Die Neue Linke in Lateinamerika wird – zumindest hierzulande – meist von oben betrachtet. Sie besteht nach dieser Lesart aus Chávez, Correa und Morales, den anti-neoliberalen Präsidenten des Kontinents. Das ist aber nur eine Seite. Das entscheidend Neue an der Neuen Linken ist, dass sie auf der Unterstützung der Basis beruht, einer selbstorganisierten und selbsttätigen Basis, die ihr Schicksal nicht mehr passiv hinnehmen will. Diese Basis bildet sich aus Menschen, die über Jahrzehnte unterdrückt wurden und keine wirkliche Stimme hatten – dies gilt insbesondere für die Indigenen – oder die durch paternalistische Gesten von oben und Klientelismus eingelullt worden sind. Deswegen ist es entscheidend, die Bewegung von unten her zu sehen, wie weit sie organisiert ist und wo ihre Grenzen liegen. Denn auf die Menschen und auf ihre Organisation kommt es an. Darauf, dass sie erkennen, dass sie etwas erreichen können und sich die Welt nur dann so weiter dreht wie bisher, wenn sie mitmachen. Wenn sie sich verweigern und versuchen, etwas Neues zu schaffen, kann ein Prozess der Veränderung in Gang kommen und nachhaltig sein. Sonst nicht.
Spätestens seitdem die Folgen des Neoliberalismus konkret spürbar sind, organisieren die Menschen an der Basis in Lateinamerika nicht nur ihr eigenes Leben. Immer mehr verstehen auch, dass die Organisation in der comunidad (1) nur dann die Situation konkret verbessern kann, wenn sie – von unten aus – das Ganze in den Blick nimmt. Prototypisch geschah dies in Bolivien, wo die MAS, das »politische Instrument für die Souveränität der Völker« aus den sozialen Bewegungen heraus entstand. In Ecuador lief die Bildung der CONAIE ähnlich, und die Basisgruppen in Venezuela zeigten ihre Kraft 2002, verließen beim Putsch gegen Chávez die Barrios, wurden für ihren Präsidenten aktiv und ermöglichten so seine Rückkehr. Nicht zuletzt zeigt die Protektion der früheren bolivarischen Zirkel von oben, wie wichtig der Präsident die Basis seit Beginn seiner Amtszeit nimmt. Das Wort, das die Venezolaner dafür verwenden, ist protagonismo. Es beschreibt die praktische Einbindung der Basis als Protagonisten, also als konkrete historische Subjekte, die zum Prinzip geworden ist. Auch für die Zapatisten ist die Organisation von unten konstituierendes Element der gesamten Bewegung, sie hingegen lehnen als Gegenentwurf zu den linken Präsidenten das »Oben« ab und leben und organisieren sich nur unten an der Basis.
