Legendenbildung auf „bolivianisch“
Die Provinz Omasuyos (Jach’a Omasuyos) am Ostufer des Titicaca-Sees ist die Heimat der „Ponchos Rojos“, jener zu Unrecht von den bolivianischen Medien als paramilitärische Einheit (de)qualifizierten Vereinigung der organisierten Bewohner von Achacachi, Ancoraimes und Warisata im bolivianischen Hochland. Eine rebellische Tradition dieser Gegend kann allerdings nicht negiert werden, da sie als Wiege für einige indigene Führer und Schauplatz wichtiger Ereignisse gilt.
Um der Legenden- und Mythenbildung entgegenzuwirken, haben vier bolivianische Autoren, unter ihnen der in Leipzig lebende Forscher Muruchi Poma, die Ursprünge und Geschichte der Roten Ponchos ergründet. Das 2008 im Verlag Plural erschienene Buch ist in Genese und Ausrichtung ein Werk mit indigener Prägung, mit dem Ziel, den Aymara die eigene Kultur, wie etwa das Weben der Ponchos, wieder näherzubringen. Der Ausspruch „Die Ponchos Rojos sprechen und schreiben“ signalisiert ein klares Motiv indigener Bildung: ein Buch von Indígenas über indigene Kultur und Geschichte für Indígenas. Die letzte Konsequenz, das Buch auf Aymara zu veröffentlichen, haben die Autoren – wohl um es einem größeren Sprachkreis zugänglich zu machen und nicht selbst einem Exklusivverdacht zu unterliegen – aber nicht gezogen.
Nun könnte sich der einer westlichen Gesellschaft angehörige Leser fragen, warum an dieser Stelle eine Rezension des Buches erscheint. Die Antwort auf diese fast schon rhetorische Frage lautet, einen Einblick in die Sichtweise der Protagonisten im Andenraum selbst zu bekommen und in Themen eingeführt zu werden, die, wie die Herstellung und Verwendung von Ponchos, auch Ethnologen oder Kulturanthropologen interessieren dürfte. Weiterhin wird im Buch die Funktionsweise der bolivianischen Privatmedien bloßgestellt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Indigenen und insbesondere die „Ponchos Rojos“ zu diffamieren. Am Ende des Textes folgt auch noch eine pragmatische Begründung, da der Verkauf dieses Buches einem guten Zweck gewidmet ist.
Das mit 98 Seiten für hiesige Verhältnisse relativ kurze Buch ist in fünf Abschnitte gegliedert: 1. Das Weben der roten Ponchos, 2. Der historische Kontext während der Kolonialzeit, 3. Die Ponchos Rojos sprechen und schreiben, 4. Die Agenda de Octubre von 2003 und ihre Anfänge in Warisata, und 5. Die Rolle der Presse bei der Diffamierung der Ponchos Rojos. Der Anhang enthält einige Farbfotos sowie eine Aufstellung und Gliederung von sozialen und indigenen Organisationen der Provinz Omasuyos.
Wer oder was aber sind nun die „Ponchos Rojos“? Zuerst werden sie logischerweise mit eben jenem Kleidungsstück assoziiert, das ihnen ihren Namen gab und in der Kultur der Aymara eine besondere Rolle spielt. Auf 18 Seiten entwickeln die Autoren eine kleine Kulturgeschichte des Ponchos, der seine Ursprünge schon in den präkolumbischen Zivilisationen wie z.B. den Tiwanaku-Wari hatte. Die Farbe Rot spielte schon zu jenen Zeiten wie auch bei den Inkas eine besondere Rolle, und symbolisiert heutzutage (meist in Verbindung mit der Farbe Schwarz für Tod und Leid) das in Befreiungskämpfen vergossene Blut. Die roten Ponchos sind ebenfalls ein Symbol für Autorität(en) und werden deshalb von den Führern der indigenen und sozialen Organisationen sowie den kommunalen und provinzialen Amtsinhabern getragen. Genutzt werden sie weiterhin für Feste, Zusammenkünfte und politische Manifestationen (marchas). Die Herstellung eines Ponchos erfordert sieben aufeinander folgende Schritte: Design, Gewinnung der Wolle, Spinnen der Wolle, Knäuelbildung, Färben, Aufwickeln und Weben. Die reine Arbeitszeit bis zur Fertigstellung des Ponchos beträgt etwa 240 Stunden, d.h. bei kontinuierlicher Arbeit dauert die Anfertigung eines derartigen Webstückes ungefähr einen Monat. Die Arbeit, traditionell von Frauen verrichtet, ist keine einfache und wird auf dem Land noch wie vor Jahrhunderten üblich ausgeführt. Im Buch kommen einige Weberinnen selbst zu Wort.
