Manchmal fragt man sich wirklich, ob die Damen und Herren der forschenden Zunft mit ihren Thesen nicht etwas über das Ziel hinausschießen. Dennoch sind es gerade die abenteuerlichen Behauptungen, die uns zur Auseinandersetzung mit den fachlichen Inhalten motivieren. Kann es ein Zufall sein oder steckt hier tatsächlich die unglaubliche Absicht dahinter, dass die Gründungsorte der Mayastädte Tikal und Uaxactún derart astronomisch motiviert sind, dass man am Horizont den Sonnenaufgang am Tag der Wintersonnenwende genau über zwei etwa 100 km entfernten Bergen beobachten konnte? Vincent H. Malmström analysiert diese und weitere Probleme der astronomischen Orien¬tierung von Mayastädten und -gebäuden in seinem Buch „Cycles of the Sun, Mysteries of the Moon – The Calendar in Mesoamerican Civilization”. Ich nehme den oben beschriebenen Fall hier einmal unter die Lupe.
Die älteste bekannte Struktur unter der Pyramide “Mundo Perdido” ist über 2.500 Jahre alt. Erklommen lange vor Christus an einem 21.12. unseres damals noch nicht existenten gregorianischen Kalenders die Gründer Tikals die höchsten Bäume, um einen besonderen Ausblick auf den Sonnenaufgang direkt über dem zweithöchsten Berg von Belize, dem Victoria Peak, zu erhaschen. Der heutige Beobachter kann diesen Horizontpunkt von Tempel 4 aus über der Spitze des Tempels 3 anpeilen.
Gemäß Google Earth lauten die Koordinaten des Victoria Peak 16,8° nördliche Breite und 88,6° westliche Länge. Als Tikalkoordinaten verwende ich den Mittelwert aus den von mir gemessenen Werten der Mundo Perdido-Pyramide und des Tempels 4, der den höchsten Aussichtspunkt darstellt. Gerundet auf zwei Stellen nach dem Komma ergeben sich für beide nicht weit voneinander entfernte Bauwerke die Koordinaten 17,22° nördliche Breite und 89,63° westliche Länge.
Für die hier anzustellenden Betrachtungen eignen sich zwei von mir geschriebene Programme vorzüglich. Eines liefert die Richtung und die Entfernung Tikal – Victoria Peak: Azimut = 112,8° und Distanz = 119 km. Das andere, ein Teilprogramm meiner Software „MayaSky“, spuckt die Sonnenauf- und -untergangsazimute für die geographische Breite von Tikal für die Sonnenwendetage aus. Uns interessieren hier vor allem die 114,8° vom 21.12.
Wie sind nun dieses Ergebnisse zu werten? In den Geometriestunden in der Schule brachten wir kaum Verständnis dafür auf, wenn der Lehrer bei 2° Abweichung sagte, dass unsere Konstruktion ungenau sei. So genau kann man doch gar nicht gucken! Tatsächlich sind 114,8° – 112,8° = 2° Differenz zwischen theoretischem Sonnenwendeazimut und Peilung zum Victoria Peak ziemlich viel. Das sind immerhin vier Sonnendurchmesser! Dieser Abweichung wirkt der Umstand entgegen, dass in Richtung Victoria Peak der natürliche Horizont etwas höher liegt und die Sonne sowieso erst bei einem gewissen Stand über dem Horizont als aufgegangen gilt.
Unsere Überlegungen sind außerdem nur sinnvoll, wenn man den Berg aus der gewaltigen Entfernung überhaupt erkennen kann. Vom Standort Tikal mit ca. 300 m Höhe sieht man den mathematischen Horizont in 60 km Entfernung, weshalb ein 300 m hoher Punkt in Victoria-Peak-Entfernung von 120 km gerade mit der Spitze auf Horizonthöhe von Tikal aus liegen würde. Nun ist der Victoria Peak aber 1.120 m hoch, sollte also bei freier Sicht von Tikal aus in der Tat komfortabel zu sehen sein, wenn er sich nur deutlich genug von seiner Umgebung abhebt. Unter nahezu idealen Sichtverhältnissen mit wenig Absorption und viel Kontrast kann man theoretisch doppelt so weit gucken. Der Kontrast am natürlichen Horizont zwischen Wald bzw. Berg und Himmel ist gegeben, es müssen also nur die Wetterbedingungen gut genug sein, was auf dem von mir fotografierten Bild oben nicht der Fall ist. Bewusst habe ich auch keinen Zoom bzw. gar ein Teleobjektiv eingesetzt.
Die Abweichung von 2° führt nicht zwangsläufig zur Ablehnung der These von Herrn Malmström. Es bleibt offen und somit möglich, dass die Maya den Standort Tikal neben anderen Faktoren auch mit Blick auf den Victoria Peak und den genau dort stattfindenden Sonnenaufgang zur Wintersonnenwende gewählt haben. Offen bleibt dann auch, wie viele Bäume dafür beklettert werden mussten.
Analog zur Bewertung des Standortes von Tikal bezüglich der Richtung zum Victoria Peak ist nun die Lage von Uaxactún hinsichtlich der Richtung zum Baldy Beacon (17° | -88.7833333°) zu betrachten.
Die Richtung Uaxactún – „Baldy Beacon“ hat einen Azimutwert von 115.4°. Diese Übereinstimmung ist deutlich, zumal aufgrund der großen Entfernung die GPS-Messtoleranz zu vernachlässigen ist. Die Abweichung von 0.6° entspricht lediglich einem Sonnendurchmesser. Man müsste nun noch die genauen Horizontgegebenheiten und die Refraktion in Betracht ziehen. Uaxactún erfüllt damit die Behauptung erstaunlich gut.
Übrigens ist die relative Ausrichtung von Gebäuden innerhalb der Städte gerade hinsichtlich der Sonnenwenderichtungen im Mayaland sehr oft anzutreffen. So besitzt die Stadt Uaxactún eines der ältesten derartigen Observatorien.
(Bildquelle: Quetzal-Redaktion, Jens Rohark)
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