Beschäftigen sich die Menschen in Lateinamerika heute mit der »großen Politik«, ist ihre Basis die Organisation vor Ort und meist auch die konkrete persönliche Betroffenheit. Die Trennung von privatem und politischem Leben ist oftmals aufgehoben oder hat gar nie existiert. Die Basis für diese Art der Organisation ist die comunidad (…). Die Akteure sind sich dessen bewusst, wie beispielsweise der folgende Auszug aus dem Programm der bolivianischen MAS aus dem Jahr 2001 zeigt: »Wenn die kapitalistische Wirtschaft des Austausches und der Akkumulation, die die Herrschaft des Privateigentums voraussetzt, uns die äußerste Armut gebracht hat, so haben wir keine andere Option, als unsere ökonomischen Prinzipien der Reziprozität und Umverteilung wieder aufzunehmen, das heißt, für das Gemeinwohl zu produzieren. (…) Unsere Gemeinden sollen nach den Prinzipien des ayllu, des ayni, der mink’a und der minga (Formen des Gemeinbesitzes und der gemeinschaftlichen Arbeit – H. B.) funktionieren, auf keinem Fall nach den Prinzipien der kapitalistischen Marktwirtschaft.«
Die deutsche Lateinamerikaforscherin (mit Wurzeln in der DDR) Helma Chrenko, der ich dieses Zitat verdanke, hebt sich wohltuend ab von dem allgemeinen Fortschrittsglauben der Linken, der sicherlich einer der Gründe ist, weswegen hierzulande die Bedeutung der traditionellen Organisation der comunidad wenig gewürdigt wird. Chrenko schrieb 2003, also vor den Wahlsiegen von Morales und Correa: »Grundlegend und gemeinsam im Konzept der neuen Gesellschaft, das von den verschiedenen Kräften, meist keimhaft, vertreten wird, ist ihr partizipativdemokratischer Charakter, ihre Basis im lokalen Bereich, ihre konsensorientierte Ausrichtung. Sie streben die Errichtung einer neuen, einer Demokratie anderer Art als der heute unter diesem Begriff erfahrenen an. Das bedeutende revolutionäre Potential dieses Leitbildes für eine alternative Gesellschaft, in der Unterschiede und unterschiedliche Interessen respektiert werden, wird bisher in linker Politik ungenügend genutzt.« Denn es gehört ins Stammbuch nicht nur der neoliberalen Kapitalisten das folgende geschrieben: »Die Modernität und Kultur, die man den indigenen Gemeinschaften zu bringen verspricht, bedeutet die Vernichtung ihrer eigenen Kultur zum Zweck ihrer Einbeziehung in die Welt der Konsumenten, zur Vernutzung ihrer Ressourcen, von der Natur bis zu ihrem traditionellen Wissen, und zur zwangsweisen Homogenisierung der Lebenswelten im Sinne der neoliberalen Globalisierung. Der Widerstand dagegen hat im Wesentlichen keinen rückwärtsgewandten Charakter, sondern ist von der Erkenntnis getragen, dass der als Modell angesehene ›westliche‹ Lebensstil, die Zivilisationsweise der Industrieländer, die auf ungehemmtem Ressourcenverbrauch und der Marktförmigkeit aller Lebensäußerungen beruht, die Welt zugrunde richtet und kein gangbarer Entwicklungsweg ist« (Chrenko 2008: 87).
Natürlich kann die Organisation der Dorfgemeinde von einer progressiven Bewegung nicht einfach unbesehen übernommen werden, wenn wir die comunidad als Keimzelle für eine neue, antikapitalistische, solidarische Gesellschaft verstehen. (…) Vielmehr ist wichtig – allgemein gesagt –, »neu zu fragen, was das Dorf ökonomisch, ökologisch und sozial zur Neuorientierung von Wirtschaft und Gesellschaft beitragen kann« (Wielenga 1995: 828). Es geht um eine »befreiende Konzeption von Gemeinschaft«, die »theoretisch wie politisch unverzichtbar« ist (Thielen 1993: 85), wofür die Erfahrungen aus dörflichen Basisgemeinschaften rezipiert werden müssen. Nicht nur aufgrund des Satzes aus dem kommunistischen Manifest, dass die Bourgeoisie »bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen« habe (MEW 4, S. 466), den Marx selber wie in der Einleitung dargelegt abgeschwächt hat, ist »Gemeinschaft« hierzulande in der Linken verpönt. Denn der Begriff ist in den ideologischen Kontext der Nationalsozialisten hineingezogen worden, wird vor allem als »Volksgemeinschaft« gesehen.
