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Che Guevarra, Ernesto: Das bolivianische Tagebuch – Die verschiedenen Ausgaben wieder gelesen aus Anlass des 50. Todestages von Ernesto Che Guevara

Gonzalo Compañy | | Artikel drucken
Lesedauer: 14 Minuten

Vor 50 Jahren, am 9. Oktober 1967, wurde Ernesto Che Guevara von der Bolivianischen Armee und der CIA im bolivianischen Dorf La Higuera ermordet. Mit dem Tod Guevaras und der Guerilleros, welche zusammen mit ihm festgenommen wurden, erreichte das am 7. November 1966 begonnene Guerilla-Projekt sein Ende. Die sterblichen Überreste Ches wurden erst 1997 von einem aus Kubaner und Argentiniern bestehenden Anthropologen-Team lokalisiert und exhumiert. Seitdem ruhen sie in einem Mausoleum in der kubanischen Stadt Santa Clara.

Kurze Zeit nach seinem Tod erhielt die Revolutionsregierung Kubas eine erste Kopie des Bolivianischen Tagebuchs, deren Erwerb laut Fidel Castro „ohne jegliche Bezahlung erfolgte“ und bereits am 1. Juli 1968 mit einem Vorwort Castros auf Spanisch erschien. Fast gleichzeitig wurde sie ins Französische, Italienische, Englische und Deutsche übersetzt und veröffentlicht. Im Laufe der Zeit erschienen Übersetzungen in den unterschiedlichsten Sprachen. Die erste Ausgabe in Deutsch wurde 1968 überraschenderweise nicht in der DDR sondern vom Trikont Verlag in der BRD verlegt. In der DDR erschien das Tagebuch erst 20 Jahre später (1988 beim Verlag Volk und Welt) anlässlich des 60. Geburtstages Guevaras. Die erste vollständige deutsche Ausgabe erschien 1992 im Pahl-Rugenstein Verlag.

Außerdem muss die Übersetzung des Anfangs 1968 von Héctor Oesterheld, Alberto Breccia und dessen Sohn Enrique in Argentinien konzipierten Graphic Novels „Vida del Che“ [dt.: Das Leben Ches] erwähnt werden. Auch wenn dieses Werk sich nicht auf das Bolivianische Tagebuch beschränkt, bildet dieses dennoch den roten Faden in Oesterhelds biographischer Darstellung. „Vida del Che“ erschien sogar vor der ersten, offiziellen Ausgabe des Tagebuchs und erreichte damals ein breiteres Publikum in Argentinien. Die erste deutsche Fassung erschien erst 2008 im Carlsen Verlag unter dem Titel Che und enthält zusätzlich biographische Informationen über die Autoren – Oesterheld wurde 1977 zusammen mit seinen vier Töchtern von der Diktatur entführt und gilt bislang als „Desaparecido“ (dt.: Verschwundener). Außerdem ist die Ausgabe durch einige Anmerkungen zu historischen Figuren, die im Graphic Novel erwähnt werden, eine Chronologie von Ches Leben sowie ein kurzes Interview mit dem Zeichner Enrique Breccia ergänzt worden.

Trikont_Ausgabe_BuchCoverIn den 1980er Jahren ist das Tagebuch aus dem Depot der Bolivianischen Armee gestohlen worden, und nachdem es 1986 in London wieder auftauchte, wurde es von der Bolivianischen Regierung bei einer Auktion zurückgekauft. Seitdem wird das Originalmanuskript von der Bolivianischen Zentralbank aufbewahrt. Das Kulturministerium Boliviens veröffentlichte 2007 die erste Faksimileausgabe, welche seit 2012 anlässlich des 45. Todestages von Che frei aus dem Internet heruntergeladen werden kann.1 2009 gab der bolivianische Historiker und Journalist Carlos Soria Galvarro T. eine Ausgabe heraus, welche anhand der Faksimile eine deutlich verbesserte Version des Tagebuchs zur Verfügung stellt.2 Durch das Vergleichen des Manuskripts mit der ersten spanischen Ausgabe, welche bisher als „Original“ galt, wurden mehrere Ungenauigkeiten identifiziert. Dabei handelt es sich einerseits um typographische und Interpunktionsfehler sowie um Missverständnisse bei der Entzifferung der Handschrift. Andererseits erlaubte der Vergleich die Identifizierung nicht nur unbeabsichtigter bzw. technischer Fehler sondern auch kleine Änderungen des Textaufbaus. Da die zahlreichen Übersetzungen auf der ersten spanischen Ausgabe beruhen, wurden die darin enthaltenen Ungenauigkeiten und Fehler quasi geometrisch reproduziert, was eine Überprüfung aller bisherigen Ausgaben notwendig macht.

