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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Die zentralamerikanischen Maras und ihre (sub)kulturellen Symbole – (1) Tattoos

Heidrun Zinecker | | Artikel drucken
Lesedauer: 34 Minuten

Über die Maras, jene gewalttätigen Jugendbanden, die in den USA und Zentralamerika ihre Wurzeln haben, aber längst schon die Grenzen des amerikanischen Kontinents, auch nach Europa, überschritten haben, wird schon lange und viel geschrieben. In Honduras, El Salvador und Guatemala sind sie nach wie vor der Gewaltakteur schlechthin, der zig tausende Morde zu verantworten hat. In Costa Rica und Nicaragua gibt es sie nicht oder kaum. Inzwischen dauert die Geschichte der zentralamerikanischen Maras schon etwa ein halbes Jahrhundert an (vgl. Zinecker 2014). Es dominieren Schriften über ihre Ursprünge, ökonomischen Interessen, Ursachen, ihre Gewaltaffinität und über die Anti-Mara-Strategien der ihnen gegenüberstehenden Regierungen. Die Maras aber folgen zweierlei Logik, nicht nur der des egoistischen (ökonomischen und politischen) Interesses, sondern auch der einer kulturell-symbolischen Expressivität. Letztere Logik war und ist der ersten allerdings untergeordnet: Die gegenwärtigen Maras sind kriminelle Jugendbanden und keine bloße Jugendkultur oder kulturelle Bewegung. Auch deshalb sind Publikationen über ihre zweite Logik sehr viel spärlicher als über die erste. Über sie, die (sub)kulturelle Symbolik, ja Ästhetik der Maras findet man kaum tiefgründige Ausführungen. Die mit diesem Artikel beginnende lose Folge im Quetzal will dieses Manko mindern. Mit den Tattoos soll sie begonnen werden.

Die heutigen Maras

Die drei bekannten und größten gegenwärtigen – „klassischen“ – zentralamerikanischen Maras sind die Mara Salvatrucha (MS 13), das Barrio 18 bzw., vor allem in El Salvador, die Suren͂os und Revolucionarios, die aus dem Barrio 18 hervorgegangen sind. Inzwischen haben sich letztere auch territorial verselbstständigt, weisen allerdings immer noch ähnliche Strukturen auf wie ihre Mutterorganisation. Es heißt, dass die Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Gruppierungen heutzutage sogar noch intensiver sind als die mit der MS 13. Der Bruch innerhalb des salvadorianischen Barrio 18 deutete sich schon 2004 an und war spätestens 2010 vollzogen.

Marasalvatrucha13arrest_CC_wikiAuch die salvadorianische MS registrierte eine, wenn auch viel unbedeutendere Abspaltung, die MS-503. In Honduras rekrutierten sich z.B. Los Pesetas aus solchen Abspaltungen der beiden „klassischen“ Maras. Darüber hinaus waren und sind noch weitere, sehr viel kleinere Maras bekannt, deren Übergang zu den „normalen“ Pandillas (Banden) fließend ist: In El Salvador sind das La Mara Máquina, die Mirada Locos, die Mao-Mao (MM) oder die aus früheren Mitgliedern der MS und der 18 zusammengesetzten Pandilla der Retirados, über die man aber schon immer wenig wusste. In Honduras kennt man die Mao-Mao auch, vor allem aber die Chirizos, El Combo Que No Se Deja, Los Vatos Locos, die Benjamins und Las Barras Bravas, die allesamt jedoch nie das Organisations- und Gewaltniveau der beiden „klassischen“ Maras erreichten. In Guatemala findet man, so wie auch in Honduras, die Vatos Locos, darüber hinaus jedoch auch die Diamants, die 6×10, Killers, Calvario, Palo Gordo, Repers und El Pollo. Welche davon noch relevant sind und inwieweit, ist der Autorin nicht bekannt.

Nach einer Phase der „ursprünglichen“ Maras, die sich in Zentralamerika schon in den 1970er und 1980er Jahren artikulierten, werden vier Zeitdimensionen oder Generationen der heute noch aktiven „klassischen“ zentralamerikanischen MS und Barrio 18 unterschieden: Bei der ersten Generation, anfangs der 1990er Jahre, ist das Mitglied weder tätowiert noch rasiert und gehört zu kleineren Banden. Von Mitte der 1990er bis zum Beginn der 2000er Jahre stehen die Mareros der zweiten Generation vor allem unter dem kulturellen Einfluss der US-Maras. Sie rasieren sich und tätowieren ihren Körper, um sich mit ihrer Gang zu identifizieren und verwegen auszusehen, verstehen sich da sogar noch vor allem als Kulturprodukt. Die dritte Marero-Generation entwickelt sich infolge der repressiven mano dura-Politik (Politik der harten Hand) der Regierungen: dieser Marero ist nicht nur außerordentlich gewalttätig, sondern auch besonders tätowiert. Er tätowiert nun auch das Gesicht, um noch martialischer auszusehen und will, gerade über seine VatosLocos_Bild_mentiz070_CC_wikiTattoos, vor allem Furcht verbreiten. Als es für die Maras offensichtlich wird, dass sie die „harte Hand“ des Staates nicht besiegen können, beginnen sie bzw. ihre Mitglieder, ihre Tattoos zu verstecken. Das markiert den Übergang zum vierten Mara-Typ. Diese bis heute aktive Mara-Generation ist stärker paktorientiert und tätowiert sich gar nicht mehr, weil das für die Umsetzung ihrer inzwischen stärker ausgeprägten ökonomischen, ja politischen Interessen kontraproduktiv wäre. Paradoxerweise besaßen also Paktangebote und Repressionspolitiken eine ähnliche Wirkung auf die Mara-Tattoos: Beide bewirkten den Verzicht auf sie. Es sind heute, auch äußerlich, also nicht mehr dieselben Maras in Zentralamerika wie die vor fünfzig, dreißig oder auch zehn Jahren.

