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Kästner, Klaus-Peter: Zoé – Materielle Kultur, Brauchtum und kulturgeschichtliche Stellung eines Tupí-Stammes im Norden Brasiliens

Lesedauer: 7 Minuten
Gelesen - Zoé. Ein Tupí-Stamm im Norden Brasiliens (262 Downloads )

Zoé, Karte Sprachfamilien und Dialektgruppen - Karte: Klaus-Peter KästnerDer Schutz der indigenen Bevölkerung und die Bewahrung ihrer Kultur sowie ihrer Traditionen sind zu einem aktuellen Thema geworden. Besonders im Kontext der zunehmenden Globalisierung und des Vordringens der „Zivilisation“ erwachsen für die indigenen Völker, vor allem die (noch) isolierten, zunehmende Gefahren.

Klaus-Peter Kästner hat mit den Zoé eines der bedrohten Völker besucht und seine Erkenntnisse in dem Buch „Zoé. Materielle Kultur, Brauchtum und kulturgeschichtliche Stellung eines Tupí-Stammes im Norden Brasiliens“ festgehalten.

Die Zoé gelten in Brasilien derzeit noch als indios isolados (isolierte Indigene). Ihr Siedlungsgebiet erstreckt sich zwischen den Flüssen Erepecuru und Cuminapanema. Im Jahr 1982 wurde der erste Kontakt mit den Zoé von einer amerikanischen Missionsgesellschaft hergestellt (S. 21). Ein besonderes Merkmal des Volkes ist es, dass sowohl die Frauen als auch die Männer einen Lippenflock (poturú) tragen. Im Alter von etwa sieben Jahren wird die Unterlippe der Kinder perforiert und ein kleiner Lippenflock von sechs bis sieben Zentimeter eingesetzt (S. 94, 130).

Der Autor weist gleich zu Beginn des Buches darauf hin, dass das Werk Ergebnis von drei Feldaufenthalten ist, die er zwischen 1993 und 1995 bei den Zoé im Norden des brasilianischen Bundesstaates Pará durchgeführt hatte. Ziel der Reisen war das Anlegen von dokumentierten Sammlungen für die Völkerkundemuseen von Dresden und Leipzig. Das vorliegende Buch betrachtet jedoch nicht nur die materielle Kultur, sondern beschreibt auch detailliert die Traditionen und die kulturgeschichtliche Stellung der Zoé. Zur Erklärung der Fakten nutzt Kästner ein historisch-etnographisches Klassifikationssystem (S. 14).

In der Einführung des Werkes erzählt der Autor, wie die erste Kontaktaufnahme der „Zivilisation“ mit den Zoé erfolgte. Wie oben erwähnt waren es US-amerikanische Missionare, die im Jahr 1982 über den Austausch von Geschenken den ersten Kontakt herstellten. Einige Jahre später schloss die Nationale Stiftung zum Schutz der indigenen Bevölkerung (Fundação Nacional do Índio, FUNAI) einen Vertrag mit dieser Missionsgesellschaft ab, wobei sie ihr jeglichen Kontakt mit isolierten Völkern verbot. Daraufhin verschlechterten sich die Beziehungen zwischen beiden Organisationen, und im Jahr 1991 verließ die Missionsgesellschaft das Gebiet.

Diese Details der Kontaktaufnahme bestätigen einmal mehr die Einflüsse beziehungsweise die Auswirkungen der „Zivilisation“ auf die isolierten Völker. Ein weiteres Beispiel dafür liefert auch die Interaktion zwischen den Zoé und der Missionsgesellschaft. So brachten die Missionare Hühner mit – und der Bau von Hühnerställen mit Wänden aus parallel angeordneten vertikalen Pfählen wurde ebenfalls von den Gästen aus dem Norden übernommen (S. 23, 45). Die Ureinwohner erhielten zudem vermehrt für sie unbekannte, wenngleich nützliche Werkzeuge wie (Metall-)Messer, Buschmesser, Angelhaken in verschiedener Größe und Angelschnur, die Mitarbeiter der FUNAI und Besucher mitbrachten. In dem Zusammenhang ist es wichtig hervorzuheben, dass die dem Volk unbekannten Gastgeschenke negative Langzeitfolgen zeitigen. Denn, wie Kästner richtig bemerkt, „sollten und wollten [wir] auf keinen Fall neue Waren einführen und damit neue Bedarfswünsche wecken, die man später nicht hätte erfüllen können“ (S. 23).

