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Ernesto Cavour und das bolivianische Charango

Víctor Montoya | | Artikel drucken
Lesedauer: 7 Minuten
Ernesto Cavour und das bolivianische Charango (243 Downloads )

Bolivianisches Charango. Foto: public domain.Das Charango ist ein Ableger der spanischen Vihuela. Diese war im 16. Jahrhundert im Gepäck der Konquistadoren ins indianische Amerika gekommen, als die Blütezeit der Silberminen des legendären Cerro Rico von Potosí bereits der Vergangenheit angehörte, wo Mantel-und Degen-Caballeros, Gauner, Vagabunden und Troubadoure den adeligen Damen  nächtliche Serenaden dargebracht hatten. Gleich einem Glücksritter auf der Suche nach Ruhm und Reichtum war die Vihuela so lange der Unbill der Zeiten ausgesetzt und gescheitert, bis sich die Mestizen und Einheimischen ihrer annahmen und sie ohne lange zu zögern in das Charango umwandelten, nach – um es mit Ernesto Cavour zu sagen – vielem An- und Herumprobieren – „mit dem Holz der Munitionskisten für die Minen von Potosí, mit Metallkanistern für Alkohol oder gar mit Tutumas (1), die dem Instrument den Beigeschmack von billigem Fusel und bitteren Enttäuschungen verliehen“. So nahm das Charango schließlich in Form und Klang jene Eigentümlichkeit an, die es zu dem Ausdrucksmittel der Kultur und der Gefühle der Einheimischen gemacht hat.

Auch wenn einige dies gerne bestreiten möchten: Die Wiege des Charango liegt im bolivianischen Hochland, wo es wie der durch die Wildgräser pfeifende Wind erklingt und seine Melodien sich wie die Kantuta-Blüten in den Felsen der Andenkordillere aussäen. Ohne Zweifel ist ein gut gebautes Charango ein wahres Kunstwerk; schlägt man seine Saiten aus Darm, Metall oder Kunststoff an, entsteht ein so reiner und harmonischer Klang, wie es ihn dergestalt und selbst noch nicht einmal annähernd kein zweites Mal auf der ganzen Welt zu finden gibt.

Wenn der bolivianische Charangobauer sich seinem Handwerk widmet, indem er der Fantasie freien Lauf lässt, ist er bestrebt, dem Werkstück aus Doppelsaiten, gewölbtem Körper und mit weiblichen Kurven versehen größeren akustischen Reichtum zu verleihen, als ihn Mandoline, Basslaute, Balalaika und andere Instrumente besitzen, die das Charango um seine schöne Klangfarbe beneiden. Und als ob dies nicht schon genug wäre: Seit den 1930er-Jahren schuf Meister Mauro Núñez in Anlehnung an barocke Kammersaiteninstrumente und ausgehend von vier großformatigen bolivianischen Chordophonen eine ganze Charangofamilie: Sopran, Tenor, Bariton und Bass.

Stets wird der Charangobauer an die Volkstradition und Weisheit der Alten anknüpfen und arbeitet daher mit entsprechenden Werkstoffen, um dem Instrument allmählich Gestalt zu verleihen – so mit typisch bolivianischem Kulturerbe, wie die „Khirkis“-Charangos, deren Resonanzkörper aus den Panzern der Gürteltiere gemacht sind, jenen struppigen Tierchen, die ihr Leben für Kunst und Musik lassen. Nicht von ungefähr dichtete Óscar Alfaro: Als Don Gürteltier starb / hinterließ er als Zeichen der Liebe / seinen Körper und seine Seele / dem Indianer unseres Schlages. / Der nahm beides zur Hand / und hauchte ihnen neues Leben ein / als Körper des Charango / mit einer Seele aus reiner Melodie.

Sein Gesicht aus dem Holz des Orangenbaums, der Zeder oder der Trauerweide hat einen runden Mund, aus dem es im Herzschlag desjenigen lacht, singt, schreit, weint und pfeift, der seine Saiten anschlägt und Kurven umfängt. So vorbildlich verhält sich das Charango in den Händen von Ernesto Cavour, der es in vertrauensvollem und zärtlichem Umgang „Väterchen“, „Kindchen“, „Indianerstrolch“ oder „Meister der Herumtreiber“ nennt. Er weiß, dass dieser mit Saiten von oben nach unten überspannte Körper kein totes, sondern lebendiges Holz ist. Deshalb hütet er es mehr als sein eigenes Leben, wickelt es wie ein Baby in ein Tuch, bemäntelt es mit seinem Poncho und lässt es in seinem ledernen Kasten – nicht nur um Beschädigung und Verstimmen zu vermeiden, sondern auch um zu verhindern, dass es sich in einen anderen verliebt.

