Brecha/Uruguay – Evo Morales hat nun, nachdem der Kongress ein neues Wahlgesetz verabschiedet hat, das die Wahlen vom 6. Dezember rechtskräftig macht, den Weg frei für seine Wiederwahl. Dafür musste der bolivianische Präsident fünf Tage Hungerstreik ertragen und immer wieder zur sozialen Mobilmachung aufrufen sowie schlussendlich etlichen Forderungen der Opposition nachgeben. Diese hatte ihre Mehrheit im Senat dazu genutzt, das Gesetz zu behindern, welches das Wahlrecht der neuen Verfassung anpasst, die im Januar 2009 mit 62 % der Stimmen durch ein Referendum angenommen wurde.
Mit diesen Zugeständnissen setzt Morales ein Jahr vor Ende seiner Amtszeit, die im Januar 2006 begann, als er als erster indigener Präsident Boliviens mit einer historischen Mehrheit von 54 % der Stimmen gewählt wurde, seinen Posten aufs Spiel.
Andauernder Wahlkampf
Der bolivianische Präsident beschrieb die Verhandlungen mit der Opposition mit Worten aus dem Kriegsjargon – als Schlacht zwischen dem „unterdrückten Volk und der Oligarchie“ – und sogar mit religiösen Worten, trotz der zeitgleichen ersten Semana Santa im gemäß der neuen Verfassung laizistischen Staat. „Ich verstehe, dass Christus damals seinen Körper für die Rettung anderer geopfert hat … Evo und die Gewerkschaftsführer tun jetzt dasselbe“, verkündete begeistert der bolivianische Vizepräsident Alvaro García Linera. Zuvor hatte die Opposition die parlamentarischen Sitzungen verlassen und dem Kongress mit der Forderung nach einem neuen Wählerregister und der Reduzierung der Sonderwahlkreise für indigene Minderheiten – eine Form der positiven Diskriminierung zugunsten der indigenen Völker, die auf Grund ihrer geringen Bevölkerungsdichte kaum eine Chance haben, Vertreter aus den eigenen Reihen in den Kongress zu wählen – die Beschlussmehrheit entzogen.
Wie in letzter Zeit schon häufiger, passt der Zeitpunkt der sozialen Mobilmachung wieder perfekt in den Plan des Palacio Quemado, dem Sitz der bolivianischen Regierung, dessen Strategie darin besteht, die Wiederwahl Evo Morales´ zu sichern und eine Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses zu erreichen. Kurz nachdem die bolivianische Exekutive den Startschuss gegeben hatte, organisierten über tausend Aktivisten und die führenden Köpfe der sozialen Organisationen Hungerstreiks in ganz Bolivien. Schon in den 80er-Jahren trat der damalige, linksnationalistische Präsident Hernán Siles Zuazo in den Hungerstreik, um eine Protestwelle aufzuhalten, die in kurzer Zeit seine Regierung beendete. „Früher gab es Hungerstreiks gegen die Militärdiktatur – erinnern wir uns nur an die Minenarbeiterinnen, die Ende der 70er auf diese Weise gegen die Diktatur Hugo Banzers protestierten –, heute gibt es Hungerstreiks gegen die Überreste des neoliberalen Wirtschaftsmodells“, erklärte Morales nach der Verabschiedung des neuen Gesetzes im Kongress. Dieses stellte er als Erfolg dar, obwohl er die Ausarbeitung eines neuen Wählerregisters, die Reduzierung der indigenen Wahlkreise von 14 auf 7 und einige Einschränkungen bezüglich des Wahlrechts aus dem Ausland, das in der Magna Charta verankert ist, welche nach und nach umgesetzt wird, akzeptiert hat.