Zoé Familie und Dr. Kästner - Foto: Klaus-Peter KästnerDas Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil umfasst die materielle Kultur der Zoé. Hierunter fallen der Hüttenbau, ihre verschiedenen Typen und deren Nutzung. Besprochen werden auch ihre Wirtschafts- und Haushaltsgeräte, Werkzeuge, Fischfanggeräte und Waffen. Pfeil und Bogen gelten dabei als Universalwaffe der Zoé (S. 58). Kästner schildert zudem ihre handwerklichen Techniken und Produkte wie z. B. Keramik und Töpferei, ihre Kleidung und ihren Schmuck. Die jeweilige Herstellung beziehungsweise Verarbeitung ist vom Autor bis ins kleinste Detail beschrieben. Das gilt nicht zuletzt auch für seine Darstellungen ihrer Ornamentik, der Musikinstrumente und Spielzeuge.

Das Leben der Zoé stützt sich auf Bodenbau, Jagd, Fischfang und Sammeltätigkeit, die zusammen eine kombinierte Wirtschaftsform bilden. Unter den Nutzpflanzen der Zoé wie z.B. giftiger Maniok, Bataten, Cara und Pfeffer haben die Paranüsse eine herausragende Funktion – und zwar einerseits für die Ernährung und andererseits für die materielle Kultur des Volkes.

Im zweiten Teil beschreibt der Autor die Riten und Bräuche der Zoé. Für jede wichtige Lebenssituation – Geburt, Kindheit, Pubertät, Menstruation, Heirat, Tod – gibt es in diesem Volk einen speziellen Ritus oder Brauch. Es war aber schon für mich merkwürdig, über die Riten bei der ersten Menstruation zu lesen. Einem festen Ritual unterliegt auch die Hochzeit. Zunächst gibt es eine Geschlechtertrennung (Seklusion) von Braut und Bräutigam. Verbunden mit der Heirat sind zudem Reinigungsrituale (S. 131 ff., S. 146) – die sogenannte Skarifikation (das Ritzen der Haut mit einem Nagetierzahn) und Flagellation (Geißelung), wobei nicht ganz klar ist, welche Bedeutung gerade letzterer zukommt. Kästner stellt im Folgenden weitere kulturelle Aspekte der Zoé dar wie z. B. ihre Musik und Tänze, Jagdrituale und die Behandlung von Krankheiten. Allerdings gibt es keinen Medizinmann mehr. Eine ähnliche Rolle für die Behandlung von Krankheiten haben jetzt einige Männer übernommen (S. 145) – und ein Gesundheitsstützpunkt der FUNAI.

In Bezug auf die Glaubensvorstellungen, Mythen und Erzählungen der Zoé musste der Autor fragmentarisch bleiben, da er aus sprachlichen Gründen lediglich Sekundärquellen nutzen konnte. Zum einen sammelte er Informationen von zwei Mitarbeitern im Posten Cuminapanema, zum anderen vom Ethnologen Dominique T. Gallois (S. 149). Interessant ist vor allem der Ursprungsmythos der Zoé, der sich auf den Helden Sihera´pút bezieht. Dieser sei nach der Sintflut von einer Palme gestiegen und hätte den Zoé alles gezeigt und gelehrt, was sie zum Leben brauchten. Der große Unterschied dieser Version zu den Schöpfergottheiten der anderen Tupí-Stämme lässt sich wohl nur auf den Einfluss der Missionare zurückführen.

Zum Schluss macht der Autor einen Vergleich der kulturgeschichtlichen Stellung der Zoé in Bezug auf ihre Sprachverwandtschaft mit anderen Stämmen, auf die archäologischen Funde bei ihren Nachbarstämmen (unter anderem durch Curt Nimuendajú), auf ihre historisch- ethnographische Klassifizierung und ihre Kultur.

Zoé

Der Autor hat seinem Buch viele anschauliche Schemas, Karten und ausgezeichnete Bilder beigegeben, die allesamt gut klassifiziert sind. Das Werk wird jedoch bei der Leserschaft sicherlich nicht einheitlich bewertet. Manch ein Leser findet es sehr interessant, ein anderer dafür recht mühselig. Stellenweise ist es für Nicht-Spezialisten jedenfalls ziemlich ermüdend, wenn Kästner jede kleine Sache bis ins letzte Detail, das für Ethnologen vielleicht ganz spannend sein kann, beschreibt. Aus wissenschaftlicher Perspektive muss sein Werk jedoch als besonders wertvoll gelten. Und manchem uninformierten Leser mag dieses Buch einen Einblick in das Leben eines Amazonas-Volkes geben. Darüber hinaus wirft es einmal mehr viele wichtige Fragen auf: Wer sind diese Ureinwohner? Wie ist ihre Entwicklung? Wie können sie in Frieden und Eintracht mit der Natur zusammenleben? Was bringt ihnen die „Zivilisation“? Wie wird ihre Kultur modifiziert und zerstört? Welche Zukunft erwartet sie? Und wie kann man sie vielleicht doch noch vor der Globalisierung schützen?