In diesem Text soll es um die Tätowierungen auf den Körpern der Maras, als „private tattoos“, gehen. Graffitis, das andere prominente (sub)kulturelle Symbol der Maras, werden in der Literatur hingegen als „public tattoo“ (Vigil 2006, 113) bezeichnet. Anders als die Tattoos, die sich auf den „privaten“ Körpern befinden, schmücken Graffitis öffentliche Gebäude. Ist das „Umzäunen“ von Land durch solche „public tattoos“ auf Mauern und Wänden ein räumliches Zeichen für die Abgrenzung eigener Territorialherrschaft, wirken die „private tattoos“ auf den Körpern der Mareros im Hinblick auf Verräumlichung weitaus subtiler. Doch auch sie können Raum markieren: Das Tattoo auf dem Körper des Marero ist dabei nicht nur selbst ein (Körper)Raum, es kann mit ihm auch wandern, migrieren, in andere Länder und Kontinente eindringen, also auch auf diese Weise, wie Konstruktivisten sagen würden, (volatilen) Raum, „machen“. Es gab Zeiten, da hat der Marero in den USA seinen Fellow aus Zentralamerika sogar nur daran erkannt, dass auf dessen Körper dieselben Tattoos eingebrannt waren wie auf seinem eigenen. Über ihre Tattoos wurden die Körper der Mareros zu „kommunizierenden Körpern“ (Rocha 2003). Diese changier(t)en zwischen Alltäglichem und Überirdischem, Teuflischem und Heiligem, Allgemeinem und Individuellem und sollten als Gegenentwurf zu einer „monochromatischen Welt“ (Ganter 2005, 41) gelten.

Tattoos: Ursprung, Beschreibung und Bedeutung

Der Terminus „Tattoo“ soll aus dem Polynesischen stammen und „Schlagen“ bedeuten: Gemeint war damit das Schlagen mit einem Knochen auf die Haut eines Menschen durch einen zweiten. Interessanterweise bedeutet das lateinische Wort „Stigma“ dasselbe wie Tattoo: ein künstliches Mal, ein Brandmal. Ein Tätowierter stigmatisiert sich selbst und wird deswegen von anderen stigmatisiert. Aber war er nicht schon vor den und ohne die Tattoos durch die Gesellschaft stigmatisiert und kann das mit den Tattoos nun einfach noch besser demonstrieren?

3_K.v.d.Steinen_wiki_CCTattoos sollen so alt sein wie die Menschheit selbst (Ganter 2005, 29). Es gab sie bereits im prähistorischen Aurignac in Frankreich, im alten Ägypten und beim Ötzi auch. Die Phönizier praktizierten sie, die Polynesier und die Maori. Die Römer ließen ihren Sklaven Tattoos stechen. Wir selbst kennen Tätowierungen aus den Armeen, den Knästen und bei Seeleuten.

Heute nun tragen sie, gefühlt, fast alle, die jünger sind als wir. Tattoos sind also nichts Besonderes. In diesem Aufsatz soll gezeigt werden, dass sie, solange sie gestochen wurden, bei den Maras aber durchaus eine besondere Bedeutung besaßen. Doch inwiefern? Um das herauszufinden, sollen drei Fragen, die in der allgemeinen Tattoo-Literatur en vogue sind, Mara-spezifisch beantwortet werden:

  • Eine erste Frage gilt dem Grad der Individualität, die ein Tattoo ausdrückt: Soll es in erster Linie persönliche Individualität und Kreativität demonstrieren oder vielmehr die Zugehörigkeit zu einer Gruppe? Wie ist das bei den Mara-Tattoos?

  • Die zweite Frage ist, ob Tattoos, zumal wenn sie Perverses ausdrücken, tatsächlich noch als kulturelles Symbol, ja als Kunst gewertet werden können, und wenn ja, warum. Bei den Maras sind sie doppelt pervers, weil sie auch deren – reale – Perversität widerspiegeln.

  • Eine dritte Frage lautet: Sind Tattoos ewig und verschwinden erst mit dem Träger, wenn er stirbt, oder sind sie es nicht, weil der Träger auch schon zu seinen Lebzeiten die Kontrolle über sie hat? Diese Frage ist eine eher kultur-philosophische. Bei den Maras aber, da sie nunmehr schon „mitten im Leben“ auf Tattoos verzichten, besitzt sie eine ganz spezifische Bedeutung.

4_Tattoo_Maschine_manfred_kohrs_wiki_CCBevor der Versuch der Problematisierung und Beantwortung dieser Fragen für die Maras unternommen werden soll, gilt es zunächst, deren Tattoos historisch-kulturell herzuleiten, zu beschreiben und zu kategorisieren.

Für die Mara-Tattoos werden in der Literatur vor allem zwei kulturelle Ursprünge ausgemacht: 1) die Chicano-Kultur in Los Angeles und in der gesamten Grenzregion zwischen den USA und Mexiko als eine frontier- oder cholismo-Kultur (Zún͂iga Nun͂ez 2007-2008) und 2) gothic-satanische Wurzeln, z.B. Grabsteine, Friedhofslandschaften, verrottete Bäume, Sensenmänner, ob mit oder ohne Hörner, Drachen, Wasserspeier oder satanische Zahlen, Schädel, Teufel, Teufelshörner oder die gehörnte Hand (Carter 2014), die allesamt die Hölle symbolisieren, die die Mareros umgibt und die sie auch selbst leben. Doch auch andere Gangs, ob in Mexiko oder in den USA, etwa die Latin Kings, die Mexikanische Mafia, „Nuestra Familia“, die Arischen Bruderschaften oder die Border-Brüder, um nur einige zu nennen, tragen solche Tattoos, auch in diesen Mischungen. Das Besondere der Mara-Tattoos ergibt sich vielmehr aus der Verbindung von (1) der Spezifik dieses Mixes von Chicano- und Gothic-Symbolen einerseits und (2) ihrer gruppenspezifischen bzw. -exklusiven Inhalte, (3) der konkreten bildlichen Ausführungen sowie (4) der in ihnen üblichen Verweise auf Herkunftsländer, -sektoren oder -barrios (clikas oder canchas) wie (5) auch der typischen individuellen Kreativität andererseits.

