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Víctor Montoya – Microcuentos – Teil 10

Víctor Montoya | | Artikel drucken
Lesedauer: 3 Minuten

QUETZAL veröffentlicht exklusiv die deutsche Übersetzung einer weiteren Reihe von “Microcuentos” des bolivianischen Schriftstellers Víctor Montoya.

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Risitas

Er lebte und starb unter schallendem Gelächter.

Tiefenstrukturen der Sprache

Es war einmal ein Wurm. Der Wurm war im Apfel, der Apfel war in der Obstschale, die Obstschale war auf dem Tisch, der Tisch war im Esszimmer, das Esszimmer war in dem Haus, das Haus war in der Straße, die Straße war in dem Viertel, das Viertel war in der Ortschaft, …

kultur_montoya_Microcuentos10-1_Edwin_EschweilerJäger der Wörter

Der Schriftsteller ist ein wahrer Jäger der Wörter. Seine Jagdgründe sind die Synonymen- und Antonymennachschlagewerke. Sobald er den treffenden Ausdruck aufgespürt hat, legt er an und streckt ihn mit seiner Feder nieder.

Meinungsverschiedenheit

Die Nachricht von dem Verbrechen verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Nach Zeugenaussagen hatte alles mit einem langen Disput über Fußball begonnen und war in eine Prügelei um Weiberröcke ausgeufert, bis einer der Streithähne von einer Gewehrkugel durchbohrt umgefallen war. Erst dann kam es den Nachbarn, die die beiden Männer gut gekannt hatten, in den Sinn, dass es sich nicht um einen Zufall, sondern um vorsätzlichen Mord gehandelt habe – seien sich die beiden doch wegen einer Frau von jeher spinnefeind gewesen.

Textuelle Belästigung

Der Journalist ist stets textueller Belästigung verdächtig; er stürzt sich auf die Wörter mit Loch, entblößt sie bis zu ihrer Morphologie und hängt sie in die Spalten einer Tageszeitung. Hier mündet die Wortbelästigung in eine Nachricht.kultur_montoya_Microcuentos10-3_Edwin_Eschweiler

Der Verrückte

Es wird erzählt, dass der Dorftrottel vergeblich versuchte, seinen Schatten mit dem Licht einer Paraffinlampe zu ermorden.

Das Ende vom Lied war, dass er seine erbärmliche Behausung in Brand setzte.

Der Schreck

Ein fanatischer Kinobesucher aus meinem Heimatort erklärte mir – die Fingernägel vor lauter Nervenkitzel abgekaut – , dass bei den Horrorfilmen das Vergnügen im Schreck bestehe.

Der Totredner

Als dem Eifersüchtigen und Besitzergreifenden der Beweis für die Untreue seiner Frau vorlag, tötete er sie mit einem Wortschwall.

Wahrsagung

In jungen Jahren las mir in einem geheimnisumwobenen Zelt eine Zigeunerin mein Schicksal aus der Hand. Du wirst eine lange Reise machen, sagte sie. Dann – mir die ganze Prophezeiung ins Gesicht schleudernd – fügte sie hinzu: Du wirst sehr weit weg gehen, aber früh sterben …

kultur_montoya_Microcuentos10-2_Edwin_EschweilerSeitdem sind etliche Jahrfünfte verstrichen. In einem fernen Land bin ich gewesen, auf meinen Tod warte ich aber immer noch.

Armes Kind

Iss endlich, beharrte die Mutter. Weißt du nicht, dass andere Kinder gar nichts zu essen haben!

Dem Kind waren die Ermahnungen seiner Mutter egal. Zum x-ten Mal weigerte es sich zu essen und rief aus: Ich wäre auch gerne arm!

Der Geizige

Da er weder die Schale noch die Kerne vergeuden will, verzichtet er lieber ganz auf Obst.

 

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Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler

Abbildungen: Quetzal-Redaktion, Edwin Eschweiler

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