Die politisch-historischen Wurzeln der „Ponchos Rojos“ gehen indes, so die Autoren, auf Atahuallpas General Chalcuchima, der wahrscheinlich aus dem Gebiet der heutigen Provinz Omasuyos stammte, zurück. Chalcuchima, der im Gegensatz zum Inka, den Widerstand gegen die Spanier propagierte, damit aber kein Gehör beim Herrscher fand, erfuhr ein noch härteres Schicksal als Atahuallpa. Während der Inka stranguliert wurde, weigerte sich Chalcuchima zum Christentum zu konvertieren, weshalb man ihn auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Weitere wichtige Protagonisten der Aymara-Historie sind Tupak Katari und Wila Saco. Tupak Katari gilt neben Tupak Amaru II. als einer der größten Helden der indigenen Aufstands- und Unabhängigkeitsbewegung der Anden. 1781 belagerte er mit 40.000 Mann La Paz, eine bis heute bewährte Strategie, die Versorgung von Städten im bolivianischen Hochland lahmzulegen. Kurz vor seiner Hinrichtung soll er den prophetischen Satz: „Mich alleine tötet ihr, ich komme zurück und werde Millionen sein.“ (1) gesprochen haben. Paulino Quispe aus Achacachi, auch bekannt als „Wila Saco“, der in der ersten Ayllu-Schule Boliviens in Warisata ausgebildet wurde, übernahm nach der Revolution von 1952 eine führende Rolle bei der Enteignung der Großgrundbesitzer und der Gründung einer regionalen Gewerkschaft. Die Erwähnten sind einige der ideologischen Vorväter der kataristischen Bewegung, die sich in den 1970er Jahren herausbildete und politische Größen wie Genaro Flores oder Felipe Quispe hervorbrachte. Die Bewegung spaltet sich in den 1980er Jahren, wobei sich der radikalere Teil weiterhin in Omasuyos konzentrierte. Quispe rief 1987 mit ein paar Mitstreitern die ayllus rojos ins Leben, nur wenige Jahre später folgte die Gründung des Ejército Guerrillero Tupak Katari (EGTK).
Die Meinungen über die Namensgebung der „Ponchos Rojos“ gehen ziemlich auseinander. Während die einen sie historisch, etwa auf Wila Saco zurückgehend, verorten, behaupten die anderen, der Begriff stamme aus der jüngeren Vergangenheit, wie dem Gaskrieg von 2003. Eine dritte Meinung schreibt die Bezeichnung externen Quellen, wie der Presse, zu. Für die so Bezeichneten selbst spielt der Ursprung des Namens keine Rolle mehr, da sie sich gut mit ihm identifizieren können. Auch wenn sie sich nicht als militärische oder paramilitärische Organisation sehen, gehen einige ihre Traditionen doch auf martialische Ursprünge zurück. So herrscht Einigkeit darüber, dass das Rot der Ponchos als Zeichen für das in früheren kriegerischen oder revolutionären Handlungen vergossene Blut steht. Ihre Organisation richtet sich aber im Wesentlichen nach der Gemeinschaftsstruktur der 26 Kantone der Provinz Omasuyos. Die politischen Forderungen der „Ponchos Rojos“ erstrecken sich vor allem auf eine gerechte bolivianische Gesellschaft mit gleichen Bedingungen für alle. Das gilt besonders für Land, Territorium, Bildung, Arbeit, kulturelle Identität und die Beseitigung von Rassismus.
Die Ereignisse von Oktober 2003 nimmt das Autorenquartett zum Anlass, die bisher eher spekalutiven Äußerungen über die Herkunft der „Ponchos Rojos“ in eine klarere Perspektive zu überführen: Das Massaker von Warisata, mit drei Toten – darunter ein achtjähriges Mädchen – und zehn Verletzten kristallisiert sich als eigentliche Geburtsstunde der „Roten Ponchos“ heraus. Ohne an dieser Stelle weiter auf die Einzelheiten einzugehen, die im Buch detaillierter nachgelesen werden können, steht dieses Ereignis, das den bekannteren des Gaskrieges und der Agenda de Octubre vorausgeht, als eigentliche Initialzündung für den späteren Sieg der indigenen Zivilgesellschaft über die Regierung von Präsident Sánchez de Lozada. Eindringlich wird im Buch der Tod der kleinen Marleny Nancy Rojas Ramos geschildert, die zum Symbol für eine mehrfache Ungerechtigkeit wurde: die Ermordung eines unbeteiligten minderjährigen Kindes durch das Militär sowie die gewalttätige Repression des Staatsapparates gegenüber der indigenen Bevölkerung. Eine juristische Aufarbeitung des Massakers von Warisata ist bis heute nicht erfolgt, die Verantwortlichen (Sánchez de Lozada und Sánchez Berzaín) halten sich nach wie vor unbehelligt in den USA auf.