Zugleich ist er sich dessen bewusst, dass es schwieriger ist, über ein Charango zu gebieten als ein Wildpferd zu zähmen. Nicht ohne Grund sagt er deshalb zu ihm: „Viele glaubten, dich zu meistern. Dabei haben sie nicht die leiseste Ahnung, dass du es bist, der uns beherrscht!“ Zugegeben, der Umgang mit dem Charango ist nicht immer leicht, zumal es sich dem gegenüber, der es berührt, eifersüchtig und verräterisch gebärdet und ihm weit mehr Scherereien macht, als es jeder andere Gegenstand könnte.  Nein! Um es ein für alle Mal klar zu stellen: Da die Saiten des Charango die Schwingungen seiner Seele zum Ausdruck bringen, ist es so wahrhaftig, dass es nur in den Händen desjenigen singt und weint, der ihm ehrlich, also aus dem Grunde seines Herzens und nicht etwa aus Prahlsucht, zugetan ist. Ach, könnte das Charango reden wie ein Mensch, würde es uns ganz gewiss beim Zupfen und Anschlagen der Saiten von den Abenteuern und Fehlschlägen seines Lebens berichten.

Auf dieser irgendwo in La Paz aufgenommenen Fotografie posiert Ernesto Cavour mit Sombrero, Poncho und Halstuch und lässt dabei durchschimmern, wer es ist, dem sich die tiefsten Geheimnisse seines schönen und einzigartigen Instruments erschließen, welches schier makellos auf seiner Brust glänzt, mit dem dunklen Resonanzkörper fest unter seinem rechten Arm, während seine linke Hand locker über dem Griffbrett schwebt. Dieser Virtuose, der über große Fingerfertigkeit und interpretatorische Emotion verfügt, hat auf den größten Bühnen der Welt vorgeführt, dass das Charango weitaus mehr als ein bloßes Begleitinstrument ist.

Aus dem Dialog zwischen seinen Fingern und den Saiten entstehen Huayños, Khaluyos, Carnavalitos, Cuecas, Trotes, Bailecitos, Ch‘utunquis, Pasacalles und eine Menge weiterer süßer Weisen, die nur dieser Gigant der bolivianischen Musik dem Schallloch des Charango zu entlocken versteht– getreu den Regeln von Maestro Mauro Núñez, dem angesehenen Musikwissenschaftler und Interpreten aus Chuquisaca. Dieser schuf Charangos, um später mit ihnen – mit der Demut und Einfachheit des Indianers – als Gleicher unter Gleichen umzugehen, ihnen Leben zu verleihen und sie in guten wie in schlechten Zeiten wie seinen eigenen kleinen Sohn zu beschützen.

Mit diesem Instrument, das er Leben und Tod, Liebe und Abneigung besingen lässt, imitiert Cavour, der am Charango als Meister der Nuancen bekannt ist, die Geräusche der Umwelt und die Stimmen der Tiere. Seinem Charango, das über das feine Gehör einer Katze verfügt, ist wie selbstverständlich das Zwitschern der Vögel, das Geschrei der Esel, das Blöken der Schafe, das Muhen der Kühe, das Brüllen der Löwen, das Gewieher der Pferde, das Pfeifen der Lokomotiven, das Tuten der Schiffe, das Heulen der Winde und – auf besonderen Wunsch – sogar das Stöhnen der Geliebten zu entlocken.

Der bolivianische Charangobauer erfindet unermüdlich Instrumente, die mit jedem Mal erstaunlicher und raffinierter ausfallen. Dabei lenkt die Fantasie die Hände, und die handwerkliche Hingabe findet in Künstlern wie Ernesto Cavour ihre Würdigung, der sein Instrument wie ein Gewehr im Anschlag mit sozialem Engagement auflädt, sobald es das öffentliche Interesse erfordert. Eingedenk seiner in alle Welt verstreut lebenden Landsleute vergießt er im Takt seines Charango Tränen; dann wieder folgt er seinem kritischen Geist und handelt an Ort und Stelle, wo sein Instrument den Klagen des Volkes seine Stimme verleiht. Cavours Auftritte gehen niemals unter, selbst wenn die Veranstaltungen im Chaos zu versinken drohen. So auch das eine Mal: Kaum hatte er die Bühne betreten, wo die feurigen Reden der Agitatoren durch Buhrufe niedergebrüllt wurden, verharrte die Menge – wie gebannt von seinem Auftritt – in Schweigen. Er musste gar nicht erst sagen, dass er nun das Wort habe – er beendete, mit dem Charango in Händen, gleich einem Schiedsrichter, der die Pfeife im Mund hat, den Aufruhr und gab der Stille zurück, was ihr gebührte.

Zweifelsohne überrascht uns dieser Guru der andinen Musik, der seit seinem zwölften Lebensjahr mit dem Charango Zwiesprache hält und sich mit naturgegebener Autorität auf dem Olymp der Virtuosen dieses Saiteninstruments angesiedelt hat, stets von Neuem mit seiner Einfühlsamkeit und Professionalität. Er kann nicht nur alles, was er berührt, in Musik verwandeln, sondern zeigt uns auch, dass ein Künstler durch die Kunst Leben zu schenken in der Lage ist, indem er uns sein in Melodien verwandeltes Herz darbietet.

(1) In Bolivien beliebte Trinkgefäße, die z. B. aus Kokosnuss- oder Kürbisschalen hergestellt werden

Aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler

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Bildquelle: Public domain.

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