Für die drei großen Maras gängige Tattoos

Einige der Marero-Tattoos sind Gang-übergreifend. Andere wiederum sind das nicht, sondern Mara-spezifisch. Wieder andere gehören nur zu ganz bestimmten Maras. Zu den Mara-übergreifenden Tattoos zählen:

Der Payaso/der Clown

Der Payaso fehlt fast nie auf den Körpern der Mareros. Meistens lacht er, wie es einem Clown gebührt. Bei den Mareros jedoch tut er das diabolisch, manchmal aber auch nur kokett. Auf jeden Fall will er den Betrachter, vor allem jedoch die Feinde, auslachen. Ab und zu „zieren“ ihn, etwa sein Haar, teuflische Symbole. Zuweilen raucht sein Gesicht auch Marihuana. Der Clown soll symbolisieren, dass „sein“ Marero allen Widrigkeiten zum Trotz noch immer am Leben ist. Anders gesagt, er steht für den Schritt des Marero vom Tod in das Leben. Der Clown widersetzt sich damit den Tränen, die gleich neben ihm das Gesicht des Marero zeichnen und seiner Trauer über die Toten Ausdruck verleihen. Ist der Clown jedoch eine Art Phantasma, wurden die Tränen real geweint. Über den Clown erfährt der Beobachter allerdings wenig, denn er bleibt meist unter der Kleidung des Marero verborgen.

Die Tränen

Die Tränen müssen dagegen – sogar auf dem Gesicht – sichtbar sein. Anders als der Clown sind sie ja auch alltäglich. Sie symbolisieren den Schritt des Marero vom Leben in den Tod. Und eingeritzt werden sie in natürlicher Größe. Sie können viele Gründe haben: In der Regel gelten sie den Freunden des Marero, die von der Polizei oder der gegnerischen Mara getötet worden sind, aber auch seinen eigenen Opfern, also denen, die er selbst getötet hat – welch‘ ein Zynismus!

Die drei Punkte

Sie, manchmal auch als Dreieck dargestellt, sind nicht zu verwechseln mit den drei Tränen und können überall auf dem Köper tätowiert sein. Die drei Punkte stehen für die drei Orte eines Marero: Gefängnis, Krankenhaus und Friedhof. Sie durften jedoch gleichermaßen das „vida loca“ darstellen, das heißt Geld, Sex, Drogen und Frauen, oder auch begangene Straftaten, etwa Überfall, Raub, Mord, Vergewaltigung usw. Eingebrannt sind sie zwischen Daumen und Zeigefinger oder unter dem Auge.

Die betenden Hände

Die betenden Hände besitzen eine weniger religiöse Bedeutung als es auf den ersten Blick scheinen mag. Stellen sie doch eine Entschuldigung des Marero gegenüber der Mutter für sein „verrücktes Leben“ (vida loca) dar, mithin dafür, dass er mit seinem Verhalten die Mutter hat leiden lassen.

Das Spinnennetz

Dieses Tattoo findet sich in der Regel auf Schultern, Knien und sichtbaren Körperteilen. Es mag unterschiedlich interpretiert werden: So kann es die enge Verbindung zur Mara bedeuten, soll heißen, dass es unmöglich ist, von dieser wegzukommen, aber ebenso die im Gefängnis verbrachte Zeit, schließlich auch die Expansionsbemühungen der eigenen Gang, sich in andere Städte oder Departements auszubreiten.

Stacheldraht

Dieses Bild findet sich in der Regel auf den kurvigen Körperregionen wie dem Arm, der Schulter, der Beine bzw. Knie und bedeutet Unterordnung, ja Sklaverei im Gang-Leben, der sich der Marero indes freiwillig unterwirft. Die Stacheln können aber auch für die im Knast verbrachten Jahre stehen.

Spielkarten und insbesondere das As

Die Spielkarten zeigen, dass die Mareros täglich um ihr Leben spielen. Das As soll dokumentieren, dass der Marero ständig sein Leben auf‘s Spiel setzt.

Der Rosenkranz und das Kruzifix

Beim Rosenkranz handelt es sich um eine Zähl- oder Gebetskette, die für das Rosenkranzgebet verwendet wird. Das Kruzifix wird auf den Körpern der Mareros „von hinten“ gezeigt, weil der Gekreuzigte, so der Glaube, nur da den Schutz „von oben“ benötige, denn „von vorn“ garantiere das die Mara selbst.

Gehörnte Hände

Das Pendant zu den christlichen Symbolen sind die satanischen. Davon gibt es mehrere. Die bekannteste davon ist die gehörnte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger und kleinem Finger, die ein umgekehrtes M (für Mara) darstellen sollen.

Kalender und Sanduhren

Kalender dokumentieren die Zeit, in der Mareros im Knast waren. Sanduhren verweisen darauf, dass die Zeit lang oder kurz sein kann.5_tattoo_2_ice_Bild_wiki_CC

Landeswappen

Ob unter dem Solarplexus oder auf dem Rücken – Landeswappen als Tattoos sind beliebt.

Das X

Immer öfter kann man auch das alte Tattoos übermalende oder durchkreuzende X auf den Körpern der Mareros sehen, z.B. wenn sie frühere Tattoos auf einmal als Jugendsünde (chavalada) ansehen oder sich von einer früher Geliebten getrennt haben und/oder sich von der Mara lösen wollen. Das häufige Übermalen (cover up) alter Tattoos kann sogar dazu führen, dass der Körper des Marero am Ende völlig schwarz ist. Damit jedoch ist die Identität dann weg.

Für die einzelnen Maras typische Tattoos

Insgesamt heißt es, dass die MS sparsamer und stärker verdeckt mit Tattoos umgeht als das Barrio 18. Was das Barrio 18 betrifft, so sind seine Tattoos nicht nur opulenter, sondern auch dämonischer als die der MS 13.

Mara-Namen

Die jeweiligen Mara-Namen werden entweder groß gestochen, wie bei den Chefs, das heißt den palabreros oder toros (Sprecher/Chefs) bzw. der ranfla (Leitungsgremium einer clika), oder kleiner, so bei den Untergeordneten, den soldados (Soldaten) bzw. den paisas, den Kindern unter den Mareros. Entweder sind diese Tattoos, in Gothic-Schrift, ausgeschrieben, also als „Mara Salvatrucha“ oder „Barrio 18“, oder es werden Abkürzungen der Mara-Namen verwendet, also MS (oder MS 13) oder 18.

