorwort von Ignacio Ramonet und Nachwort von Christoph Twickel) liest sich flüssig und in seinem lockeren Tagebuchstil fast schon nebenbei, was auch an der guten Übersetzung von Andrea Scheunert liegt. Aufgrund der Abgeschlossenheit der tagebuchartigen Kapitel kann man sich für das Buch getrost etwas länger Zeit lassen, Kapitel überspringen usw. Der Chronist, am Anfang vom eigenen Sohn gemahnt, nicht zu viele literarische Anspielungen zu machen und für alle verständlich zu schreiben, kommt zumindest letzterem im gesamten Werk nach. Die Anspielungen halten sich in Grenzen und beziehen sich hauptsächlich auf Personen und Orte aus Gabriel García Márquez’ Roman Hundert Jahre Einsamkeit. Darüber hinaus beweist Ramon Chao ein beeindruckendes Wissen historischer und politischer Hintergründe, was an manchen Stellen allerdings ein wenig oberlehrerhaft daherkommt. Trotzdem oder gerade deswegen erfährt man so einiges über das Land und seine Menschen. Der unterhaltsame Plauderton sowie die eingestreuten Anekdoten und Bonmots runden die Leichtigkeit des Buches ab und passen irgendwie zum inhaltlichen Geschehen. Ein Buch, das man am besten selbst auf einer Fahrt oder Reise lesen sollte oder einfach nur, um die Gedanken schweifen zu lassen. Noch eine letzte Äußerung zu den Klischees: Sie wurden natürlich bedient, zum einen weil in ihnen immer auch ein Funke Realität steckt, zum anderen weil sie – wie im Falle der alltäglichen Gewalt – zur traurigen und unausweichlichen Wahrheit Kolumbiens gehören. Zum Glück handelt die Erzählung vom Eisexpress nicht nur davon.
Ramon Chao:
Ein Zug aus Eis und Feuer – Mit Mano Negra durch Kolumbien,
Edition Nautilus, 2008,
ISBN 978-3-89401-564-0