Die aktuelle Entwicklung in Bolivien, die sehr stark durch neue soziale Bewegungen vor allem in den ländlichen Räumen geprägt ist, bildete für den QUETZAL den Anlass, sich auf die Suche nach Hintergrundinformationen zu begeben. Isabella Radhubers Publikation „Die Macht des Landes. Der Agrardiskurs in Bolivien“ verhieß, viel zu diesem Anliegen beitragen zu können, zumal sich die erste Überraschung bereits im Inhaltsverzeichnis fand: Denn die Landwirtschaft in Bolivien sollte methodologisch nicht vorrangig nach ökonomischen, sozialen oder ökologischen Gesichtspunkten analysiert werden, sondern mit einer Diskursanalyse à la Foucault. Eine interessante und innovative Idee. Nun war Michel Foucault bekanntermaßen kein Spezialist für den agrarischen Raum, aber ein Vordenker für die Untersuchungen von Dispositiven als Interaktionen. Von daher versprach das Buch die Anwendung (und Erweiterung) der Diskursanalyse auf die Landwirtschaft.
Beim Studium der Einleitung häufen sich jedoch schon die Fragezeichen – beim Leser wie im Text. Diskursive und zu diskutierende Fragen reihen sich ohne Punkt und Komma aneinander, wobei die zu stellende Hauptfrage: Was ist „Macht“? nicht beantwortet wird. Vielleicht geschieht das ja ganz im Sinne Foucaults, da dessen Verwendung des Machtbegriffes auch als sehr undifferenziert anzusehen ist (S. 22 ff.). Radhubers Versuch, „Macht“ als die Konzentration des Landbesitzes (evt. erweitert durch die politische Verwaltung dieser wirtschaftlichen Variable) zu definieren (S. 12, S. 15), muss aus foucaultscher Sicht wohl als limitiert gelten. Zum einen bleiben Formen der Macht wie Autorität, Zwang, Gewalt, Herrschaft (im empirischen Teil geht sie allerdings kurz darauf ein, S. 90-91) und Institutionalisierung, Organisation oder Mittel der Machtausübung weitgehend ausgeblendet. Zum anderen ließe sich einwerfen, dass Landgröße allein kaum das entscheidende Kriterium für Macht, nicht einmal ökonomische, sein könne, sondern vielmehr die auf einem gewissen Land erzielten Gewinne.[1]
Neben dem undifferenzierten „Macht“-Begriff bildet die Diskursanalyse das zweite zentrale theoretische Standbein der Arbeit. Doch was ist der „Diskurs“? Die „materielle Realität“ der bolivianischen Landwirtschaft, das Wissen darüber und die dadurch erfolgenden (beziehungsweise erzeugten) Aktionen (S. 26)?[2] Nicht nur im Sinne Foucaults wäre bei dieser Definition die folgerichtige – und von Radhuber selbst erkannte – Aufgabe zu klären, wie der aktuelle Agrardiskurs historisch konstruiert werden kann (S. 27). Denn da der Diskurs selbst Veränderungen unterliegt, geht die entscheidende Frage dahin, warum er heute so bedeutsam auf den verschiedenen Ebenen und bei den unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren ist (S. 74). Nicht dass es einen Agrardiskurs gibt, sondern wie und warum sich derselbe verändert, verlangt eine Erklärung. Oder – wie es die Autorin selbst formuliert: „Wie kam es dazu, dass die kollektive Artikulation des Themas gerade in den letzten Jahren eine solche Durchsetzungskraft erlangte“ (S. 15).
Leider greifen die Ergebnisse der Analysen (v.a. auf S. 116 ff.), die diese Fragestellung hätten beantworten sollen, zu kurz. Auch die Aussage: „Nach der Revolution 1952 formierte sich ein bäuerlicher Diskurs […]“ (S. 124) belegt die theoretischen Unzulänglichkeiten der Untersuchung, da „bäuerlich“ in dem Zusammenhang nicht definiert und zudem die Veränderung im Diskurs (wahrscheinlich von „oligarchisch“ zu „bäuerlich“) bezüglich der Machtverschiebungen nicht analysiert wurden. Gleiches gilt entsprechend für die aktuellen Entwicklungen.
So muss der Leser am Ende feststellen, dass die Diskursanalyse der bolivianischen Landwirtschaft à la Foucault allenfalls unvollständigen Charakter trägt. Das Programm war wohl zu groß. Oder Foucaults Methodik doch nicht der passende theoretische Rahmen, zumal man wenig über (die) „Macht“ (der Grundbesitzer bzw. der sozialen Bewegungen) oder Veränderungen im Diskurs der bolivianischen Agrarwirtschaft erfährt.
Allerdings stellt die Arbeit im empirischen Teil eine sehr gute agrarsoziologische und -ökonomische Untersuchung dar. Radhuber gelingt es, dem Leser viel über die bolivianische Landwirtschaft, das Denken der Landwirte, ihre Kosmovision – und ihre unterschiedlichen Ansichten zu vermitteln. Die besondere Stärke der Arbeit liegt deshalb unzweifelhaft in der Empirie. Die qualitative Analyse der Interviews ermöglicht es dem Rezipienten, sich ein umfassendes Bild von den Standpunkten und Interessen der verschiedenen Akteure im Agrardiskurs sowie der Strukturen im Landwirtschaftssektor zu machen. Insofern folgt die Autorin – streng genommen – eher strukturalistischen als poststrukturalistischen Argumentationslinien.
Was bei der Publikation des Lit-Verlages sehr negativ auffällt, sind formelle Fehler. Während die seitenlangen Verweise auf den gleichen Autor (z.B. S. 22-24, S. 34-35, S. 37-39), falsche Quellenangaben (FN 75 auf S. 61), falsche Jahreszahl zur Agrarreform (nicht 1952, sondern am 02.08.1953) beziehungsweise die ungünstige Nennung von Encarta als Quelle (S. 49) der Autorin zuzuschreiben sind, hätten fehlende bibliographische Angaben in der Literaturliste (z. B. FN 51 auf S. 55, FN 68 ff. auf S. 59-62), Layoutfehler (z.B. S. 90, S. 94, S. 110) und unvollständige Grafiken (S. 78) bei ordentlicher Verlagsarbeit nicht passieren dürfen.
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[1] Vgl. hierzu z.B. die 947.440,8 ha der TCO Monteverde (S. 126) mit den dazu im Vergleich bescheidenen (aber immer noch riesigen) 12.500 ha des Unternehmers Branko Marinkovic (S. 127).
[2] Auch wenn Radhuber „Diskurse“ an anderer Stelle (auf S. 125 sogar zweimal wortwörtlich) dadurch definiert, dass sie „durch ein komplexes Bündel von Beziehungen geschaffene und getragene diskursive Praktiken [sind], welche systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“, scheint die hier verkürzte Definition von S. 26 durchaus angebracht zu sein.
Radhuber, Isabella
Die Macht des Landes. Der Agrardiskurs in Bolivien
Lit-Verlag, 166 S.
Münster [u.a.], 2009