Das Barrio 18 nutzt besonders gern römische Zahlen (z.B. XVIII) oder Verbindungen von arabischen (18) und römischen (z.B. XV3, X8). Die typische 6 + 6 + 6 besteht natürlich nur aus arabischen Zahlen. Sie soll das Satanische, das Böse betonen. Aus Anlass der Spaltung des Barrio 18 in Revolucionarios und Suren͂os sieht man die „18“ nunmehr auch „ausgeixt“. Zumeist verfügen die Abspaltungen auch schon über eigene Tattoos, die ihre neuen Namen dokumentieren.7_Surenos_tattoo_Bild_ice_wiki_CC

Die Mara Salvatrucha verwendet als Abkürzung MS oder 13, z.B. das M auf einem Bein, das S auf dem anderen. Sie lässt sie ihre Gang-Bezeichnung weitaus öfter als das frühere Barrio 18 ausschreiben.

Die Jungfrau von Guadalupe

Im Christentum sind Tattoos, insbesondere vom Alten Testament, verboten. Gleichwohl: Sie kommen auf den Körpern der Mareros häufig vor, nicht selten sind sie gleich neben Teufelssymbolen eingebrannt. Das Bild der Jungfrau von Guadalupe ist insbesondere beim Barrio 18 populär, dessen Gründungsmitglieder mexikanischer Herkunft waren. Sie soll den Mareros Schutz bieten. Das Barrio 18 verwendet das Bild so wie in der Kirche üblich. Die MS jedoch zeichnet die Jungfrau mit einem dämonischen Gesicht oder mit dem Gesicht einer Toten. In der Regel ist dieses Bild farbig.

Jesus Christus

8_mara_salvatrucha_MS13_Bild_wiki_CCDieses Tattoo ist für die MS 13 typischer als für das Barrio 18. Jesus trägt in den MS-Tattoos eine Krone und einen langen Bart, in sein Bild sind des Öfteren die Buchstaben M und S eingewoben, das M in die Krone, das S in den Bart. Selten aber wird Jesus ganz gezeigt, in der Regel nur sein Gesicht.

Der Pfau

Er soll den Stolz eines MS-Mitglieds auf seine Gang vorzeigen. Doch nur die palabreros, die Chefs, tragen ihn üblicherweise.

+503 und *504

Auch die Telefonvorwahl +503 von El Salvador wird, insbesondere von der MS, die sich ja vor allem aus Salvadorianern rekrutiert, gern als Tattoo gestochen. Damit drücken die MS-Mareros ihre Unabhängigkeit von den USA-Maras aus. Regelrechtes Symbol ist sie aber vor allem für die M-503.

Für einzelne Maras spezifisch sind desgleichen Alias-Personennamen und Orte sowie Stadtviertel (barrios oder, größer, Sektoren, beide noch innerhalb der Organisationsstruktur einer clika), in denen der betreffende Marero zuhause ist. Doch auch die Namen der kleineren oder größeren Organisationsstrukturen der jeweiligen Mara, das heißt der (kleineren) clikas, canchas (jenglas) genauso wie der (größeren) sectores (regiones) und dann programas können „auf die Haut“ des Marero gelangen. Es handelt sich dabei zumeist um Codes, die nur von den Mareros selbst oder, dies allerdings immer öfter, auch von der Polizei dechiffriert werden können, wie etwa „213 W5 HVLS“.

Individuelle Tattoos

Tattoos sind immer biographisch und folglich individuell. Zur Biographie des Marero gehören zu allererst die gruppenspezifischen und -exklusiven Gang-Symbole, die, in bestimmten Grenzen, individuell dargestellt werden können, aber auch ganz individuelle Tattoos. Letztere bilden beispielsweise die Porträts der aktuellen oder verflossenen Geliebten (der jaina), zumeist fotografisch, ab, ob mit bedeckten oder bloßen Brüsten. Auch der getötete homie (Marero-Kumpel) und sein Name haben Platz auf den Körpern der Mareros: Möge er, so zeigt das neben dem Porträt aufgemalte R.I.P., in Frieden ruhen. R.I.P. ist natürlich ein englischsprachiges Akronym und wird dann verwendet, wenn der getötete homie aus den USA gekommen war. Alles in allem gilt: Je kryptischer die Tattoos, desto stolzer ihr Besitzer.

Erste Frage: Mara-Tattoos – Symbol für Individualität oder Gruppenzugehörigkeit?

Gewiss sind auch die Marero-Tattoos ein Zeichen dafür, dass „that a person willingly gives up some of their individuality to become an element of a larger whole“ (Fruh/Thomas 2012, 88), ganz so wie es bei Soldaten, Seeleuten oder Häftlingen ist. Die Gruppenloyalität steht auch bei ihnen immer, noch heute, über ihrer Identität. Sie müssen sich ihrer Gruppe ganz hingeben, auch in ihren Tattoos. Individualität darf also auch hier nur in deren Grenzen stattfinden. Die Mara-Chefs sind es, die entscheiden, was, inwieweit und vor allem wo, auf welchem Körperteil, tätowiert werden darf. Bestimmte Tattoos, etwa die auf dem Gesicht, durften ohnehin immer nur die Chefs tragen und die soldados nicht. Die Schriftzüge der Mara-Bezeichnung waren bei den Chefs größer als bei den unteren Chargen. Die Mara-Gruppen-Tattoos sollten auch nie so vage sein, dass sie missverständlich hätten interpretiert werden können. Nicht-Mitglieder durften sich keinesfalls tätowieren. Dass Tattoos Gruppenzugehörigkeit markierten, mehr noch gruppenexklusiv sein sollten, zeigte sich auch darin, dass die einzelnen Maras jeweils eigene Tätowierer beschäftigten. Das alles setzte der Individualität und Kreativität Grenzen, die aber ohne Protest hingenommen wurden. Etwa vor einer Dekade entschieden die Chefs der Maras nun, dass Tattoos nicht mehr opportun sind und verboten sie.

