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Bolivia indígena 2012 – Paradigma oder Ausnahme? Ein Literaturbericht (Teil 1)

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 17 Minuten

García Linera; Álvaro: Vom Rand ins Zentrum. Die Neugestaltung von Staat und Gesellschaft in Bolivien. Rotpunktverlag, Zürich 2012 (301 S.)

Riedler, Erich: Bolivien unter Evo Morales. Neuanfang – oder Altes in neuer Verpackung? Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2011 (200 .S.)

Schilling-Vacaflor, Almut: Recht als umkämpftes Terrain. Die neue Verfassung und indigene Völker in Bolivien. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2010 (287 S.)

Schorr, Bettina: Mobilisierung, Protest und Strategien in Aktion. Boliviens Protestwelle 2000-2005: Ausbruch, Verlauf und politische Folgen. VS Verlag, Wiesbaden 2012 (326 S.)

Toussaint, Eric: Die Bank des Südens und die Weltwirtschaftskrise. Bolivien, Ecuador, Venezuela und die Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus. Neuer ISP Verlag, Köln/ Karlsruhe 2010 (208 S.)

Einleitung

Álvaro García Linera: Cover-Abbildung Vom Rand in ZentrumDas Interesse an der Entwicklung in Bolivien scheint nach wie vor ungebrochen. Auch wenn dies im generellen „Lateinamerikatrend“ der letzten zehn Jahre liegt, so stellt sich doch die Frage, warum gerade das Land im Herzen des Kontinents so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Einen ersten Hinweis liefern Titel und Gegenstand einer Reihe von Publikationen, die seit 2010 erschienen sind. (1) Der Titel „Vom Rand ins Zentrum“ von Álvaro García Linera, dem bekannten bolivianischen Intellektuellen, der seit 2006 außerdem das Amt des Vizepräsidenten bekleidet, bringt es auf den Punkt: Bolivien, das vor dem Regierungsantritt von Evo Morales im deutschsprachigen Raum eher ein Schattendasein fristete, ist seitdem ins Zentrum des publizistischen und wissenschaftlichen Interesses gerückt. Dies ist vor allem der Tatsaache geschuldet, dass die indigene Bevölkerungsmehrheit die „Neugestaltung von Staat und Gesellschaft in Bolivien“ (so der Untertitel von García Linera) initiiert hat. Auf die Neuartigkeit dieses umfassenden Transformationsprozesses verweist auch die Studie von Almut Schilling-Vacaflor, die die neue Verfassung und die Mitwirkung der indigenen Völker an ihrer Aushandlung zum Gegenstand hat. Toussaint räumt Bolivien (neben Ecuador und Venezuela) eine Schlüsselstellung bei der Suche nach „Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus“ (so der Untertitel) ein. Etwas zurückhaltender formuliert es Erich Riedler, von 2005 bis 2009 deutscher Botschafter in La Paz, mit der Frage: „Neuanfang – oder Altes in neuer Verpackung?“ Bei Bettina Schorr, die ihre Arbeit der Analyse der Protestwelle 2000-2005 gewidmet hat, erschließt sich das Neue und Besondere jener „ungewöhnlichen Prostestwelle“ (Schorr, S. 20) vorrangig aus der Lektüre über die erste und damit entscheidende Phase des inzwischen zwölfjährigen Ringens um die Neugründung Boliviens.