Um solch eine regressive Form der Gemeinschaft geht es nicht. Regressive Formen von Gemeinschaft wie die nationalsozialistische Volksgemeinschaft aber auch die kollektivistische Agrargemeinde haben eine Abstraktion zur Grundlage. Sie entstehen nicht aus der Entscheidung und dem Streben des Gattungswesens Mensch zur Gemeinschaft, sondern setzen sie als ihm äußerlich voraus. Deswegen müssen all diejenigen, die sich dieser Abstraktion von den konkreten Bedürfnissen und Fähigkeiten der vergemeinschafteten Individuen widersetzen, ausgestoßen werden. Sie können nur dann in die Gemeinschaft zurückkehren, wenn sie sich dem abstrahierten Gemeinwohl unterordnen, in dem Gemeinschaft abstrakt und nicht Produkt der Assoziierten ist. Gemeinschaft in befreiender, solidarischer Perspektive beschreibt »eine notwendige Ordnung von egalitären und demokratischen Arbeits- und Rechtsbeziehungen zusammen mit einem freien Spiel mitmenschlicher Anerkennung und Geborgenheit, die beide die einzigartige Persönlichkeit jedes Individuums fördern« (Thielen 1993: 85).
Dabei ist die Situation in Lateinamerika deshalb eine besondere, weil die traditionelle Dorfgemeinde bei allen Veränderungen mit ihrem kommunitären Kern überlebt hat. Er beruht auf dem gemeinschaftlichen Leben und Produzieren in einer Konsensdemokratie, die alle Mitglieder der comunidad einschließt, und er bildet zugleich den Ausgangspunkt eines indigenen Sozialismus, wie ihn José Carlos Mariátegui bereits in den 1930er Jahren formuliert hat und wie er heute zumindest in Bolivien als Gesellschaftsmodell denkbar scheint. Entscheidend für eine Modifikation des archaischen Systems in eine höhere Form, wie es bei Marx heißt (MEW 19: 386), ist dabei aber die Erweiterung um die Freiheit des einzelnen, die im traditionellen Verständnis nicht vorkommt, so dass die ungebrochene Berufung auf dieses Modell immer Gefahr läuft, eine Zwangskollektivierung zum Ziel zu haben (…).
Die Lateinamerikaforscherin Juliane Ströbele-Gregor erläuterte am Beispiel Bolivien Möglichkeiten und Grenzen des comunidad-Systems wie folgt: »Bei den Formen der Teilhabe innerhalb der soziopolitischen Organisationen handelt es sich nicht um demokratische Strukturen im Sinne der westlichen repräsentativen Demokratie. Sie basieren vielmehr auf Formen der direkten Demokratie, etwa der Partizipation in der asamblea, der Vollversammlung, die ein zentrales Element sämtlicher indigener Organisationen ist. Allerdings basiert diese Teilhabe nicht immer auf Freiwilligkeit, sondern eine soziale ›Selbstverständlichkeit‹ liegt dieser Partizipation zugrunde und Verweigerung wird sanktioniert. In der politischen Kultur der Aymara und Quetchua sind Gruppenharmonie und Kollektivität statt Individualismus und daraus abgeleitet Konsensentscheidungen, Reziprozität, Dienst für die Gemeinschaft, Würde und Respekt die Leitideen des Zusammenlebens. Von der Gemeinschaft abweichendes Verhalten oder Dissens werden sozial sanktioniert – mit dem Ziel, Harmonie wiederherzustellen. Das heißt, dass es auf der politischen Ebene kein Minderheitenvotum gibt. Wo Konsens nicht hergestellt werden kann, erfolgt der Bruch« (Ströbele-Gregor 2008: 135).
