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Ospina Pizano, María:  Für kurze Zeit nur hier

Gabriele Eschweiler | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

Menschlicher Allmachtswahn und der Traum von der einen Welt

 

                                                           „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte

und es sich einfallen ließ zu sagen, ‚Dies ist mein‘

und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben,

war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.“

Jean-Jacques Rousseau (1755)

 

So wie der Vogelzug in der Natur dieser Tiere liegt, ist auch die Migration urmenschlich und als globales Phänomen ein bedeutender Bestandteil der Geschichte des Homo sapiens. In vorzivilisatorischer Zeit gibt es außer den natürlichen Barrieren wie Meere, Flüsse, Berge o. Ä. keine weiteren, die die Nomaden bei ihren Wanderbewegungen hindern können. Erst mit der Sesshaftigkeit wird der bis dahin für alle Lebewesen geltenden Grenzenlosigkeit ein Ende gesetzt. Der Ackersmann und Viehzüchter umzäunt das ihm vorgeblich rechtmäßig zustehende Stück Land, erklärt bis dahin wild lebende Mitgeschöpfe zu seinen Nutz- und Haustieren, sperrt sie hinter Weidezäunen, in Ställen und Zwingern ein, spannt sie zum Arbeiten ins Joch oder legt sie als Bewacher an die Kette.

Das göttliche Geheiß im Buch der Bücher „Machet euch die Erde untertan“ (1. Mose 1,28ff.) wird fortan erfüllt. Der Mensch eignet sich den Planeten und alles, was auf ihm lebt oder gedeiht, als seinen alleinigen Besitz an, über den er die absolute Verfügungsgewalt hat und nimmt die durch ihn verursachte und unablässig fortschreitende Zerstörung der Umwelt dabei billigend in Kauf. Im 21. Jahrhundert löst die globale Klimakrise ein radikales Umdenken aus. Der Planet wird als Einheit begriffen, dessen ökologische Probleme wie Klima-, Wasser- und Artenschutz grenzübergreifend alle betreffen und somit nur kollektiv in Angriff genommen und gelöst werden können.

Internationale Bewegungen wie No Borders und One Planet setzen sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt für diese Konzepte ein. Paradoxerweise hat sich durch die Bildung neuer Staaten die Länge der politischen Grenzen bis heute weltweit fast verdreifacht. Im Zuge der ökologischen Wende entwickelt sich ein neues Bewusstsein für die Biodiversität und deren Erhalt, das die Einstellung zu Flora und Fauna beeinflusst. Mit Hilfe der interdisziplinären Human Animal Studies findet eine Neuauslotung der Mensch-Tier-Beziehung statt. In Anlehnung an die Theorien zu Rassismus und Sexismus wird auch hier ein einseitiges Gewalt- und Herrschaftsverhältnis attestiert und auf den Prüfstand gestellt.    

María Ospina Pizanos Roman Für kurze Zeit nur hier (Span: Solo un poco aquí, 2023) erzählt aus der Perspektive verschiedener Tiere, die anders als in der traditionellen Tierliteratur nicht vermenschlicht, sondern vom Erzähler in einer sich ständig hinterfragenden, im Urteil gänzlich unsicheren Art und Weise beschrieben werden. Auf der syntaktischen Ebene zeigt sich dieses vermutende Herantasten an den zahlreichen Fragen und Konjunktiven.

Ausgelöst durch die genetisch angelegte Zugunruhe treten alljährlich rund 50 Milliarden Wandervögel im Herbst ihre Reisen zu den Winterquartieren an, um im Frühling wieder in die Brutgebiete zurückzukehren. Auf ihren Flugrouten bewältigen sie teils abertausende Kilometer und überqueren dabei ungehindert etliche Landesgrenzen. „Als Gäste des Himmels, in dem man sich nirgendwo verstecken kann, kümmern sie sich nicht um die Grenzen, die sich die Menschen in ihrer Niedertracht ausgedacht haben, und lachen, wenn dieselben Menschen zornig über Fremde schimpfen.“

So frei und ungebunden wie ein Vogel in der Luft zu sein gilt dem Menschengeschlecht seit jeher als erstrebenswertes Ideal, das zu erreichen den Meisten jedoch verwehrt bleibt. Fast zwei Drittel der Weltbevölkerung leben in Unterdrückung. Bis heute gibt es Staaten, die ihren eigenen Bürgern die Ausreise und unerwünschten Fremden die Einreise verweigern. Erreichen Flüchtlinge auf der Suche nach einem besseren Leben in Frieden und Wohlstand ihr Wunschland, so endet der vermeintliche Aufbruch ins Glück nur allzu oft in Auffanglagern oder Abschiebeeinrichtungen. Aus der Vogelflugperspektive betrachtet der Scharlachkardinal „den beeindruckenden Wald neben dem Homestead-Aufnahmezentrum für minderjährige Migranten […] ein Gefängnis für Kinder, die sich des unerlaubten Grenzübertritts schuldig gemacht haben“. Ähnlich erschütternd ist die Art und Weise, wie die Menschen sich ihren Heimatplaneten, der einstmals in dichten Urwäldern unzählige Tier- und Pflanzenarten beherbergte, in ihrem unverantwortlichen Allmachtswahn zu eigen gemacht haben.

Der Vogel sieht die „vielen Narben der Erde“. „Er fliegt über aufgegebene Gemüsegärten hinweg, wo verlassene Autos und Wohnwagen vor sich hin rosten, ohne dass dies irgendwen zu stören scheint. Er überquert Vorstädte, wo Masten mit Fahnen auf für ihn irrelevante Grenzen verweisen und den Bäumen den Platz streitig machen. Oft sind es riesige Ansammlungen völlig gleich aussehender Häuser mit kahlen Gärten – auf die Idee, dort Bäume zu pflanzen, scheinen die Besitzer gar nicht erst zu kommen. Eingeschlossen in ihren vollklimatisierten, von sorgfältig kurz gehaltenen Rasenflächen umgebenen Behausungen, träumen die Bewohner davon, in Ausübung ihres heiligen Rechts auf Eigentum auch noch das letzte herumliegende Blatt beiseitezuschaffen und alles zu vernichten, was auf dem Boden herumkrabbelt.“ 

                                                                                 

María Ospina Pizano

Für kurze Zeit nur hier

Unionsverlag. Zürich 2025

 


 

Bildquellen: [1] CoverScan; [2-5] Quetzal-Redaktion, cd

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