Aus der Gesamtschau dieser fünf Publikationen schälen sich vier Schlüsselthemen heraus, die im Folgenden der Gliederung des Literaturberichts zugrundegelegt werden: Das erste Thema ergibt sich aus der Frage, warum Bolivien vom Rand ins Zentrum gerückt ist. Die offensichtliche Tatsache, dass die indigenen Völker des Landes dem Transformationsprozess ihren Stempel aufgedrückt und damit Richtung wie Prägung gegeben haben, beschreibt zwar richtig einen gleichermaßen neuen wie zentralen Sachverhalt, reicht aber nicht, um diese Frage erschöpfend zu beantworten. Das politische Erwachen der indigenen Völker reiht sich zwar in eine generelle globale und regionale Entwicklung ein, wirft aber wegen des Fakts, dass diese Völker im Falle Boliviens die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, ein grundsätzliches Problem auf: Inwiefern können die bahnbrechenden Veränderungen in Bolivien, die den indigenen Bewegungen des Landes eine Pionierolle im globalen Vergleich zuweisen, als Paradigma gelten? Oder leitet sich aus der „indigenen Sonderstellung“ Boliviens ab, dass der „neue indigene Staat“ (Canessa 2012) zur einsamen Ausnahme verurteilt ist? Die Frage „Paradigma oder Ausnahme“ kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden, sondern soll vielmehr als „roter Faden“ für diesen Literaturbericht dienen, um die vorliegenden Publikationen nach Argumenten für beide Möglichkeiten zu durchforsten.

Almut Schilling-Vacaflor: Recht als umkäpftes TerrainDas zweite Thema ergibt sich aus der zentralen Rolle der sozialen/ indigenen Bewegungen in der Protestwelle von 2000 bis 2005, die in der Wahl von Evo Morales zum ersten indigenen Präsidenten Boliviens gipfelte. Die Relevanz dieses Themas leitet sich zunächst aus dem lateinamerikanischen Vergleich ab. Neben Bolivien bilden auch in Guatemala die indigenen Völker die Mehrheit der Bevölkerung, ohne dass dort aber starke indigene Bewegungen entstanden sind. Hier soll und kann keine vergleichende Untersuchung beider Fälle vorgenommen werden. Der Verweis auf Guatemala (man könnte auch das Nachbarland Peru als Kontrastfall zu Bolivien anführen) soll lediglich deutlich machen, dass es keinen Automatismus zwischen dem demographischen Gewicht der indigenen Bevölkerung eines Landes und ihrer politischen Stärke gibt. Wenn in Bolivien diese Stärke zum bislang einzigen Fall der Neugründung des Staates im Zeichen der „Indigenisierung“ geführt hat, dann bedarf dies einer Erklärung, die den Fakt der demographischen Mehrheit und ihre möglichen Konsequenzen mit sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Faktoren plausibel verbindet. Dies ist schon allein deshalb erforderlich, weil die (Re-)Ethnisierung der indigenen Völker jüngeren Datums ist und – ebenso wie ihre Stärke, Ausrichtung oder Folgen – ganz unterschiedlich ausfallen kann.

Das dritte Thema nimmt explizit die Neugründung Boliviens ins Visier. Diese wirft zumindest zwei Fragen auf: Was ist daran neu (siehe Riedler)? Und ist die Charakterisierung Boliviens als „neuer indigener Staat“ (Canessa 2012) präzise genug bzw. hinreichend, um ihr Wesen zu bestimmen? Die vorliegende Literatur bietet die Möglichkeit, beide Fragen in zwei Richtungen auszuleuchten. Zum einen in Bezug auf die neue Verfassung, die erklärtermaßen das offizielle Basisdokument der Neugründung darstellt, einschließlich der damit verbundenen Diskurse und Aushandlungsprozesse (siehe Schilling-Vacaflor), zum anderen in Hinblick auf die realen Ergebnisse des „Proceso de Cambio“ (García Linera 2012), wofür vor allem Riedler und Toussaint Stoff und Argumente liefern.

Viertens stellt sich die Frage nach der Alternativität des bolivianischen Transformationsprozesses. Auch diese weist zwei Richtungen ihrer Beantwortung auf: Wie tief und nachhaltig ist der Bruch mit dem bisherigen Entwicklungsmodell? Und was ist an diesem Prozess paradigmatisch? Dieses vierte und letzte Thema bietet zugleich die Möglichkeit, ergänzend neuste Publikationen einzubeziehen, die primär die Entwicklung seit der Wiederwahl von Evo Morales im Dezember 2009 zum Gegenstand haben (siehe Literaturliste am Ende des Beitrages).