Dann gab er den Startschuss für den Wahlkampf, der sehr lang sein wird: „Zuerst versuchten sie, uns bei den Wahlen zu schlagen und schafften es nicht, danach kamen Staatsstreiche und Verschwörungen und nun versuchten sie, die Wahlen zu verhindern. Wir müssen im Dezember mit 70 % der Stimmen gewinnen, damit es keine Erpressung seitens der Rechten mehr gibt“, fügte er vor einigen hundert Regierungsanhängern hinzu, die daraufhin entgegneten: „90 %!“
Und obwohl er darauf verwies, dass „die Amtsführung die beste Form sei, Wahlkampf zu machen“, ist nicht weniger wahr, dass der Wahlkampf zu einer schnellen Ausführung von Maßnahmen und einer erhöhten politisch-medialen Rendite in einer Situation der externen Krise und gewaltiger Schwierigkeiten, um die Verstaatlichung der Kohlenwasserstoffe durchzuführen, ermuntert. Diese Schwierigkeiten sind auf ein dichtes Korruptionsnetz zurückzuführen, gestrickt von Santos Ramírez, Ex-Vorsitzender der staatlichen Ölgesellschaft und ehemals starker Mann des Movimiento al Socialismo (MAS), derzeitig inhaftiert im Gefängnis von San Pedro. Es besteht also die Gefahr, in den alten vermögensrechtlichen Etatismus zurückzufallen. Die manchmal künstliche Polarisierung bei jedem Konflikt mit der Opposition, die durch den andauernden Wahlkampf noch einmal verstärkt wird, schafft eine Illusion der Radikalität, die politisch produktiv ist für die Regierung – und für die gerade im Aufbau befindliche bürokratische Ordnung der Landarbeitergewerkschaft, die von der Regierung unterstützt wird. Doch muss man nun ständig das Bild einer internen und externen Bedrohung aufrechterhalten, um die gespannte Stimmung für sich nutzen zu können. Auch wenn die Hetzjagd der „rassistischen Rechten“ einige Initiativen der Regierung gebremst hat, hat sie doch ebenso dazu beigetragen, die Regierung zusammenzuschweißen. Und aufgrund des Fehlens einer Institution, die in der Lage wäre, die Verbindung zwischen dem Politischen und dem Sozialen wiederherzustellen, hat der Evismus den utopischen Horizont der sozialen Bewegungen der Regierung ersetzt.
Der Vorwurf der Infiltration der CIA in die staatliche Erdölgesellschaft YPFB als Erklärung für die Korruption seitens der Funktionäre ist nur ein Kapitel in der langen Geschichte der Korruptionsvorwürfe. Doch scheinen die Risiken nun, in Zeiten einer stark geschwächten Opposition, mehr von innen zu kommen als von den Gegnern der „Volksregierung“.
Phyrrussieg
Alles in allem scheint für die Opposition das Erreichte nur mehr ein Phyrrussieg zu sein. Die Probleme, die sie beim Kampf gegen den Präsidenten hat, sind bei weitem nicht nur auf die Wählerregister zurückzuführen. Der Sieg des Anführers der Cocaleros mit 67 % der Stimmen im Referendum vom 10. August 2008 war ein schwer zu verdauender Schlag für die Opposition. „Die Rechte ist sehr zersplittert und durcheinander. Alle Umfragen zeigen, dass Evo Morales mit 40 und mehr Prozent der Stimmen klar vor seinem bestplatzierten Gegner liegt, der nicht über 9 Prozent hinauskommt“, analysierte der ehemalige Senator der rechtsgerichteten Partei Podemos, Carlos Börth, die Situation.
Mangels nationaler Führer trat in den letzten Monaten der aymarische Ex-Vizepräsident Víctor Hugo Cárdenas wieder ins Licht der Öffentlichkeit. Ihm wurde vor einigen Tagen durch die indigenen Bürger seiner Gemeinde am Titicaca-See sein Haus „enteignet“, weil er dazu aufgerufen hatte, gegen die neue Verfassung zu stimmen. Ein Teil der Führung von Santa Cruz setzt jetzt selbst auf die indigene Karte gegen den „radikalen Indigenismus“ von Evo Morales als Spiegelbild einer neuen Epoche: letztes Jahr stellte die Rechte für die Wahl zum Präfekten von Chuquisaca die indigene Kandidatin Savina Cuéllar auf, Ex-Mitglied der Partei von Evo Morales und alphabetisiert durch das Programm „Yo sí puedo“ unter der aktuellen Regierung, die letztlich den Kandidaten der MAS besiegte. Und die autonomistische Opposition von Santa Cruz pflegt Losungen auf Guaraní einzufügen und hebt die Präsenz ihrer eigenen Indigenen in den Gruppierungen hervor.