Das Tagebuch-Format stellte für Che ein wichtiges Mittel dar, um die täglichen Ereignisse systematisch zu bewerten. Bereits seine ersten Streifzüge durch Lateinamerika waren von ihm auf diese Weise dokumentiert worden. Besonders nach dem Guerillakampf auf Kuba wusste er sehr wohl, dass jeder einzelne Faktor eingetragen werden muss, um Strategien unmittelbar zu berichtigen, neue Maßnahmen zu ergreifen, Geschehnisse auszuwerten usw. Anhand des Siegs der kubanischen Revolution ist anzunehmen, dass die Bolivianischen Hefte anderen Guerilla-Bewegungen bzw. kommenden Generationen nützlich sein sollten, um eine kritische Evaluierung der Ereignisse vornehmen zu können.

Die bereits erwähnte erste vollständige deutsche Ausgabe (VA) basiert auf der 1988 auf Kuba verlegten Version des Tagebuchs3. Diese von Horst-Eckardt Gross herausgegebene VA enthält die 13 bisher fehlenden Tage, die nicht in den ersten Versionen des Tagebuchs zu finden waren. Im Gegensatz zu der ersten spanischen Ausgabe, welche nach ausdrücklichem Hinweis von Fidel Castro fast ohne Anmerkungen veröffentlicht worden war, enthält die von Cupull und González verlegte Version einige Notizen und kurze Erklärungen, die sie aufgrund eines langen Aufenthalts an den Schauplätzen formuliert haben: Kurze Informationen bzgl. bestimmter Wörter und Namen (Tiere, Orte, Gerichte), politische Hinweise und relevante Akteure. Auch wenn die erste BRD- und die erste DDR-Ausgabe einige Worterklärungen enthalten, hält die VA mehr Erläuterungen und andere zusätzlichen Anmerkungen für das deutschsprachige Publikum bereit. Obwohl es sich um Exzerpte handelt, ermöglichen die Dokumente, die Gross hinzufügt, eine Kontextualisierung des Projekts von Che Guevara und dessen Weltanschauung – u.a. Abschiedsbriefe Ches an seine Familie (1966), Rede vor der Versammlung der UNO (1964), Auszüge aus der „Botschaft an die Völker der Welt“ (1967). Außerdem hat der Herausgeber Gross ein Nachwort geschrieben, das den Lesern eine kritische Analyse ermöglicht sowie offene Fragen nach der Entstehung, Niederlage und Gegenwart des Projekts Che Guevaras in Lateinamerika benennt. Weder die VA noch die BRD- und DDR-Ausgabe berücksichtigen die Botschaften „An das Bolivianische Volk“ oder „An die bolivianischen Bergbauern“, die von der Guerilla verabschiedet worden waren und eine logische Ergänzung zum Tagebuch darstellen.

Im Gegensatz zu der ersten BRD-Ausgabe (Trikont) enthalten die VA (Pahl-Rugenstein) und die DDR-Ausgabe (Volk und Welt) Kurzbiographien der Guerilla-Teilnehmer. Dieser Abschnitt ist bei der VA zwar verbessert und systematischer konzipiert als bei der DDR-Ausgabe, dennoch ist paradoxerweise gerade in den biographischen Angaben Che Guevaras ein Fehler aufgetreten: „geboren am 14.7.“ statt am 14.6. Gewiss hatte die Guerilla Kommunikationsschwierigkeiten mit der „Außenwelt“ und die Berichte der unterschiedlichen Massenmedien spielten bei der öffentlichen Rezeption bzw. der propagandistischen Darstellung der Auseinandersetzung mit der Bolivianischen Armee eine wesentliche Rolle. Dazu stehen den Lesern offizielle Angaben der Bolivianischen Armee bzgl. der Gefechte und eigener Verluste zur Verfügung, welche sich gut mit den Tagebuch-Eintragungen kombinieren lassen. Die VA enthält keine Abbildungen (Bilder der Guerilla und der Festnahme Ches, Tagebuch-Faksimile, Kartenzeichnungen Guevaras), welche bereits in der DDR- und BRD-Ausgabe zu finden waren. So hätten die erst 2009 entdeckten Fehler vielleicht vermieden werden können.