Warum Bolivien?

Bettina Schorr: Mobilisierung, Protest und Strategien in AktionIn fast allen Veröffentlichungen über Bolivien stehen dessen Besonderheiten im Vordergrund: das am stärksten indigen geprägte Land Südamerikas und zugleich das ärmste, die Vielfalt von Natur und Bevölkerung, die Binnenlage des Landes und die damit verbundenen Konsequenzen, die sprichwörtliche politische Instabilität etc. Von den fünf Autoren, auf die hier näher eingegangen wird, behandelt Álvaro García Linera die Besonderheiten Boliviens am ausführlichsten. Zudem decken seine Beiträge, die zwischen 2001 und 2010 verfasst wurden, das breiteste Themenspektrum ab: Der erste befasst sich mit den sozialen Bewegungen (2001), der zweite (und mit mehr als 70 Seiten zugleich längste) beschäftigt sich mit den indigenen Autonomien und dem (multinationalen) Staat (2004), das dritte Thema bildet der Kampf um die Macht (2005), dem schließt sich eine Abhandlung über Indianismus und Marxismus (2005) an und am Ende geht es um den Staat in Zeiten der Transition (2010). Ein im Januar 2011 von Stephan Rist und Andreas Simmen geführtes Interview mit dem Vizepräsidenten, editorische Vorbemerkungen zur zeitlichen Einordnung der Texte des Bandes sowie das Vorwort aus der Feder von Jean Ziegler eröffnen dem Leser einen gut fundierten Zugang zu Autor und Themen der fünf genannten Beiträge. Grob lassen sich letztere in zwei Gruppen untergliedern. Die erste umfasst historisch-strukturelle Themen im Dreieck von sozialen Bewegungen, Indigenität und Staat, die zweite widmet sich der aktuellen Analyse des Transformationsprozesses zwischen 2000 und 2010.

Beide Gruppen verbindet die Frage, wie aus den historisch gewachsenen Widersprüchen und Strukturen eine Bewegungen erwachsen kann, die ihrerseits die Kraft für eine Neustrukturierung besitzt. Dies impliziert die Fähigkeit, aus der Analyse der „alten“ Strukturen ein neues Fundament zu entwickeln, das sich durch die Eigenschaft auszeichnet, jene Widersprüche, aus denen die Bewegung erwachsen ist, zumindest teilweise überwinden zu können. Der zentrale Befund von García Linera läßt sich wie folgt zusammenfassen: In Bolivien hat sich eine multinationale und multizivilisatorische Gesellschaft herausgebildet (S. 125ff., 137ff.), zu der der monokulturelle Staat (S. 125ff.) in Widerspruch steht, welcher deshalb gegenüber dieser als schwacher und schizophrener Scheinstaat auftritt (S. 137ff., 146ff.). Angesichts dieser „Buntscheckigkeit“ (Linera S. 137) Boliviens bietet ein „multinationaler und multizivilisatorischer Staat“ (S. 151ff.) die beste Gewähr, die „Kluft zwischen staatlicher Sphäre und sozioökonomischer Zusammensetzung des Landes“ zu überwinden. „Das heißt, man muss die Schizophrenie der Eliten durchbrechen, die jahrhundertelang davon geträumt haben, dass ihre Nation modern und weiß sei, die moderne Institutionen und Gesetze kopieren, um sie in einer Gesellschaft anzuwenden, in der die Indigenen die Mehrheit bilden und die marktwirtschaftliche und organisatorische Modernität für mehr als die Hälfte der Bevölkerung nicht existiert“ (S. 151). Welche Merkmale der alternative multinationale Staat aufweisen sollte, wird zwar auch von García Linera ausführlich thematisiert (S. 162-183), kann an dieser Stelle aber nicht weiter ausgeführt werden, da dafür das dritte Thema (Neugründung) besser geeignet ist.

