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De la Parra, Teresa: Tagebuch einer jungen Dame, die schrieb, weil sie sich langweilte

Gabriele Eschweiler | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Die 1889 in Paris geborene Diplomatentochter Ana Teresa Parra Sanojo publizierte zu Beginn ihrer literarischen Tätigkeit unter dem mondänen Pseudonym Fru-Frú, später dann als Teresa de la Parra. Sie gilt als eine der bedeutendsten Autorinnen Venezuelas und Wegbereiterin der lateinamerikanischen feministischen Literatur. Die Kosmopolitin war sowohl in Europa als auch in Nord- und Südamerika zu Hause und unterhielt teils sehr enge Kontakte zu anderen Kunstschaffenden wie die chilenische Literaturnobelpreisträgerin Gabriela Mistral, die kubanische Anthropologin und Dichterin Lydia Cabrera u. v. a. m.

Teresa de la Parras erster Roman Ifigenia. Diario de una señorita que escribió porque se fastidiaba (Paris, 1924) war in ihrem Heimatland äußerst umstritten. In Frankreich wurde er bei der Erstveröffentlichung mit einem hochdotierten Literaturpreis ausgezeichnet und 1995 nahm man die französische Übersetzung Iphigénie (Paris, 1995) in die „Unesco-Sammlung repräsentativer Werke“ auf. Die deutsche Fassung Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt (Zürich, 2008) erschien in der „Manesse Bibliothek der Weltliteratur“.

Das gesellschaftskritische Buch erzählt die Geschichte der jungen Venezolanerin María Eugenia Alonso, die nach langen Jahren als Schülerin einer spanischen Klosterschule über Paris, wo sie voller Begeisterung in die Freuden des sinnlichen Lebens eintaucht, in ihre Heimat zurückkehrt. Nach berauschenden Monaten in der französischen Metropole, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Modernität und Frauenemanzipation bereits spürbar geprägt war, mutet das Leben in Caracas, wo die Menschen nach wie vor in den althergebrachten Traditionen und Sichtweisen sowie vom Machismo bestimmten Geschlechterrollen verhaftet sind, für die nach europäischen Maßstäben erzogene junge Dame alles andere als verheißungsvoll an. Statt freier Entfaltung der Persönlichkeit sieht die Heldin sich gefangen in einem restriktiven System, in dem ihr mehr und mehr untersagt und vorgeschrieben wird. Sowohl ihre Familie als auch die Gesellschaft vertreten fast ausnahmslos uralte, unantastbare Werte. Aus dieser für sie neuen, ungewohnten Lebenswirklichkeit flüchtet die Achtzehnjährige in die Welt des geschriebenen Wortes.

Der Roman besteht aus einem sehr langen Brief der Protagonistin an ihre alte Schulfreundin und Tagebuchaufzeichnungen. Literarisch folgt de la Parra damit den Traditionen des Brief- und Tagebuchromans, die beide durch einen privaten, intimen Charakter gekennzeichnet sind. Dadurch dass die Leserschaft unmittelbar an den Gedanken und Gefühlen der oder des Schreibenden teilhat, wird die Illusion absoluter Authentizität erzeugt. Mit dem Wechsel vom Brief zum Diarium macht Teresa de la Parra auch formell deutlich, wie sich María Eugenias Befindlichkeit im Laufe der Zeit verändert. Richtete das anfangs extrovertierte, vor Lebensfreude nur so strotzende Mädchen sich mit ihrem endlos langen Brief noch an eine andere Person, so vollzieht sie mit ihren Tagebucheinträgen den Rückzug nach innen, da sie nunmehr nur noch ein Gespräch mit sich selber führt.

Diese zwei Spielarten des autobiographischen Schreibens haben ihre gemeinsamen Wurzeln in der Tradition des außergewöhnlich offenen und selbstkritischen, autobiografischen Bekenntnisbuches, dessen bekannteste Beispiele von Augustinus: Confessiones (dt.: Bekenntnisse, 397–401), Jean Jacques Rousseau: Les Confessions (dt.: Die Bekenntnisser, 1764–1770) und Thomas de Quincey: Confessions of an English Opium Eater (dt.: Bekenntnisse eines englischen Opiumessers, 1821) stammen. Allen gemeinsam ist eine schonungslose Selbstentblößung sowie eine radikale Ehrlichkeit, die meist durch ein Konzept experimenteller psychischer Selbsterkundung motiviert ist.