Volk und Welt_Ausgabe_BuchCoverDie Eintragungen, die Che während der elf Monate täglich im Tagebuch vornahm, beziehen sich auf die verschiedensten Aspekte seiner Guerilla-Kampagne. Am Ende jedes Monats machte er außerdem eine kurze Analyse, die eine Evaluierung der Ereignisse der verstrichenen Tage enthielt. Diese monatlichen Rückblicke fassen die wichtigsten Ereignisse zusammen und zeigen die möglichen Perspektiven der Guerilla auf. Neben geographischen (Lage, Höhe, zurückgelegte Strecke) und organisatorischen Informationen wie etwa der Bau von Unterkünften und Unterschlüpfen, Besorgung von Wasser und Essen („Das Essen: 3 kleine und ein halbes Vögelchen sowie die restlichen Palmitos. Ab morgen nur noch Konserven…“ [7.3.1967, VA]) sowie den Beschreibungen der ständigen Problemlösungen und Entscheidungen („wir beschlossen, das Pferd zu essen…“ [16.3.1967, VA], sind zahlreiche Notizen bzgl. des individuellen und Gruppenverhaltens zu finden: „Die unangenehmen Zwischenfälle zwischen Compañeros verderben die Arbeit“ [6.1.1967, VA], „Die Milch ist einer der Perversions-Faktoren“ [14.4.1967, VA], „Ich kritisierte die mangelnde Selbstdisziplin und das langsame Marschtempo…“ [29.6.1967, VA].

Diesbezüglich muss eine Anmerkung zu den drei erwähnten deutschen Übersetzungen gemacht werden: Aufgrund des Auftretens von Problemen zwischen Guerilleros bzw. in Hinblick auf die Selbstdisziplin, welche aus Sicht Guevaras das ganze Projekt gefährdeten, hielt er es mehrere Male für wichtig, sofortige Maßnahmen zu ergreifen. Unter diesen Umständen verwendete Che immer wieder das gleiche Wort „descargas„. Da das Tagebuch nicht als literarisches Werk konzipiert war, handelt es sich um einen sehr spezifischen Begriff, der in den drei deutschsprachigen Editionen des Bolivianischen Tagebuchs unterschiedlich übersetzt bzw. wiedergegeben wird. Dazu einige Beispiele:

1) „Nach dem Unterricht sprach ich über die Eigenschaften der Guerilla und die Notwendigkeit einer größeren Disziplin…“ [6.1.1967, BRD 1968]; „Nach dem Unterricht habe ich eine kleine Standpauke über die Anforderungen an die Guerilla und über die Notwendigkeit einer besseren Disziplin gehalten…“ [DDR 1988]; „Nach dem Unterricht habe ich die Eigenschaften der Guerilla kritisiert und die Notwendigkeit einer besseren Disziplin hervorgehoben…“ [VA 1992].

2) „… hielt anschließend eine kleine Strafpredigt“ [21.1.1967, BRD 1968]; „… hielt ich ihnen noch eine kleine Standpauke“ [DDR 1988]; „… sagte ihnen dann noch etwas unverblümt meine Meinung“ [VA 1992].

3) „Bevor wir losgingen, sammelte ich alle Leute und überfiel sie mit einem Redeschwall zu den bestehenden Problemen…“ [14.5.1967, BRD 1968]; „Vor dem Abmarsch rief ich alle zusammen und hielt ihnen wegen der aufgetretenen Probleme einen Standpauke…“ [DDR 1988]; „Bevor wir loszogen, versammelte ich alle Männer äußerte mich sehr deutlich über die aufgetretenen Probleme; hauptsächlich wegen der Nahrungsmittel…“ [VA 1992].

4) „Abends versammelte ich alle Männer, um ihnen folgendes zu sagen…“ [8.8.1967, BRD 1968]; „Am Abend rief ich alle zusammen und hielt ihnen folgende Lektion…“ [DDR 1988]; „Am Abend versammelte ich alle Leute und sprach deutlich mit ihnen…“ [VA 1992].

Wie den Zitaten zu entnehmen ist, wird das Wort auf verschiedene Weise übersetzt. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass sich an der Übersetzung der BRD-Ausgabe acht ÜbersetzerInnen beteiligten, während bei der DDR-Ausgabe nur ein einziger Übersetzer tätig war. Obwohl sich an der vollständigen Ausgabe (VA) ebenfalls nur eine einzige Person beteiligte, werden die „descargas“ doch mit unterschiedlichen Formen ausgedrückt. Auch wenn die DDR-Ausgabe m.E. am besten die Bedeutung des Begriffs trifft, sollte man das Wort nicht so oft wiederholen. Es kann angenommen werden, dass es sich um Versuche handelt, den Text zu „verbessern“, um das Lesen etwas zu erleichtern bzw. der Monotonie einer Schrift, welche nicht zur Veröffentlichung gedacht war, zu entkommen. Auch wenn – allgemein betrachtet – alle Übersetzungen unvermeidlich eine Veränderung des Originaltextes zur Folge haben, ist es trotzdem zu bedauern, dass redaktionelle Bearbeitungen eher Wert auf stilistische Aspekte statt auf die Wiedergabe der Stimme des Autors legen. So verwundert es nicht, denn selbst die „Originalausgabe“, welche laut Fidel minutiös kontrolliert worden war und ohne Änderungen erscheinen sollte, doch nicht frei von kleinen, stilistischen Korrekturen war.Pahl-Rugenstein_Ausgabe_BuchCover