Eine zweite Aussage von zentraler Bedeutung bei García Linera betrifft die Bedeutung der ethnischen Identität für die politische Mobilisierung der indigenen Bevölkerung. Diesen Aspekt behandelt er auf drei Ebenen: Auf theoretischer Ebene erläutert er in zwei gesonderten Exkursen die Bedeutung von Identitäten für die politische Mobilisierung (S. 131-133 ) sowie die Spielräume und Mechanismen der Identitätsfindung (140-143). Auf der zweiten Ebene beschreibt er aus historischer Perspektive den wechselvollen Prozeß der (Re-)Ethnisierung im Verlauf des 20. Jahrhunderts, wobei der Schwerpunkt auf den beiden Wellen des Katarismo liegt („Indianismus und Marxismus“, S. 215-238). Auf der dritten Ebene legt García Linera im Rahmen einer prägnanten Analyse der Doppelkrise des ökonomischen Modells und des Staates („Der Kampf um die Macht in Bolivien“, S. 185-213) anschaulich dar, wie sich ab 2000 die ethnische Identität zur zentralen Achse jener Protestwelle entwickelt, die schließlich in den Prozeß der Neugründung einmündet.

Erich Riedler: Bolivien unter Evo MoralesGrundlegend für das Verständnis der drei folgenden Themenbereiche sind außerdem zwei weitere Befunde: Im Falle Boliviens handelt es sich um eine tief gespaltene und polarisierte Gesellschaft, deren Bruchlinien neben dem Ethnischen auch die Territorialität und das Soziale durchziehen. In der bereits erwähnten Doppelkrise von Staat und Wirtschaftsmodell brechen die latenten Spannungen auf und entladen sich ab 2000 im Protestzyklus. Hinsichtlich der Staatskrise sind wiederum zwei Aspekte von besonderer Relevanz. Zum einen zeigt sich diese in der „langfristigen Komponente“ des Kolonialismus („koloniale Fissur des Staates“, S. 194ff.), die von der spanischen Eroberung bis in die Gegenwart reicht und durch die Neugründung überwunden werden soll. „Die zweite Achse des strukturellen Bruchs des Staates“ stellt dessen „räumliche Fissur“ (S. 200ff.) dar, auf die später noch einzugehen ist. Zum anderen führt die Protestwelle zwar zur Regierungsübernahme von Evo Morales, in dessen erster Amtszeit mit der Verabschiedung der neuen Verfassung auch das Versprechen der Neugründung eingelöst wird, ohne dass damit aber die Machtfrage schon geklärt ist. Vielmehr nimmt die Polarisierung zu und der Zustand des „katastrophischen Gleichgewichts“ tritt in eine neue Phase, bis sich dann 2008 der Prozeß im Zuge der Entfaltung des „Bifurkationspunktes“ zugunsten des neuen Machtblocks stabilisiert (S. 211ff., 245, 265ff.)

Aus dem Dargelegten ergibt sich in Hinblick auf die Frage „Warum Bolivien?“ eine erste Teilantwort. Dass Bolivien ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist, ergibt sich in erster Linie daraus, dass die seit Jahrhunderten ausgeschlossene und diskriminierte indigene Bevölkerungsmehrheit ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen und mit der Neugestaltung des Landes begonnen hat. Dabei haben die indigenen Völker Boliviens mehr erreicht als anderswo auf der Welt, womit Bolivien sowohl Ausnahme als auch Paradigma ist. Erstere manifestiert sich zum einen in den historisch-strukturellen Besonderheiten des Landes (indigene Bevölkerungsmehrheit, „Buntscheckigkeit“, Last und Erbe des Kolonialismus, Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft etc.), zum anderen in der Stärke und Wirkungsmacht der indigenen Bewegungen. Beide verleihen der Neugründung einen spezifischen Charakter (Entkolonialsierung und Indigenisierung des Staates). In dieser Vorreiterrolle stellt Bolivien bis dato eine Ausnahme dar. Zugleich wird damit der „Fall Bolivien“ im doppelten Sinne zum Paradigma: sowohl als Meßlatte für andere Fälle erfolgreicher indigener Bewegungen wie auch als Testfall für Reichweite wie Dauerhaftigkeit von Neugründungen, die überall dort anstehen, wo indigene Völker nach wie vor kolonialer Ausgrenzung und Unterdrückung ausgesetzt sind. Beides – Bolivien als Ausnahmefall und Paradigma – macht das Land für Wissenschaft wie Politik zu einem Gegenstand des Interesses par excellence.