Der Konflikt zwischen dem einzelnen und der über ihm schwebenden Gemeinschaft hat einen ökonomischen Kern, der nicht übergangen werden darf. So wird jemandem, der durch eine besondere Fähigkeit ein Mehrprodukt erwirtschaftet, dieses auf verschiedene Weise in den auf diesem Prinzip beruhenden Gemeinschaften wieder abgenommen und meist für mythisch-religiöse Zwecke verwandt. Der Betreffende kann aber auch, zum Teil zusätzlich, dazu verpflichtet werden, ein kostspieliges Fest auszurichten oder ein kostenintensives Amt in der Gemeinschaft auszuüben. Es führt jetzt zu weit, die Möglichkeiten zu diskutieren, wie der Nivellierung der jeweiligen persönlichen Stärken und Schwächen jedes einzelnen entgegengetreten werden könnte – die zudem historisch zur Stagnation dieser archaischen Gesellschaften geführt hat – und wie die Gemeinschaft auf Grundlage der freien Entscheidung der Assoziierten gebildet werden kann. Um ein Stichwort zu geben: Es wäre ein Schritt in die richtige Richtung, über eine Verbindung des positiven Gehalts der westlichen Kultur, der Anerkennung der konkreten einzigartigen Person, wie sie insbesondere der christliche Universalismus verkörpert (2), mit der andinen Organisation der Gemeinschaft zu diskutieren.
Bedenken wir diese Beschränkungen, so ist das heutige Bolivien in Neugründung (…) »ein Feld, die Linke neu zu definieren« (Rivera Cusicanqui 2007: 19), wobei diese Neudefinition von der comunidad aus geschehen und dabei eben auch sie selbst verändern muss, um nachhaltig zu sein. Gleichzeitig bietet sie die Basis für eine solidarische Ökonomie, die nicht auf dem Warenaustausch und der Konkurrenz der einzelnen Glieder der Gesellschaft beruht, also nicht auf einer Verdinglichung der einzelnen, sondern auf einem solidarischen Miteinander und auf den konkreten Bedürfnissen des einzelnen.
Wie funktioniert nun die indigene comunidad, von der ausgehend sich die Linke in Lateinamerika neu organisieren kann und zum Teil auch schon neu organisiert hat? Es gibt heute verschiedene Ausprägungen in den Ländern, die Thema dieser Arbeit sind, die leider noch zu wenig untersucht wurden (…). Grundsätzlich steht die Organisation überall in der Tradition der indigenen Dorfgemeinde. Ihre Basis bildet ein Kollektiv von Familien, die in einem kleinen Gebiet leben und gemeinschaftlich über ihre Geschicke bestimmen. Arbeiten, die zu schwer für den einzelnen oder die für die Gemeinschaft nützlich sind, werden in der minga (so heißt die gemeinschaftliche Arbeit in den Anden; das Prinzip ist überall ähnlich) verrichtet. Dies ist teilweise überlebensnotwendig, denn beispielsweise im Altiplano Boliviens, einer sehr kargen und besonders armen Region, sind die Bauern auf die Hilfe ihrer comunidad angewiesen, wenn sie eine Missernte erleiden. Auf der anderen Seite ist es aber auch notwendig, Mitglied der Gemeinschaft zu sein, weil neben der Hilfe für Bedürftige sowohl Landverteilung als auch Rechtssprechung auf dem Land über die comunidad organisiert sind.
Die traditionell verfassten Dörfer im Altiplano, deren comunidades in ayllus organisiert sind, werden bis heute von Eheleuten geführt, die gemeinsam ein Amt innehaben. So soll zwischen den Geschlechtern eine Harmonie hergestellt werden, eine Harmonie, die ohnehin im Mittelpunkt des andinen Denkens steht. Wer kein Land hat und wer nicht verheiratet ist – auch dies hängt eng miteinander zusammen –, kann normalerweise keine Führungsrolle übernehmen. Dabei rotieren die Ämter aufsteigend, die jüngeren haben also zunächst weniger wichtige Ämter inne, im Laufe der Zeit werden die Aufgaben bedeutender. Diese traditionelle Form der Organisation führt zu einer gemeinschaftlichen Verantwortung, aber auch zu der beschriebenen Nivellierung der Unterschiede der einzelnen, und sie ist auf möglichst breiten Konsens angelegt. In den Versammlungen wird nicht abgestimmt, sondern verhandelt. Eine Führungskaste entsteht so nicht. Auf der anderen Seite verharrt aber die comunidad auf einem niedrigen Entwicklungslevel. Im Altiplano bleibt den Menschen deshalb auch nichts anderes übrig, als sich entweder damit zu arrangieren und ums Überleben zu kämpfen – was nach der Etablierung des Neoliberalismus in Bolivien in den 1980er Jahren immer schwerer wurde – oder aber auszuwandern. Zwei Ziele bieten sich den Hochlandbewohnern dabei an: zum einen das Chapare, wo man als Kokabauer wenigstens das Überleben sichern kann – diesen Weg ging Evo Morales –, oder aber El Alto, die Vorstadt von La Paz.Beide Regionen sind entscheidend für die Neugründung Boliviens geworden (…).