Die Situation der Massenmedien in Bolivien ist besonders durch die privaten Besitzstrukturen mit einer starken Medienkonzentration und einer politisierten und polarisierenden Berichterstattung gekennzeichnet (s. dazu A. Hetzer 2009). Dass die privaten Massenmedien, die sich teils in Händen der konservativen Oligarchie des Landes und teils im Besitz transnationaler Konzerne befinden, kein Interesse an einer objektiven Berichterstattung über eine progressive linksgerichtete Regierung haben, liegt auf der Hand. Dass die Presse aber einen Quasi-Feldzug gegen die „Ponchos Rojos“ mit gezielter Desinformation und Manipulation der Öffentlichkeit führt, zeigen Muruchi Poma et al. im letzten Kapitel des Buches. Die Analyse der Berichterstattung von La Razón, El Nuevo Día und El Deber veranschaulicht die Dämonisierung der Indigenen von Omasuyos, die als „bewaffnete Gruppe mit Regierungsunterstützung zur Bedrohung ihrer politischen Gegner“ charakterisiert werden. Auch Vizepräsident García Linera – ein hellhäutiger Angehöriger der Mittelschicht – wird von den Medien als ehemaliger Guerillakämpfer abgestempelt. Die Veröffentlichung eines Fotos von zwei Personen mit roten Ponchos und museumsreifen Gewehren, dessen Entstehungskontext nicht berücksichtigt und das auch in weiteren Kontexten publiziert wurde, dient als anschauliches Exempel für die „seriöse“ Arbeit der privaten Medien. Weitere Beispiele dieser Art folgen im Buch. Sogar die internationale Berichterstattung sprang in unreflektierter Weise auf diesen Zug auf. So veröffentlichte die kolumbianische Zeitung El Espectador einen Artikel mit der Überschrift „Die Rebellion der Ponchos Rojos“, in dem die Rede von einer indigenen und gewaltbereiten Armee war. El País, eigentlich als seriöse, aber in den letzten Jahren zunehmend konservative Zeitung (vor allem gegenüber den Linksregierungen in Lateinamerika) bekannt, brachte den Artikel „Die indigene Miliz von Morales“ heraus. Die finanzielle Verbindung der spanischen PRISA-Gruppe, zu welcher El País gehört, mit der von der Nationalisierung der bolivianischen Kohlenwasserstoffe betroffenen spanischen Firma Repsol, gibt abschließend ein gutes Beispiel für die Verquickung von Interessen, die sich eben auch einer unseriösen und sensationsheischenden Berichterstattung bedienen.
Da das Buch bisher nur auf Spanisch erschienen ist, bleibt zu wünschen, dass es vor allem seine originären Adressaten in Bolivien erreicht, aber vielleicht auch den einen oder anderen deutschen Leser mit entsprechenden Sprachkenntnissen findet.
(1) „A mí sólo matareis, volveré y seré millones…“
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Dr. Muruchi Poma/Feliciano F. Muruchi Poma/María A. Morales H./Ernest I. Herrera L.: Ponchos Rojos. Fondepo, Plural editores 2008. ISBN: 978-99954-1-179-4
Das Buch kann für 11,95 Euro plus Versand beim Leipziger Lateinamerikaverein Quetzal erworben werden (mailto: quetzalleipzig@aol.com). Ein Teil der Einnahmen wird für den Kauf einer digitalen Fotokamera für die indigene Organisation Unión de Naciones Originarias (UNO) mit Sitz in La Paz, Bolivien zu Dokumentationszwecken aufgewendet. Mehr Informationen (auf Spanisch) über die UNO sind hier zu finden. Dr. Muruchi Poma ist Repräsentant dieser Organisation.
Termin: Eine Lesung und Buchpräsentation mit Dr. Muruchi Poma findet am 24.09.2009 in Leipzig statt. Mehr dazu hier.