Wie bereits erwähnt, versuchte Che jedes Ereignis im Griff zu haben, um eventuelle Probleme zu lösen und um daraus folgende, schwerwiegende Fehler zu vermeiden. Zahlreiche Notizen betreffen die persönlichen Umstände seiner Leute: „Joaquín sagte mir, daß Marcos betroffen sei durch die Erwähnung seiner Fehler bei der Versammlung vor einigen Tagen. Ich muß mit ihm sprechen“ [12.1.1967, VA], „Die Stimmung der Leute ist schlecht und körperlicher sind sie jeden Tag schwächer…“ [4.3.1967 VA]. Außerdem hinterließ Che Notizen über sich selbst, welche die Ehrlichkeit, mit der das ganze Tagebuch geschrieben wurde, erkennen lässt: „… als ich erwachte, war ich sehr erleichtert, aber auch vollgeschissen wie ein Säugling“ [16.5.1967, VA]. „Mir fehlte der Mut, auf sie zu schießen, und mein Gehirn funktionierte nicht schnell genug, um sie festzuhalten…“ [3.6.1967, VA], „Paco erholt sich, aber ich bin ein menschliches Wrack und der Vorfall mit der Stute beweist, daß ich in einigen Momenten die Beherrschung verloren habe…“ [8.8.1967, VA]

Die Effizienz der Gruppe war vor den ersten Auseinandersetzungen mit der Bolivianischen Armee geprüft und schonungslos beobachtet worden: „Um 7.30Uhr brachen wir zu einem Nachtmarsch auf, der zeigte, was wir noch alles lernen müssen“ [12.2.1967, VA], „Es fehlt noch viel, um aus dem hier eine kampfstarke Truppe zu machen…“ [22.4.1967, VA]. Die Weiterentwicklung der Guerilla wurde von ihm nicht nur kritisch betrachtet, sondern natürlich auch gefördert. Wie auch in anderen seiner Schriften zu lesen ist, welche beispielsweise über sein Revolutionskonzept und seine Weltanschauung informieren, spielte in Bolivien die Ausbildung eine wesentliche Rolle bei der Schaffung der Revolutionäre bzw. des „Hombre Nuevo“: „… diese Art des Kampfes gibt uns die Möglichkeit; Revolutionäre zu werden, die höchste Stufe der menschlichen Gattung…“ [8.8.1967, VA]. Daher wurde dem Unterricht ein zentraler Platz eingeräumt: „… begannen wir, Quechua zu lernen“ [11.1.1967, VA] oder: „Ich begann einen kleinen Kurs über Debrays Buch“ [12.4.1967, VA]. 

Neben diesen oft kritischen Anmerkungen bezüglich des internen Funktionierens der Guerilla wird die Reaktion der Bauern gegenüber der Guerilla mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, denn der Auftakt des angestrebten Aufstands hing weitestgehend davon ab, wie sich die Bauern verhielten. „Es sind arme Bauern und wegen unserer Anwesenheit sehr verängstigt“ [16.4.1967, VA], …die bäuerliche Basis entwickelt sich weiterhin nicht; obwohl es so aussieht, daß mittels geplantem Terror die Neutralität der anderen erreicht werden könne, die Unterstützung wird später folgen“ [Analyse des Monats-April, VA], „…die Bauern uns in keiner Weise unterstützen und zu Denunzianten werden“ [Analyse des Monats-September, VA], „…die Leute, die bei unserem Anblick geflohen waren, näherten sich dann jedoch wieder und waren freundlich“ [25.9.1967, VA]. Zahlreiche Eintragungen informieren über die Fokus-Strategie der Guerilla und die diesbezügliche Rolle der Bauern, wobei quasi eine Gegen-Propaganda eine zentrale Rolle spielte: „Der Hausbesitzer war nicht gekommen und ein Zettel wurde zurückgelassen mit Aufstellung der Schäden oder Kosten; jedem Landarbeiter und der Magd wurden für ihre Arbeit 10 Pesos gezahlt“ [12.5.1967, VA], „Wir haben alles bezahlt, was wir in Batey konsumiert haben“ [22.5.1967, VA], „…ließen wir die vier Bauern laufen, jedem bezahlten wir 10 Pesos für ihren Tag“ [2.6.1967, VA]. Im Gegensatz zu der Gewalt der Mächtigen bzw. des Systems zeigen die Guerilleros, dass der bewaffnete Kampf kein Selbstzweck ist, sondern vielmehr ein Mittel darstellt, Solidaritätsbeziehungen aufzubauen und sich gegen den Unterdrücker zu vereinen. In diesem Sinne wurde gleichzeitig auf verschiedene Weise versucht, die Fahnenflucht der Soldaten der Bolivianischen Armee zu fördern, um die Diktatur zu untergraben. So seien die Soldaten außer eventuellen Wehrpflichtigen auch Teil des ausgebeuteten Volkes: „Die Anrufe müssen bekannter werden, um die totale Demoralisierung der Soldaten zu erreichen, die nach den Angaben der Unterhändler die Hosen vollgeschissen haben“ [20.4.1967, VA]. „[wir]… ließen die Soldaten nach einem Gespräch frei“ [9.5.1967, VA]. „Wir lasen ihnen die Leviten und dann wurden sie nur mit Unterhosen freigelassen…“ [26.6.1967, VA]. „…ließen wir die drei Bauern und den Soldadito frei, nachdem wir intensiv mit ihnen gesprochen haben […] Der Soldadito erklärt, daß er desertieren werde“ [18.6.1967, VA].