Den aus dem Hochland in die Subtropen des Chapare eingewanderten Aymara und Quetchua stellten sich neue Aufgaben. Sie waren in ein weitgehend unorganisiertes Land gekommen, in dem es kaum staatliche Strukturen gab. Sie gründeten sindicatos (3), wie sie das gewohnt waren, da die Landreform nach der bolivianischen Revolution von 1952 diese Organisationsform – unter Beibehaltung traditioneller comunidades-Strukturen – einführte. Ergänzt wurden die Traditionen noch durch gewerkschaftliche Erfahrungen derjenigen Immigranten, die nach der Schließung der Minen Mitte der 1980er Jahre ebenfalls ihr Glück als Kokapflanzer versuchen wollten. Im sindicato wurde gemeinsam entschieden, wer Land bekam oder welche kollektiven Arbeiten zu leisten waren (Brunnenbau, Rodung, Bau von Versammlungsräumen). Oberhalb des sindicato, das normalerweise aus 50 bis 80 Familien besteht, bildeten die cocaleros Zentralen und Föderationen, in die sie jeweils Delegierte wählten.
An der Spitze stand das Koordinationskomitee der Föderationen, dessen Leitung Evo Morales 1992 übernahm. Diese Struktur war Mitte der 80er gefestigt, damals existierten bereits 89 Prozent der heutigen sindicatos, die zwar durch die Einwanderungen nicht so homogen wie die Gemeinschaften in den Anden sind, in denen aber die Mitglieder eine sehr ausgeprägte kollektive Identität besitzen. Die aus der Not heraus entstandenen quasi-staatlichen Strukturen wurden dann Mitte der 1990er Jahre durch die Verwaltungsreform unter Gonzalo Sánchez de Lozada formalisiert. Zwar wurden nicht explizit die sindicatos mit der Lokalregierung beauftragt, durch die gewachsene Bedeutung der Organisation geschah dies aber quasi naturwüchsig. Außerdem wurden die Organisationen der Zivilgesellschaft durch die Reform ohnehin aufgewertet, denn die Regierung gab insgesamt 20000 Basisorganisationen (12000 ländliche Gemeinschaften und 8000 Nachbarschaftsvereinigungen) einen rechtlichen Status, mit dem sie einen Vertreter in ein Kontrollgremium (Comité de Vigilancia) senden und die Gemeindeverwaltung überwachen konnten. So ist es den Basisorganisationen im Chapare gelungen, »die neu geschaffenen Gemeindestrukturen organisch und demokratisch zu besetzen« (Lessmann 2009: 472).
Dabei ist das Demokratieverständnis wiederum vom indigenen Konsensprinzip und der Rotation getragen. Diese ist zwar wie auch das damit einhergehende imperative Mandat gesetzlich nicht vorgesehen, aber die Indigenen bestimmen formal Alternativkandidaten, die dann nach der Hälfte der Amtszeit die Posten übernehmen. Hierfür unterschreiben die Gewählten teilweise bereits nach der Wahl eine Rücktrittserklärung, die dann bei gegebenem Anlass eingesetzt werden kann. Das imperative Mandat wird so faktisch durchgesetzt. Die Bewegung ist also stark regional verankert und hat ihre nationale Bedeutung durch die gewachsene Hegemonie im Chapare – von der aus sie neue Bündnispartner suchen konnte – erlangen können. Dies hängt mit der starken Bedeutung des Kampfes der Bauern gegen die Zerstörung ihrer Pflanzungen und für die heilige Kokapflanze zusammen.