Davor jedoch waren die Mareros sogar bereit, für ihre Tattoos sterben. Gerade die Tattoos des Todes zeigten das besonders deutlich. Das Schicksal der Mareros, so Padre Moratalla 2006 (24.04.06), sei sowieso der Tod, und das allein sei der Genuss. Wie andere drogensüchtig sind, seien sie todessüchtig. Somit seien sie fundamentalistischer noch als islamistische Gruppierungen, denn sie erwarteten nicht die Belohnung durch das Paradies – sie gehen mit dem Teufel. Heute aber wollen sie, anders als es der Padre damals vermuten konnte, ihre Belohnung auch schon auf Erden. Für damals aber erklärte Moratalla weiter: Mara-Mitglieder würden in ihrer Gang systematisch ihrer Personalität, also ihrer Identität, beraubt – sie seien Nummern ohne Gesicht, die eine Aufgabe, ein „Programm“, auszuführen haben (ebenda). Bezogen auf deren Tattoos würde das eine Nähe zu den absolut unfreiwilligen Tätowierungen von Juden in Konzentrationslagern nahelegen. Das aber ist überzogen. Anders als bei den Juden beruhten die Tattoos der Mareros nicht auf der Entscheidung einer fremden Gruppe über ihren Körper. In einem Spektrum von „freiwillig“ bis „erzwungen“ stehen die Mareros und ihre Tätowierungen wohl eher in der Mitte als an den Rändern.

Soweit Gruppenormen eingehalten wurden, durften die Mareros in ihren Tattoos selbstverständlich auch Individualität Raum gegeben. Das heißt, einerseits war auch die Gruppenidentität, ja -exklusivität zu ihrer individuellen Identität geworden und wurde nicht als fremd, sondern als Teil des „Selbst“ wahrgenommen. Andererseits erfolgte die Externalisierung ihrer Identität auch gruppenunabhängig-individuell: in der konkreten künstlerischen Ausgestaltung der gruppenexklusiven Tattoos zum einen und den ganz individuellen Tätowierungen zum anderen. In dieser Verbindung erzählen die Tätowierungen auf seinem Körper die ganz persönliche Lebensgeschichte eines Marero – sie sind so etwas wie eine „Geschichte seiner Identität“ (Martínez D’Aubuisson 07.09.16)

Tattoos sind aber nicht nur Zeichen von Identität, ob von Gruppen oder Individuen, sondern auch der Kommunikation nach außen. Sie gelten insofern als „self-completion“ und als „interactionist“ (Phelan/Hunt 1998). Zum einen bedeutete bei den Maras Interaktion: Sie brauchen einander. Ohne die jeweils andere Mara wären sie gar nicht „da“, denn dann verlören sie ihre Existenzberechtigung. Das Aufeinander-Verwiesensein der Maras war und ist das Zentrum ihrer jeweils eigenen Identität (Martínez D’Aubuisson 07.09.16) und damit auch ihrer Tattoos. Lange war es ein antagonistisches Aufeinander-Verwiesensein der verschiedenen Maras, heute hat es auch kooperative Züge. Zum anderen kommunizierten die Mareros über ihre demonstrative Zur-Schau-Stellung der Gruppenzugehörigkeit gleichzeitig ihre Abgrenzung zu den „Anderen“: der verhassten anderen Mara, der vielleicht noch stärker verhassten Gesellschaft und der am meisten verhassten Polizei. Bezogen auf ein Kosten-Nutzen-Kalkül erwies sich eine solche provokative Zur-Schau-Stellung von Gruppenidentität am Ende natürlich als kontraproduktiv: Lange nahmen die Mareros das in Kauf. Nun nicht mehr.

Zweite Frage: Mara-Tattoos – Schock- und Gewalt-Ästhetik als narzisstische Körper(sub)kultur?

Träger finden ihre Tattoos, zumindest in der Regel, ästhetisch-schön. Manchem Betrachter dagegen scheinen sie schon an sich, auch bei nicht-perversen Bildern, selbst-verstümmelnd und allein schon deshalb überhaupt nicht schön. Abstruserweise ist es aber gerade die Selbstverstümmelung, die bei den Tattoos demonstrieren soll, dass der Tätowierte die Kontrolle über seinen Körper hat. Und schon immer hat ein Tätowierter mit seinen Tattoos auch das „Dunkle“ aus sich hervorgeholt. Die Mareros halten sich ohnehin für „dunkle Helden der Alltäglichkeit“, wie das de Certeau in einem anderen Zusammenhang formuliert hat. Bei ihnen sind viele Tattoos teuflisch, grauenvoll, furchterregend und folglich ganz unmittelbar hässlich, selbst wenn sie künstlerisch grandios (schön?) dargestellt sein sollten. Dass das Hässliche schön sein kann – das ist in der Ästhetik ein Allgemeinplatz. „Shock aesthetic“ (Carter 2014, 486) und „Ästhetik der Gewalt“ (vgl. z.B. Pawlak/Schankweiler 2013) sind mittlerweile geflügelte Wörter in der Kulturtheorie und treffen auf die Tattoos der Mara ganz und gar zu. Bei ihnen sind es insbesondere die Gothic-Symbole, die schockieren sollen, ob in Form von tätowierten Waffen, Messern oder Schädeln, von Friedhöfen oder Teufelssymbolen. Die gatilleros (Schützen) unter den soldados dürfen darüber hinaus Bilder von Schädeln, Waffen und Messern verwenden. Die Darstellung von Gewaltakten oder -prozessen jedoch sucht man vergeblich auf der Haut der Mareros.

Isabel-Muñoz_Maras_CoverScanLange galt das Tätowieren generell als „unmoralisch“, gar als ein Zeichen dafür, dass der Tattoo-Träger notwendig ein Krimineller, ja Mörder ist (vgl. z.B. Loos 1924, zitiert in Arp 2012, 206 ff.), allein weil er ein Tattoo trägt. Diese These wurde längst ad acta gelegt. Die Mareros aber sind realiter unmoralisch, kriminell und nicht selten auch Mörder. Ihr Tattoo ist also ein Symbol für eine auch „reale“ und nicht nur für imaginäre(n) Perversion, Protest oder Rebellion. Doch selbst beim Marero reflektiert das nicht jedes seiner Tattoos.