 

Soziale Bewegungen und Protestzyklus – von der Praxis zur Theorie oder umgekehrt?

Den Grundstein für dieses paradigmatischen Erfolg haben die sozialen Bewegungen Boliviens in der Protestwelle von 2000 bis 2005 gelegt. Diesem Thema widmet sich die Studie von Bettina Schorr. Die von ihr 2011 an der Universität Köln vorgelegte und verteidigte Promotionsschrift gliedert sich in fünf Teile, wobei die weitgehend der Chronologie der Ereignisse folgende Anlayse mit ca. 160 Seiten klar den Schwerpunkt bildet. Dieser sind die Einleitung, ein Theorieteil sowie ein Überblick über die Grundlagen und Ursachen des Protestzyklus vorangestellt (zusammen ca. 100 Seiten). Ein kurzes Fazit mit theoretischen Implikationen (25 Seiten) bildet den Abschluss.

Die Untersuchung versteht sich als Beitrag zur Bewegungsforschung im Allgemeinen (S. 35ff.) und zur Protestwellentheorie im Besonderen (S. 61ff.). Sie bietet eine fundierte, sehr anschauliche und zuleich detaillierte Analyse des 2000 einsetzenden Protestzyklus. Die beiden „Wasserkriege“ in Cochabamba und im Hochland bilden die Auftaktphase (bei Schorr als „Ausbruch“ bezeichnet), gefolgt von einer Phase der Protestexpansion, die zunächst 2003 im „Schwarzen Oktober“ und dem Sturz von Präsident Sánchez de Lozada gipfelt. Mit der anschließenden Regierungsübernahme von Carlos Mesa findet eine erste Rekonfiguration statt, die nach einem Abflauen im Frühjahr 2005 in die „letzte Offensive“ mündet, der mit dem damit verbundenen Rücktritt von Mesa eine zweite Rekonfiguration folgt. Im zweiten Halbjahr 2005, das bereits im Zeichen der Vorbereitung der allgemeinen Wahlen im Dezember steht, findet die Protestwelle in einer Phase der Kontraktion ihren Abschluss (vgl. zum chronologischen Ablauf auch Tabelle S. 131/132). Der Analyseteil endet mit einer Diskussion über die politischen Folgen der Protestwelle.

Eric Toussaint: Die Bank des SüdensDiese sehr geraffte Darstellung vermittelt bereits einen ersten Eindruck von der enormen Dynamik und Komplexität des sechsjährigen Zyklus, in dem nicht nur zahlreiche Akteure mit oft gegensätzlichen Interessen, Zielen und Strategien interagieren, sondern der zusätzlich durch die allgemeinen Wahlen 2002, das Gasreferendum im Juli und die Kommunalwahlen im Dezember 2004 beinflusst wird. Der Fülle und Komplexität der Protestwelle ist geschuldet, dass die Autorin ihr Hauptaugenmerk auf eine empirisch gesättigte, gut strukturierte und auf hohen Erkenntnisgewinn gerichtete Analyse richtet, was ihr auch sehr gut gelingt. Daraus leitet sie dann ihre theoretischen Implikationen ab. Diese betreffen im wesentlichen fünf Punkte (S. 293ff.): erstens die Rolle von Anführern, zweitens das Erkennen und Wahrnehmen von Gelegenheiten durch die Akteure, drittens die Bedeutung der Strategiewahl, viertens die Bestimmung der Faktoren, die zur Kontraktion führen und fünftens die Identifizierung zweier Paradoxien: des Gewalt- und der Reformparadoxons.