Kästner, Klaus Peter
Zoé. Materielle Kultur, Brauchtum und kulturgeschichtliche Stellung eines Tupí-Stammes im Norden Brasiliens.
Verlag für Wissenschaft und Bildung, Berlin, 2007
ISBN 978—86135-781-0

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Bildquelle: [1] Karte: Dr. Klaus-Peter Kästner (Sprachfamilien und Dialektgruppen in Nord-Brasilien und angrenzenden Gebieten); [2] Zoé-Familie und Dr. Klaus-Peter Kästner (im Hintergrund). Nutzungsrechte liegen der Redaktion vor.

1 Kommentar

  1. jan z. volens sagt:

    Es gibt drei verschiedene Philosophien gegenueber dem Kontakt mit „indios isolados“ – Indigenen welche noch keinerlei Kontakt mit der nationalen Gesellschaft Brasiliens hatten, oder von „Europaern“ oder „Nordamerikanern“ besucht werden: No.1- Rondon, welcher 1915 die erste Indigenenschutzbehoerde gruendete – empfohl: Der Indianer kann selbst entscheiden zu welchen Umfang und wann er seine Lebensweise unter dem Einfluss der nationalen Gesellschaft veraendert. No. 2 – die „Missionare“ welche den Indianern den christlichen Glauben aufstuelpen moechten und sie danach „fuer sich“ als „Glaubensbrueder/schwestern“ verwalten. 3. Die fremden Akademiker von USA und Europa – welche heute ueberfluessig sind, denn Brasilien und ueberhaupt Lateinamerika hat jetzt selbst erstklassige Anthropologen und Ethnologen. In Brasilien hat nur der Indigenenschutzdienst FUNAI das Befugnis fuer den Kontakt mit, die Vetretung fuer, und amtliche Hilfe – fuer die „indios isolados“ – und die wirklichen „isolados“ gibt es auch heute noch – und ueber sie gibt es noch ueberhaupt keine Studien – denn manche leben vollkommen isoliert und von manchen hat die FUNAI nur ungewisse Hinweise: Noch heute streifen die Expeditionen der FUNAI durch den Amazonasraum um offiziellen Kontakt mit diesen neuen Buergern Brasilien herzustellen: Aber wenn ein Kontakt nicht erwuenscht ist – werden sie weiterhin in ihrer Isolierung Respektiert. Auch jeden Fall darf heute kein Missionar mit „isolados“ Kontakt aufnehmen ohne vorherige Genehmigung der FUNAI – und heute mit der Begrenzung das keine GLAUBENSBEKEHRUNG durchgefuehrt werden darf! (Die Missionare stehen heute alle unter dem Verdacht wissentlisch oder unschuldig die geopolitischen Interessen der USA und NATO-Europas zu vertreten – die Regierungen zahlen viele Millionen von ihren Steuerzahlern -weiter an die „religioesen“ und „gruenen“ NROs -welche in Lateinamerika „wirken“ und sich damit in die nationalen politischen und wirtschaftlichen Ereignise „einschalten“. „Gottesglaube“, „Umweltschutz“, „Indigenenrechte“ – sind auch geopolitische Waffen der USA und NATO-Europa, welche nur von naiven Gutmenschen noch nicht verstanden werden!) Das Buch beschreibt die Zoe (Tupis) vor einer Generation. Diese Region ist heute weitgehen im Entwicklungstadium. Die naechste Stadt, Obidos hat 50,000 Einwohner und ist an dem grossen Verkehr- und Frachtstrom – dem Amazonas. Die Zoe hatten auch einen Interessante Einrichtung „Ehemannlehrling“ – die Frau hatte auch noch mehrere junge Ehemaenner welche zur „Lehre“ waren und auch mit der Arbeit himhalfen. (In eine andere Indianerethnien hatte das System – beider Muetter entscheiden wer sich mit wem verheiratet: Das Maedchen sofort nach der ersten Menstruation, der Junge erst mit 18 – bis dahin konnte er aber mit Frauen Beziehungen verrichten welche sich schon in der Menopause befanden). Die „isolierten“ Indianerethnien habe viele „Traditionen“ welche auch die Europaer in dem paleolitischen Zeitalter pflegten – auch die grausamen und unerbittlichen (z. b. lebendige Beerdigung von Kleinkindern mit Defekten). Deshalb koennten die schoenen Ansichten von Naturmenschen in ungestoerter Natur auch das Elend in einer anderen Epoche der Menschengeschichte verheimlichen…

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