Denn der Kampf war nicht nur ein Kampf gegen einen ausländischen Feind, der den Bauern die Lebensgrundlage entziehen wollte, sondern auch einer für ein Heiligtum: Koka als die unverzichtbare Opfergabe für die Pachamama, die Mutter der Erde, denn »in der von allgegenwärtigen Gegensatzpaaren gekennzeichneten Kosmovision der Andenvölker ist Koka das einzige Neutrum, eine ausgleichende und vermittelnde Kraft« (Lessmann 2009: 464). So wird Koka dem Gegenüber als Freundschaftsgeste bei Besuchen gereicht, und auch die minga wäre ohne Koka nicht denkbar. Die Pflanze hat im andinen Verständnis nichts mit Kokain zu tun, sie ist aber heute nicht davon zu lösen. Die ökonomische Bedeutung von Koka widerspricht der überlieferten Form, denn diese beruht auf der andinen Organisation und nicht auf der kapitalistischen Produktionsweise. Anders gesagt: Der hohe Preis kann nur deshalb auf dem kapitalistischen Markt erzielt werden, weil Koka auch Rohstoff für das Kokain ist, das wiederum ohne den Kapitalismus nicht denkbar ist.
An dieser Stelle wird schlagartig klar, dass es unerlässlich ist, die ökonomischen Strukturen grundlegend zu verändern, um nicht in eine unheilige Allianz zwischen Tradition und Kapitalismus zu geraten, in der die Gesellschaft ökonomisch zu Teilen auf der Produktion eines Rohstoffs für ein Rauschgift beruht. Dieses drängende Problem gilt es für Evo Morales zu lösen, der weiterhin Führer der Kokabauern ist. Auf der kulturellen Ebene ist der Kampf für Koka ein Kampf für die eigene indigene Identität gegen westliche Homogenisierungsversuche, was gepaart mit der Stärke der Bewegung – die ihre Basis in der Selbstorganisation der Kokapflanzer vor Ort hat – weit über das subtropische Chapare ausstrahlen konnte. Die MAS wirkte so integrierend, wohl auch, weil sie sich explizit als Instrument der sozialen Bewegungen versteht und neue Bewegungen bei gleichem Ziel aufnehmen kann. Anders die im Hochland dominante Organisation, die auf Basis der ungebrochenen archaischen Struktur von einem radikalen und zuweilen rassistischen Indianismus geprägt wird, der keine Kompromisse mit den Weißen eingehen will, so der Gegenspieler des Präsidenten Felipe Quispe: »Wir sind Todfeinde und werden es immer bleiben, und diese Idee tragen die Menschen tief in ihren Herzen.«
Eine viel größere Bedeutung für das neue Bolivien als Quispe hat El Alto, eine Stadt, deren Wachstum wie der Aufstieg der cocaleros eng mit dem Neoliberalismus verknüpft ist. Denn im Zuge der »Reformen« der 1980er Jahre mussten immer mehr Menschen aus ihren angestammten Regionen auswandern. Aus dem Hochland, weil dort das Überleben immer schwerer wurde und die ohnehin wenigen Produkte der armen Bauern nach der Öffnung der Märkte nicht mehr verkauft werden konnten; aus den Regionen der großen Minen, weil die Regierung sie schloss und schließlich auch – zum Teil als zweite Migration – aus den Koka-Anbauregionen, da die Felder von Anti-Drogen-Einheiten zerstört worden waren. El Alto, die Stadt über der Hauptstadt La Paz, auf 4000 Meter Höhe gelegen, war für viele das einzig mögliche Ziel.