Dieses akteurs- und prozesszentrierte Herangehen, das sich sowohl aus dem Gegenstand als auch aus der Wahl des theoretischen Zugangs ableitet, bildet in Hinblick auf Verständnis und Strukturierung der Protestwelle zweifellos die Stärke der Arbeit. Allerdings hat die auf dieser Grundlage vorgenommene Ableitung theoretischer Implikationen aus der „praktischen Bewegung“ auch ihren Preis. Dieser zeigt sich in vier Punkten: Erstens gibt es eine Asymmetrie bei der Akteursanalyse. Diese besteht darin, dass der Fokus nur auf eine Seite, die Protestakteure, gerichtet ist. Die Gegenseite, Elite, Regierung und Staat, bleiben im Vergleich dazu unterbelichtet, was schon ein Blick auf die sehr detaillierte Gliederung des Analyseteils belegt. Dies mag der Gegenstandswahl und der Theorieperspektive geschuldet sein, stellt aber nichtsdestotrotz ein Defizit dar. Jedoch schlagen zwei Aspekte der Akteursanalyse von Bettina Schorr positiv zu Buche: Die gelungene Einbeziehung der Gegenbewegung im Tiefland (S. 230-240) und die überzeugende Darstellung der entscheidenden Rolle von Anführern für Ausbruch, Verlauf und Ausgang von Protestwellen. Besonders gelungen ist die Darstellung des Aufstiegs und der Konkurrenz der beiden Schlüsselfiguren Felipe Quispe (148ff., 175ff., 207ff.) und Evo Morales (192ff., 216ff., 244ff.).

Dies verweist aber zugleich auf einen zweiten Schwachpunkt der Arbeit. Beide Führungspersönlichkeiten streben die Übernahme der politischen Macht in Bolivien an: Felipe Quispe durch einen „indianischen Aufstand“ (S. 286), Evo Morales durch die Beteiligung an demokratischen Wahlen (S. 287). Auch die ab 2003 in Erscheinung tretende „radikale Flanke“ (S. 211ff., 248ff.) setzt im Zuge der „Verwirklichung nicht näher definierter sozialistischer Ziele“ auf einen Machtwechsel (S. 287/288). Es ist bedauerlich, dass die Machtperspektive nicht systematisch in die Analyse einbezogen wird, sondern eher nebenbei Erwähnung findet. Die Orientierung auf einen Machtwechsel seitens zentraler Akteure ist nicht nur für das Verständnis der Protestwelle selbst, vor allem für die Ausrichtung und Umsetzung der Strategien, entscheidend, sondern bildet auch ein ganz wesentliches Kriterium für die Bestimmung des Charakters der Protestwelle. Handelt es sich um eine Rebellion, wie die spanischsprachige Bezeichnung ciclo rebelde nahelegt, oder besitzt der Protestzyklus im Rückblick – besonders bezogen auf die durch ihn eingeleiteten Veränderungen – gar eine revolutionäre Dimension bzw. Qualität (García Linera 2012).

Drittens erfährt der Leser so gut wie nichts über die historische Einordnung der Protestwelle 2000-2005. Zu Recht gilt Bolivien als Land, in dem eine der stärksten und militantesten sozialen Bewegungen Lateinamerikas einem schwachen Staat gegenübersteht. Dies gilt sowohl für die Bauernbewegung der 1940er und 1950er Jahre als auch für die Gewerkschaftsbewegung mit den kampferprobten Bergarbeitern an der Spitze (bis 1986). Protestwellen hat es immer wieder gegeben: im Vorfeld und während der Revolution von 1952 (Gotkowitz 2007), Anfang der 1970er Jahre und während der Demokratisierung 1978-1985 (Dunkerley 1984). Im historischen Rückblick erfüllen auch die große Andenrebellion unter der Führung von Túpac Amaru und Túpac Katari (1780-1783) und die politische Mobilisierung der Aymara während des Bürgerkrieges 1898/99 die Kriterien einer Protestwelle.