Viel Aufsehen hat in diesem Zusammenhang der Foto-Band von Isabel Mun͂oz „Maras. La cultura de la violencia“ (2007) erregt. Die in ihm versammelten Portraits gründen sich auf echte Foto-Shootings mit posierenden Mareros in Haftanstalten. So sehr die Tattoos und ihre Fotos künstlerisch exzellent sein mögen, die Gesichter der „Models“ sind alles andere als vertrauenerweckend. Aber selbst bei ihnen kann man Nuancen feststellen: Manche der fotografierten Mareros schauen ernst, finster, gar furchterregend, bei anderen umspielt ein zynisches Lächeln die Lippen. Manche sind so hingebungsvoll, dass sie für das Shooting sogar die Augen geschlossen haben, andere schauen äußerst misstrauisch von unten nach oben. Manche präsentieren neben ihren Tattoos die Mara-typischen Handzeichen, andere zeigen, etwa unterhalb eines ausufernd tätowierten Armes, ihre tiefen Narben. Auch Frauen wurden für diesen Band fotografiert. Bei allen, ob bei Männern oder Frauen, bilden die Tattoos den Mittelpunkt des Körpers. Narzissmus allenthalben. Gilt für die eigene Mara „primero nosotros“, wie über dem Adamsapfel eines Marero zu lesen ist, richtet sich das kräftige „fuck you“ auf dem kahlrasierten Hinterkopf an die andere. Ja, auch das ist Ästhetik, aber sie bleibt einem im Halse stecken. Einer der fotografierten Mareros trägt ein schlafendes Kleinkind auf dem Arm. Sein Gesicht ist traurig. Ein anderer umarmt seine Mutter, eine sehr alte, abgehärmte und traurige Frau mit einem sehr „sprechenden“ Gesicht. Das Gesicht des Marero ist vollkommen leer, nur seine Haut nicht, auch wenn sie bei ihm sorgsam von der Kleidung bedeckt ist. Wie bizarr, man vermutet auf diesen Fotos selbst da ein Tattoo, wo man es gar nicht sieht!

Das Perverse an diesem Bildband ist der in ihm obwaltende Narzissmus. Die fotografierten Mareros tun nicht nur so, sie sind Narzissten. Auf die Frage, warum sie die Mareros auf diese Weise „ausstellt“ und zu Models erhebt, ja damit eine „Apologie der Gewalt“ betreibe, antwortet Isabel Mun͂oz, dass sie damit keinen Zweck erfüllen wolle: „Ich habe nur gezeigt, was ich gesehen habe.“ (Zitiert in Garza Mata 2010, 41)

Dritte Frage: Die Mara-Tattoos – ein Auslaufmodell?

Ob Tattoos ewig sind oder nicht, dazu differieren die Meinungen auch in der allgemeinen Tattoo-Literatur. Einig sind sich die Autoren lediglich darin, dass das „Löschen“ von Tattoos leid- und kostenaufwändig, also nicht so einfach ist. Manche Autoren (z.B. Falkenstein 2012) postulieren für sie eine mittlere (Lebens)Dauer, irgendwo zwischen der Skulptur- und der Theaterkunst. Die Tattoos der Mareros sind nun auf gar keinen Fall ewig. Das wissen wir schon vor ihrem Tod und historisch seit der mano dura 2003 und den Paktbemühungen zwischen Regierungen und Maras nach 2012. In El Salvador waren diese besonders intensiv, in Honduras informeller und vermittelt über den Drogenhandel, in Guatemala sind die Maras wohl zu schwach, um von der Regierung als Paktierer anerkannt zu werden. Hier gab es zwischen ihnen und den Regierungen schon immer eine größere Distanz als in den beiden anderen Ländern. Je intensiver das Paktieren, so könnte man vielleicht schlussfolgern, desto mehr verzichten die Maras auf ihre Tattoos.

Wenn sie jünger sind, tätowieren sich die Mareros jetzt einfach nicht mehr oder nur im bekleideten Bereich, etwa an den Geschlechtsteilen oder am inneren Lippenrand, unter der Zunge, dem Ring, zwischen den Fingern oder unter dem Haar. Manchmal kann man bei ihnen aber auch immer noch – kleinere – Tattoos erkennen, etwa die drei Punkte. Oder sie tragen ihre Symbole auf ihren T-Shirts, die sie bei Bedarf schnell ausziehen können. Heute sind nur noch die Mareros flächig-sichtbar tätowiert, die im Knast einsitzen und nach Strafen bis zu 80 Jahren keine Chance mehr für sich sehen, diese wieder verlassen zu können.

Sind die Mareros schon älter und sichtbar tätowiert, versuchen sie seit dem Verbot, ihre Tattoos zu übermalen oder „auszuixen“, vor allem aber über Lasern zu entfernen. Das dauert lange, ist schmerzhaft und kostenintensiv. Laserbehandlungen sind teuer. Ein einziges, kleines Tattoo zu lasern, kann schon einmal eintausend Dollar kosten, und es braucht oft Jahre, will man sich alle entfernen lassen. Gerade für die soldados unter den Mareros, die in der Regel arme Schlucker sind, ist das ein großes Problem. Hatten die Maras für das Stechen der Tattoos noch eigene Spezialisten ausgebildet oder angeheuert, ist deren Entfernung nun Sache der Mareros allein. Von ihrer Mara erhalten sie dafür keine Unterstützung. Manchmal sind aber spezielle Programme (darunter Zeugenschutzprogramme) oder NGOs hilfreich.

Für die Maras gibt es heute verschiedene Gründe, auf das Tätowieren zu verzichten: Tattoos machten sie und ihre Mitglieder „aussätzig“. Für die Polizei waren sie immer wieder „Beweis“ genug, dass der Betreffende ein Marero ist und eingesperrt gehört. Und welcher Unternehmer oder welche Institution will schon einen Marero einstellen? Sind es bei Nicht-Tätowierten schon immer eher Krawatten, Anzüge, Ketten oder Goldzähne gewesen, die Prestige symbolisieren sollten, ist das bei den Mareros jetzt auch so. Ein Marero, der heute etwas auf sich hält, trägt Krawatte statt Tattoo.

Die Polizei hat es so freilich schwerer, Mareros zu identifizieren. Aber vielleicht kommt es ihr auch gar nicht mehr so darauf an? Früher nahm sie – als mutmaßlichen Marero – auch schon einmal einen Rocker, einen Studenten oder einen Schönheitsfanatiker fest, nur weil dieser ein Tattoo trug. Jetzt findet sie äußerliche Mara-Merkmale nur noch in einem besonders gezogenen Seitenscheitel oder in einer auf dem ansonsten kahlrasierten Schädel heraussprießenden Locke. Oft reicht der Polizei ja auch schon, wenn ein Nachbar sagt, das sei ein Marero. Rechtsstaatlichkeit geht natürlich anders.