1950 lebten hier gerade einmal 11000 Menschen 1985 300000, und drei Jahre später, als die Stadt von La Paz unabhängig wurde, hatte sich die Einwohnerzahl auf 600000 verdoppelt. Die meisten davon kamen aus dem Volk der Aymara. Sie lebten unter ärmlichsten Bedingungen zusammen und schlossen sich nach der Logik der comunidades und der sindicatos zusammen. Die Selbstorganisation entstand wie im Chapare aus der Not heraus, aber sie verfestigte sich, bildete eine Art territorialer Regierung. Nach dem andinen Prinzip gegenseitiger Hilfe entstand eine gemeinsame Aufsicht und Kontrolle über Geld und Arbeitskräfte. »So wurde ein Mechanismus kollektiver Aktivität in Gang gesetzt, der dazu führte, dass man sich als Teil ein und derselben Realität fühlte« (Acebey 2009: 5).
Diese starken sozialen Beziehungen werden von mehr als 550 Nachbarschaftsvereinigungen in 14 Distrikten zusammengehalten, an deren Spitze die Dachorganisation FEJUVE steht, dazu kommen gewerkschaftliche Verbindungen oder Gruppen von Müttern. Durch diese organisatorische Stärke, ausgedrückt im Leitspruch »El Alto wird immer aufrecht stehen und nie in die Knie gehen«, konnte die Stadt eine entscheidende Rolle in den Kämpfen der vergangenen Jahre spielen. Mittlerweile zeigt sich aber auch die Schwäche der traditionellen konsensualen Organisationsform. Denn El Alto bleibt trotz aller kommunitärer Verfasstheit eine Stadt im Kapitalismus, in der zwar die meisten einer selbständigen prekären Beschäftigung nachgehen, es aber auch erste etwas größere Betriebe gibt, die nur in wenigen Fällen Kooperativen sind. Die Gewerkschaften vertreten kleine Einzelhändler, prekär tätige Träger oder Transportunternehmer und haben damit eine ganz andere Funktion als die einer Organisation der Arbeitnehmer. Als beispielsweise 2007 Beschäftigte einer Schmuckfirma eine Gewerkschaft gründeten, wurden sie allesamt entlassen und erhielten keine Unterstützung durch die »Regionale Arbeiterzentrale« COR.
Die Gründung einer Interessenvertretung widerspricht der kollektivistischen Vorstellung der Aymara. In den kapitalistischen Kleinbetrieben herrschen die Beziehungen der Indigenen fort, bleiben quasi so familiär wie im informellen Sektor üblich. Das führt auch dazu, »dass der Eigentümer neben der Entlohnung für die verrichteten Arbeiten den Familien in Notzeiten auch finanziell unter die Arme greift« (Zibechi 2009: 59f.). Dass die kommunitären Beziehungen sich in Richtung eines Klassengegensatzes wandeln, ist offensichtlich. Richtig ist, dass das »vermeintliche Interesse der Gemeinschaft im Betrieb schnell zur Ideologie wird« (Eisenbürger 2009: 13). Das muss aber nicht heißen, dass die Gewerkschaften sich künftig nach traditionellen Mustern organisieren sollten. Die Voraussetzungen in El Alto wären geradezu ideal für eine von den Arbeitern erkämpfte und vom Staat unterstützte Übernahme des Betriebes in eine Gemeinwirtschaft, wie sie in Venezuela unter etwas anderen Vorzeichen vonstatten geht (…). Die interessante indigene kommunitäre Organisationsform auf Basis der comundidad stößt mit ihren Modifikationen durch die veränderten Verhältnisse in der Stadt dort an Grenzen, wo sich Beziehungen herausbilden, die nicht mehr die zwischen Gleichen sind und wo es schwerfällt, diese Gleichheit wieder auf die traditionelle Weise herzustellen. Diese Grenzen kann die Organisation aber, wenn sie sich ihrer bewusst wird, überschreiten und ihren Spielraum erweitern.