Der Briefroman erreicht im 18. Jahrhundert beim Lesepublikum eine erstaunlich große Populärität. Die empfindsamen Tugendromane Pamela, or Virtue Rewarded (dt.: Pamela oder die belohnte Tugend, 1740) und Clarissa, or, The History of a Young Lady (dt.: Clarissa, Die Geschichte eines vornehmen Frauenzimmers, 1748) des Engländers Samuel Richardson ebenso wie Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) sind Briefromane, waren bereits zu ihrer Zeit Bestseller und gelten als Inbegriff des europäischen Sentimentalismus, der den Mensch und seine Gefühlswelt in den Fokus der Betrachtung stellt.

In der modernen Erzählprosa rückt der Tagebuchroman – wie zum Beispiel Robert Walsers Jakob von Gunten (1909) oder Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) – stärker in den Vordergrund. Beide Ausprägungen ebnen den Weg für die Erzähltechnik des „stream of consciousness“, die als scheinbar ungeregelte Folge von Bewusstseinsinhalten definiert ist und die radikalste Variante der Introspektion darstellt. Herausragende Beispiele sind die avantgardistischen Romane Ulysses (1918–1920) von James Joyce sowie Mrs Dalloway (1925), To the Lighthouse (dt.: Die Fahrt zum Leuchtturm, 1927) und The Waves (dt.: Die Wellen, 1931) von Virginia Woolf.

Mit dem Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt steht Teresa de la Parra aber auch in der Tradition der großen Ehebruchromane wie Gustave Flauberts Madame Bovary (1857), Lew Tolstois Anna Karenina (1877–1878) und Theodor Fontanes Effi Briest (1895). Anders als noch die Heldinnen bei Samuel Richardson oder Charlotte Brontë (Jane Eyre,1847), die als mittellose Waisen zunächst in untergeordneten Arbeitsverhältnissen zu ihren zukünftigen Gatten stehen und am Ende deren Liebe und größten Respekt aufgrund ihrer vorbildlichen Tugendhaftigkeit erlangen, brechen Emma Bovary, Anna Karenina und Effi Briest durch Untreue aus dem ihnen aufgezwungenen Lebensbund aus und finden ein tragisches Ende in Elend und viel zu frühem Tod.

Bei de la Parras verarmter und elternloser Hauptfigur verhält es sich umgekehrt. Nach einer anfänglichen Phase der Auflehnung, in der sie sich in einen jungen Mann verliebt, findet – auch aufgrund dieser Mesalliance – durch ihre Familie eine radikale Umerziehung statt, die darin mündet, dass die junge Frau sich in das Schicksal einer arrangierten Ehe mit dem äußerst unattraktiven, erzkonservativen Doctor César Leal fügt, dafür aber den hohen Preis ihres Selbstverlustes zu zahlen hat. Auf der sprachlichen und inhaltlichen Ebene offenbart sich dies an ihrer Hinwendung zu mystischem Gedankengut und einem zunehmend unruhiger und konfuser werdenden Schreibstil.

Sinnbild für die archaischen Verhaltensregeln in Lateinamerika und das Eingesperrtsein im eigenen Zuhause („immer unter Kuratel! Den ganzen Tag hinter Mauern“) sowie das tief verwurzelte Rollenverständnis der unverheirateten Frau ist das „Am-Fenster-Sitzen“, „O ihr Fenster, blumengeschmückte Gitterfenster aus Großmamas Zeiten!“

Aber selbst ins rückständige Caracas hat der Fortschritt bereits unaufhaltsam Einzug gehalten wie Onkel Pancho seiner Nichte kurz nach ihrer Ankunft in Venezuela bei einem Spaziergang durch die Stadt erklärt: „Siehst du die Fenster? Daß sie fast alle geschlossen sind? Vor nicht einmal zehn Jahren begannen sie sich um diese Uhrzeit allmählich zu öffnen, und von fünf bis sieben füllte sich die Straße wie ein bunter Garten mit Leben. Das war ein alter Brauch und sehr malerisch. Aber der Kinematograph hat die Fenster verdrängt…“. Das hindert María Eugenias Großmutter jedoch nicht daran, ihre unverheiratete Tochter Clara und ihre Enkelin ans Fenster zu setzen, was von der Patriarchin mit einem aufmunternden „Man soll die Jugend genießen …“ unterstrichen wird.

 

Teresa de la Parra

Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt

Manesse Verlag. Zürich 2008

 


 

Bildquelle: CoverScan

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