Es ist paradox: Schlussendlich werden in Zentralamerika die noch aktiven Mareros zukünftig nicht mehr tätowiert sein, und die inaktiven bleiben es, wobei der Wahrheit halber hinzugefügt werden muss, dass die Gangs in der Regel gerade aus der Strafanstalt heraus, also von den immer noch Tätowierten, angeführt werden. Eigentümlich ist auch, dass die Mareros gerade in einer Zeit, da Tattoos weltweit nahezu omnipräsent sind und sehr gern gezeigt werden, auf ihre Tattoos verzichten oder sie zumindest verdecken.

Es bleiben Fragen: Wie wichtig sind eigentlich Tattoos als kulturelle Symbole, wenn sie „von jetzt auf gleich“ nicht mehr opportun sind und erst recht nicht mehr konstitutiv, wie das ab und zu für die Maras behauptet wird? Wenn die „Tattoos ein Schlüsselelement dafür (waren), eigene Banden-Identität zu exponieren“ (Sanabria Méndez o.J.), oder wenn gilt, dass „der Mareros (…) tätowiert sein (muss) und dass bei ihm das Tattoo dasselbe ist wie die Marke beim Polizisten“ (Merino, zitiert in Rojas Rodríguez 2008, 64), wieso gilt das auf einmal nicht mehr? Wie grenzen sich die Mareros nun von den „Anderen“, darunter der anderen Gang, ab? Und worin besteht die Alternative zu den Tattoos? Wird die Loyalität zur eigenem Gruppe jetzt auf andere Weise ausgedrückt? Wenn ja, auf welche? Oder braucht es gar keine performative Ausdrucksformen mehr, weil andere Zeiten gekommen sind? Wenn es früher zur Marero-Ehre gehörte, sich zu tätowieren und somit zu zeigen, dass man keine Angst hat – wie beweisen die Mareros diese Ehre jetzt? Worauf schreiben die Mareros heute ihre „Tagebücher“? Wie artikulieren sie ihre Emotionen, etwa über Verluste von homies oder jainas? Welches Ventil statt der Tattoos finden sie nun für ihre Aggressionen? Immerhin heißt es ja, dass solche Leute „keine andere Stimme haben, sich selbst auszudrücken“ (Woods 2012, 212) als ihre Tattoos. Und: War das Tattoo als (sub)kulturelles Symbol, solange es noch gestochen wurde, eigentlich ein Verstärker oder ein abschwächendes Ventil für Mara-Aggression?

Vor allem aber bleibt die Frage, warum die Tattoos einst dem Marero-Sein im doppelten Sinne „eingeschrieben“ waren, heute aber nicht mehr.

Folgende Gründe könnten dafür ausschlaggebend sein:

  1. Der Tattoo-Verzicht hängt damit zusammen, dass die drei salvadorianischen Maras fusionieren könnten – versöhnliche willas (Kassiber) werden in den Haftanstalten zwischen den Maras schon längere Zeit ausgetauscht – und ihre spezifischen kulturellen Symbole zur Abgrenzung voneinander anscheinend nicht mehr brauchen. Auch ihre Paktangebote gegenüber den Regierungen bringen die verschiedenen Maras, zumindest in El Salvador, schon einmal koordiniert vor. Innerhalb der Haftanstalten und, z.B. angesichts von COVID-19, auch außerhalb von ihnen hat es in El Salvador wie in Honduras einen Waffenstillstand zwischen den Maras gegeben. In den Haftanstalten sind solcherart Pakte noch aktuell, hinsichtlich von COVID-19 aber schon wieder aufgekündigt. Dass die Mitglieder verschiedener Maras in den Haftanstalten mittlerweile wieder gemeinsam, in derselben Zelle, untergebracht werden, tut das Seinige dazu. Nur in Guatemala scheint es überhaupt keinerlei Anzeichen dafür zu geben, dass die Maras zum „Sur“, dem Nichtangriffspakt, den es dort schon vor langer Zeit einmal gab, zurückkehren, zu unterschiedlich stark sind die Maras. Das früher allein antagonistische Aufeinander-Verwiesensein wird also zurzeit, zumindest in El Salvador und Honduras, zunehmend kooperativ.

  2. Wenn Tattoos heutzutage wenigstens unter den jüngeren Leuten omnipräsent sind, stechen gruppenexklusive Tattoos auch nicht mehr hervor. Sie erfüllen somit nicht mehr das frühere Versprechen, so das Besondere (einer Gang) offenbaren zu können.

  3. Das gegenseitige Erkennen der Mareros in den unterschiedlichen Ländern als homies kann heutzutage viel leichter als früher auch ohne Tattoos erfolgen, ob durch Handys und Social Media oder vorherige Ankündigungstelefonate der Chefs.

  4. Möglicherweise hat auch die Profilierung der Maras als transnationaler Akteur dazu geführt, dass Symbole wie die ihrer nationalen oder lokalen Zugehörigkeit ihre Bedeutung verlieren. Dass auch die transnationale Koordination der Maras inzwischen nicht mehr über persönliche Treffen erfolgt, sondern über Telefonkonferenzen, heißt: Auch die Chefs müssen einander nicht mehr ihre Tattoos zeigen. Man sollte aber abwarten, ob am Ende nicht auch bei den Maras und ihren Tattoos das Glokale über das „nur“ Globale dominiert.

  5. Da sich Mara-Organisationen inzwischen auch selbst als Unternehmen sehen, das heißt nicht mehr nur Handlanger für andere (Drogen)Unternehmen sein wollen, „stehen“ ihnen Tattoos natürlich nicht mehr. Angehörige von Drogen-Kartellen haben sich, als white-collar-Kriminelle (Gallón 2018), schon immer weit weniger tätowiert als die Maras, zumindest nie das Gesicht.

  6. Der wichtigste Grund aber ist zweifellos: Die Mareros sind nicht mehr marginalisiert, sondern in der „guten“ Gesellschaft, ja im Staat, angekommen, ob als Unternehmer, Rechtsanwalt oder Polizist und in der Politik sowieso. Nicht nur Polizisten werden, aus Ermittlungsgründen, in die Mara infiltriert, sondern auch Mareros in die Polizei. Mehr noch, Polizisten sind zugleich Mareros. Maras handeln zudem, formell vor allem in El Salvador, informell auch in Honduras, mit Regierungen und Parteien politische Pakte aus, und machen, vor allem auf kommunaler Ebene, schon längst selbst Politik, lassen sich beispielsweise als Bürgermeister wählen. Da schaden Tattoos natürlich dem Ansehen.