Trotz der schweren Umstände und Lebensbedingungen sind die Tagebuch-Eintragungen nicht frei von Humor und Ironie: „Ich vergaß, eine Tatsache hervorzuheben: Heute, nach etwas mehr als sechs Monaten, habe ich gebadet. Das ist ein Rekord, den einige andere bald erreichen werden“ [10.9.1967, VA], „Tag des Rülpsens, Furzens und Durchfalls; ein wahres Orgelkonzert“ [13.5.1967, VA]. Sogar am letzten Guerilla-Tag schrieb Che: „Ohne Komplikationen und idyllisch verging der Tag, an dem wir vor 11 Monaten unsere Guerilla-Aktivitäten begannen…“ [7.10.1967, VA]. Auch der bereits erwähnte Descarga-Begriff war trotz seiner hochpolitischen Bedeutung – oder wohl gerade deswegen – mit Humor verwendet worden.

Abschließend lässt sich sagen, dass das Tagebuch 50 Jahre nach seiner Konzipierung eine vielfältige, immer noch aktuelle Schrift darstellt, deren Lektüre notwendiger denn je ist. Auch wenn sich die Welt seitdem grundlegend verändert hat, verliert das Tagebuch doch nicht an soziopolitischer Aktualität, denn Armut, Hunger, Korruption und Abhängigkeit sind in Lateinamerika an der Tagesordnung. Die sogenannten Entwicklungsländer sind nach wie vor nicht nur Länder, welche die Entwicklung der industriellen bzw. entwickelten Länder möglich machten, sondern auch diejenigen, die von großer Ungerechtigkeit und Ungleichheit gekennzeichnet sind. Obwohl Ches politische Reden stets von Einfachheit und Ehrlichkeit gekennzeichnet waren, offenbart das Tagebuch, dass die Kohärenz seiner Weltanschauung selbst unter extremen Bedingungen Bestand hat. Es ist schwer zu sagen, ob Che – ungeachtet des unmittelbaren, praktischen Nutzens des Tagebuchs für die Guerilla-Kampagne in Bolivien – seine Notizen für sich selbst oder für kommende Generationen verfasst hat. Unabhängig davon stellt die tiefe Verankerung in jener konkreten Zeit paradoxerweise den Zugang zu einem zeitlosen Engagement dar, das sich aus der Realität speist. Der ewigen Frage nach Guevaras Mythos, welcher auf einer idealisierten, irrealen Figur Ches und der entsprechenden Vereinfachung seines Revolutions- und Befreiungsprojekts basiert, tritt er selbst mit einem schmucklosen, menschlichen, schonungslosen Text entgegen. Dies ist das eigentliche Vermächtnis des Bolivianischen Tagebuchs.

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1 http://chebolivia.org/chebolivia/index.php/el-diario-del-che-ed-facsimilar

2 Soria Galvarro T., C. (Hg.) (2009) El Che en Bolivia. Documentos y testimonios. Tomo 1: Su diario de Campaña. La Paz: Cedoin.

3 Cupull, A. / González, F. (Hgs.) (1988) El diario del Che en Bolivia. La Habana: Editora Política.

Bilderquellen: [1],[2],[3] ScanCover

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