Trotzdem stellt die Vergangenheit von Cárdenas als Vizepräsident während der ersten Amtszeit von Gonzalo Sánchez de Lozada (1993-1997), momentan im Exil in den USA und wegen Repression im Erdgaskrieg 2003 angeklagt, eine schwere Bürde dar; nun, da es darum geht, sich mit Morales zu messen, der sich derzeitig in Bolivien größter Beliebtheit erfreut. Weniger Chancen scheinen aber andere „Indigene“ zu haben, wie zum Beispiel der Bürgermeister von Potosí, René Joaquino, oder der ehemalige Campesino-Führer aus dem Tal von Cochamba, Alejo Véliz.
Obwohl die Opposition erreicht hat, dass die Wählerregister im ganzen Land überarbeitet werden, war der Preis, den sie dafür zahlen musste, sehr hoch. Die Regierung beschuldigt sie, für eine unnötige Ausgabe im armen Bolivien verantwortlich zu sein: Die Kosten für das neue Wählerregister belaufen sich auf circa 35 Millionen Dollar. Und die Regierungsanhänger äußerten sich sarkastisch über „die Abgeordneten und Senatoren, die nicht arbeiten“ und verpassten damit den Kongressmitgliedern, die die Sitzungen verlassen hatten, einen Seitenhieb. „Der Müßiggang ist das Wahlversprechen der Opposition und die Faulheit und die Unbekümmertheit sind ihr Regierungsprogramm“ warf García Linera (der auch Vorsitzender des Kongresses ist) ihnen mitten in der Krise der Semana Santa vor.
Allerdings hat die regionalistische Opposition eine stillschweigende Anerkennung ihrer Autonomie-Statuten erreicht und ihre Autonomiebestrebungen breiten sich seit einiger Zeit auf das ganze Land aus. Am 6. Dezember wird darüber in den fünf departamentos (La Paz, Oruro, Chuquisaca, Potosí und Cochabamba), die bei der Abstimmung 2006 gegen die Autonomie gestimmt hatten, neu entschieden, um die in der neuen Magna Charta vorgesehene Autonomie für diese Regionen umzusetzen. Diese werden vom agrarindustriellen Bürgertum in Santa Cruz auf alle Fälle als unzureichend betrachtet: „Die Art und Weise wie die verfassungsgebenden Versammlungen der departamentos zusammengesetzt werden, wie die Mitglieder der Versammlung und die Präfekten bestimmt und gewählt werden, wurde einfach den Autonomie-Statuten entnommen, kopiert und in das Wahlgesetz eingefügt. Anscheinend gibt es eine Vereinbarung zwischen den Regierungsanhängern und der Opposition, um die nächsten Jahre in friedlicher Koexistenz zu leben. Die MAS handelt genau wie jede andere Partei“, erklärte Eulogio Nuñez von der Nichtregierungsorganisation Centro de Investigación y Promoción del Campesinado gegenüber der Tageszeitung Página/12.
Nun ist es Aufgabe des Corte Nacional Electoral (bolivianischer Wahlgerichtshof) das Wahlregister, in dem mehr als 4 Millionen Bolivianer, inklusive der 300.000 Wahlberechtigten im Ausland, verzeichnet sind, zu überarbeiten und einen biometrischen Eintrag mit digitalisierter Unterschrift, einem Passfoto und 10 digitalen Fingerabdrücken eines jeden Wahlberechtigten zu erstellen. Und auf welche Art und Weise auch immer, auch 2009 werden sich die seit 3 Jahren andauernden Wahlen fortsetzen, die eine nach der anderen die breite Hegemonie von Evo Morales bestätigten und das „katastrophale Patt“, das seine Präsidentschaft die ersten zweieinhalb Jahre überschattete, zu seinen Gunsten ausfallen ließen.
*Leiter der bolivianischen Ausgabe von Le Monde Diplomatique
Übersetzung aus dem Spanischen: Franziska Junge
Mit freundlicher Genehmigung von Bolpress. Der Artikel erschien am 19.04.2009.