Alles in allem: Zwar ist das Marero-Sein eine Lebensform, dessen Tattoos aber nicht. Ob „ver, oír y callar“ (Sehen, Hören und Schweigen) oder „no soy yo!“ (das bin ich nicht) des Marero (beide Zitate: Martínez D’Aubuisson 07.09.16) – der Verzicht auf Tattoos passt gut zu beiden Mara-Maximen, zur zweiten allerdings noch besser als zu ersten.

Schluss: Inwiefern sind die Mara-Tattoos besonders?

Abschließend steht noch die Beantwortung der Frage aus, ob denn nun die Mara-Tattoos nie, also auch nicht vor ihrem Verbot, eine besondere Bedeutung besaßen, wenn allenthalben tätowiert wurde? Diese Frage ist zu verneinen. Das – gegenüber den alltäglichen, aber auch den Tattoos von Seeleuten, Soldaten und Knastinsassen – Besondere der Mara-Tattoos findet sich in

  1. ihrem kulturell-dualen Ursprung, der Chicano- und Gothic-Kultur, das heißt von christlicher und satanischer Symbolik;

  2. der bei ihnen spezifischen Gewichtung in der Spannung von Freiwilligkeit und Zwang oder Individualität und Gruppenloyalität als Ausdruck einer, so soll das hier bezeichnet werden, „individuell intendierten und gestalteten, wiewohl dominanten Gruppenexklusivität“,

  3. dem kontextbedingten Übergang vom „schock-ästhetischen“ Narzissmus der Tattoos zum Verzicht auf sie, als sie zunächst gefährlich und dann unnötig wurden.

Ob es bei den Maras einmal eine Renaissance des Tätowierens geben wird, ist nicht gewiss. Und noch sind ja auch bei weitem nicht alle Mareros Tattoo-frei. Dort, wo sich die Mareros ihre Tattoos schon vor dem allgemeinen Verbot haben lasern lassen, weil sie aus ihrer Mara ausgestiegen, besser gesagt, zu „schweigenden“ Mareros geworden waren, erwies sich ihr Tattoo-Verzicht nur als Folge und nicht als Ursache ihres – notgedrungen ohnehin halbherzigen – Ausstiegs. Die immer einmal wieder in Diskussionen geäußerte Überzeugung, allein schon das Lasern der Tattoos würde den Ausstieg und die Reintegration der Mareros in die Gesellschaft ermöglichen, verwechselt Ursache und Folge.

Nunmehr, nach dem generellen Mara-Tattoo-Verbot, könnte es sein, dass bei ihren Mitgliedern der soziale Kontext – ohne Tattoos in der normalen Gesellschaft ankommen zu wollen und zu können – am Ende wichtiger ist als das vorherige Bedürfnis, eigene Emotionen oder Kreativität auch auf dem eigenen Körper auszudrücken. Ist diese These richtig, könnte aus ihr geschlossen werden, dass mit dem Verzicht auf die Tattoos schon etwas vorweggenommen wird, was den Maras ohnehin bevorsteht: dass sie, über Pakte, mit der sie umgebenden Gesellschaft, ja mit der Politik, einmal ganz verschmelzen könnten. Allein dies wäre dann ein völlig anderes „Verschmelzen“ als jene soziale Re-Integration in eine „gute“ Gesellschaft, die von Sicherheitsspezialisten jenseits der „harten Hand“ und NGOs so gern gesehen würde. Es bedeutete vielmehr das Aufgehen in einer Gesellschaft, die auch ihrerseits auf das – kriminelle – Mara-Niveau herabgesunken ist. Vielleicht haben sich also Maras und Politiker einfach in dem getroffen, was ihnen gemeinsam ist: der Korruption. Dabei ist es unwesentlich, ob bei dieser ausgehandelt wird, wie viel eine politische Partei den Maras dafür zahlt, dass sie so und so viele Wähler rekrutiert, oder ein Geschäft im Drogenhandel. Ersteres findet man in El Salvador, letzteres insbesondere Honduras. In Honduras, so heißt es, sei der eigentliche Chef der Maras ohnehin schon – der in den Drogenhandel involvierte – Präsident des Landes. Es könnte aber auch sein, dass die Mareros, z.B. wenn die Pakte einmal wieder aufgekündigt werden sollten, die outlaws der Gesellschaft bleiben werden und dann ihre frustrierten, ja aggressiven Emotionen durch ein anderes, weitaus aggressiveres Ventil externalisieren müssen als es ihre Tattoos je waren.

Wünschenswert ist beides nicht.

 

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Ich danke Laura Wägerle für ihre Hilfe bei einem Teil der Recherche zu diesem Text. Ihm liegen auch 44 Feldforschungsinterviews zugrunde, die ich mit Mara-Spezialisten in El Salvador und Honduras geführt habe. Für deren Finanzierung gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft mein besonderer Dank. Zu den Tattoos haben sich insbesondere geäußert:

  • Amaya, Luis Enrique, ILEA, El Salvador, 02.09.16.

  • Bardales, Ernesto, Ex-Direktor der NGO Jha-Ja, Honduras, 20.09.16.

  • Flores, Melvis, Proyecto Victoria, Honduras, 26.09.16.

  • Fuentes Morán, Francisco/Flores, Nelson/Abregú, Abraham, División Anti-Pandilla der PNC, El Salvador, 14.09.16.

  • González Montes, José, Policía Nacional/Unidad Anti-Pandilla, El Salvador, 07.09.16.

  • Martínez D’Aubuisson, Juan José, Anthropologe, El Salvador, 07.09.16.

  • Moratalla, Pepe, S.J., Polígono Industrial Don Bosco, El Salvador, 24.04.06 und 05.09.16.

  • Pacheco, Trinilo, Policía Comunitaria/Subsecretaría de Asuntos Interinstitucionales, Honduras, 29.09.16.

  • Sánchez, Arabesca, Kriminologin, Honduras, 20.09.16.

  • Sierra Zelaya, Gina María, Policía Nacional/PRRS, Honduras, 27.09.16.

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Zitierte Literatur:

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Bildquellen: [1-8] wiki_CC [9] CoverScan

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