Fußnoten:
(1) Für „comunidad“ gibt es keine Entsprechung im Deutschen, da die Art der lokalen Gemeinschaft in der westlichen Gesellschaft kaum mehr vorhanden ist. Historisch ist sie hierzulande am ehesten vergleichbar mit ländlichen Genossenschaften, Dorfgemeinschaften oder Zünften in der Zeit vor dem ausgebildeten Kapitalismus.
(2) Hierzu empfehle ich gerade den Skeptikern einen erklärten Atheisten wie Badiou (2002).
(3) Der Begriff wird gerne mit »Gewerkschaften« übersetzt, was gerade in Deutschland eine auf Sozialpartnerschaft ausgerichtete Organisation suggeriert. Die sindicatos, in denen sich die Kokabauern in Bolivien organisieren, sind allerdings etwa 700 Syndikate von selbstständig in der Gemeinschaft wirtschaftenden Bauern. Wir stellen uns unter 700 solcher »Gewerkschaften« eine zersplitterte Organisation der Arbeiter vor, in Wirklichkeit handelt es sich aber um eine Organisation bestehend aus 700 lokalen Gliedern, wobei diese nicht zentralistisch, sondern zumindest im besten Falle von unten nach oben organisiert sind.
Literatur:
- Acebey, Waldo (2009): El Alto geht niemals in die Knie. Eine kleine Einführung in die Geschichte der Stadt, in: ila 327, S. 4–5
- Badiou, Alain (2002): Paulus. Die Begründung des Universalismus, München.
- Chrenko, Helma (2003): Soziale Bewegungen und linke Parteien in der Andenregion – Prozesse der Herausbildung einer neuen Hegemonie? Studie für die Rosa-Luxemburg-Stiftung (unveröffentlicht)
- Chrenko, Helma (2008): Bolivien – Aufbruch in eine neue Zeit, in: Modrow, Hans/Schulz, Dietmar 2008: Lateinamerika, eine neue Ära? Berlin, S. 81-101.
- Eisenbürger, Gert (2009): Industriestandort El Alto. Erfolgreiche Exportbetriebe und neue Gewerkschaften, in: ila 327, S. 12–13
- Lessmann, Robert (2009): Cocaleros als soziale Bewegung in der Andenregion, in: Mittag, Jürgen/Ismar, Georg (Hg.): »¿El pueblo unido«? Soziale Bewegungen und politischer Protest in der Geschichte Lateinamerikas, Münster, S. 463–493
- Rivera Cusicanqui, Silvia (2007): Der Aufbau neuer gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse: Erfahrungen in Bolivien. Die indigene Bewegung und die Linke, in: Pankower Vorträge 97, S. 15–24
- Ströbele-Gregor, Juliane (2008): Kanon mit Gegenstimme – Soziale Bewegungen und Politik in Bolivien, in: Schmalz, Stefan/Tittor, Anne (Hg.): Jenseits von Subcomandante Marcos und Hugo Chávez. Soziale Bewegungen zwischen Autonomie und Staat, Hamburg, S. 129–141.
- Thielen, Helmut (1993): Subversion und Gemeinschaft, Befreiung in der Zeitenwende, Hamburg
- Wielenga, Bastian (1995): Dorfgemeinschaft, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 2, Berlin
- Zibechi, Raul (2009): Bolivien. Die Zersplitterung der Macht, Hamburg
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Auszug aus dem Kapitel „Prinzipien der Neuen Linken“ des Buches „Utopische Realpolitik. Die Neue Linke in Lateinamerika“, erscheint Anfang Februar im Pahl-Rugenstein Verlag (ISBN 978-3-89144-424-5), 16,90 Euro. Mehr Informationen und Vorbestellung: www.utopische-realpolitik.de. Eine leicht gekürzte Version dieses Vorabdrucks erschien am 8. Januar 2010 in der Tageszeitung junge Welt.