Die letzten beiden Beispiele verweisen viertens auf den zentralen Stellenwert, den die ethnische Identität für Bolivien im Allgemeinen und für den Protestzyklus 2000-2005 im Besonderen besitzt. Bettina Schorr thematisiert zwar die „Politisierung des Ethnischen“ (S. 104-110) und behandelt auch den Aymara-Nationalismus relativ ausführlich (S. 149ff.), geht jedoch bedauerlicherweise nicht der Frage nach, wie sich die „Ethnisierung des Konflikts“ (S. 184ff.) in das „antineoliberale Masterframe“ (55/56, 169-171) – oder auch umgekehrt – einfügt. Dieses Problem wird zwar gelegentlich gestreift (so auf S. 151), kommt aber bei den theoretischen Implikationen nicht vor. Gerade in Hinblick auf die jeweiligen Protestakteure wäre es von Interesse gewesen, mehr über den Stellenwert der ethnisch-indigenen Komponente für die Bestimmung der kollektiven Identität, die Strategiewahl und das Agendasetting zu erfahren.

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(1) 2010 hat der Leipziger Lateinamerika-Verein QUETZAL e.V. zusammen mit der RLS Sachsen einen Doppelband publiziert, der neben 18 thematischen Beiträgen vier Rezensionen zu neusten Büchern und Fachjournalen enthält. Vgl. Gärtner, Peter et al. (Hrsg.): Bolivien im Umbruch. Der schwierige Weg der Neugründung. Leipzig 2010, S. 617-658. Der vorliegende Literaturbericht schließt inhaltlich und chronologisch daran an.

Literatur

Canessa, Andrew: Conflict, Claim and Contradiction in the New Indigenous State of Bolivia. Research Network on Interdependent Inequalities in Latin America, WP 22, 2012

Dunkerley, James: Rebellion in the Veins. Political Struggle in Bolivia, 1952-82. London 1984

FDCL/ RLS (Hrsg.): Der neue Extraktivismus. Eine Debatte über die Grenzen des Rohstoffmodells in Lateinamerika. Berlin 2012

García Linera, Álvaro: Las tensiones creativas de la revolución. La quinta fase del Proceso de Cambio. La Paz 2012

Gotkowitz, Laura: A Revolution for Our Rights. Indigenous Struggles for Land and Justice in Bolivia, 1880-1952. Durham & London 2007

Jost, Stefan: Bolivien: Aufstieg und Erosion eines Hegemonieprojekts. GIGA Focus, 3-2012

Mokrani, Dunia: Konfliktszenarien in der zweiten Amtszeit von Präsident Evo Morales. RLS Papers, Oktober 2011

Postero, Nancy: Now We Are Citizens. Indigenous Politics in Postmulticultural Bolivia. Stanford 2007

Stefanoni, Pablo: Bolivien unter Evo Morales: Von derMobilisierungslogik zur Entwicklungs­disziplin? In: Internationale Politik und Gesellschaft, 1/ 2010, S. 63-76

Ströbele-Gregor, Juliana: Lithium in Bolivien: das staatliche Lithium-Programm, Szenarien sozio-ökologischer Konflikte und dimensionen sozialer Ungleichheit. Research Network on Interdependent Inequalities in Latin America, WP 12, 2012

Webber, Jeffery: Revolution against „progress“: the TIPNIS struggle and class contradictions in Bolivia, in: International Socialism, issue 133, Jan. 2012

Wolff, Jonas: Demokratische Revolution in Bolivien. Versuch einer Erklärung eines friedlichen Umbruchs. Evangelische Akademie Villigst, März 2012

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